Feststellung eines Urothelcarcinoms der Niere als Berufskrankheit Nr. 1301 Anl. 1 zur Berufskrankheitenverordnung in der gesetzlichen Unfallversicherung
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung des Urothelcarcinom der rechten Niere ihres verstorbenen Ehemannes als Berufskrankheit
(BK) Nr 1301 (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine) der Anlage (Anl)
1 zur
Berufskrankheitenverordnung (
BKV) und die Zahlung von Verletzten- und Hinterbliebenenrente.
Die Klägerin ist die Witwe des am 7. Dezember 1945 geborenen und am 15. Januar 2000 an einem metastasierenden Nierenzell-Carcinom
verstorbenen F., dem Versicherten (im Folgenden: Vers). Gegen Ende des Jahres 1998 traten bei ihm Schmerzen auf, am 22. April
1999 wurde ein Urothelcarcinom der rechten Niere (ein Krebs der ableitenden Harnwege, lokalisiert im Nierenbecken, Auskunft
des Dr G. vom 29. Oktober 1999) mit Metastasen am Gefäßband und in den Lymphknoten diagnostiziert. Am 29. April 1999 erfolgte
die Entfernung der Niere mit Lymphadenektomie und Ureterteilresektion (Berichte des Radiologen Dr H. vom 22. April 1999, des
Krankenhauses I. bzw J. vom April 1999, des Krankenhauses K. vom 22. Februar 2000). Die Krankenkasse zeigte im Juni 1999,
der Hausarzt L. im Dezember 1999 bei der Beklagten eine BK an. Letzterer gab an, der Vers habe im VEB M. in N. Umgang mit
Benzol, 3,4 Dichlorphenylisocyanat, Dimethylamin, Diuron (Betanil/Betanal), Nitrobenzol, Natriummethylat, Azoxibenzol, Tuluol,
Diphenyl und Xylol gehabt. Einem Mitarbeiter der Beklagten teilte der Vers am 20. Juli 1999 im Rahmen eines Hausbesuches mit,
dass er nur bei seiner Tätigkeit im VEB M. Umgang mit krebserregenden Stoffen gehabt habe. Im Übrigen gab er an, ca 20 Zigaretten
täglich zu rauchen (so auch die Angabe des Vers gegenüber den Ärzten des Bezirkskrankenhauses O., der von Prof Dr P. vorgelegte
Bericht vom März 1988).
Der Vers hatte zunächst eine Ausbildung zum Landwirt mit Abitur absolviert. Am 1. September 1966 nahm er ein dreijähriges
Studium der Chemie und am 1. September 1969 eine Berufstätigkeit als Schichtingenieur im VEB Chemiekombinat Q. auf. Dort wurden
Chemiefasern hergestellt. Kontakt zu aromatischen Aminen hatte er hier nicht (seine eigenen Angaben vom 20. Juli 1999). Der
technische Aufsichtsbeamte (TAB) Dipl-Ing Dr R. bestätigte nach Kenntnis der Akten und persönlichen Gesprächen mit der langjährigen
Sicherheitsfachkraft der S. Q. den Kontakt mit Acrylnitril. Dieser Stoff sei zwar krebserregend, wirke aber nicht auf die
Nieren, sondern äußerlich reizend auf Haut, Schleimhäute und im Bereich des zentralen Nervensystems (Stellungnahme vom 20.
Oktober 1999).
Von September 1970 bis 15. März 1974 war der Vers als Versuchsingenieur im VEB M. im Betrieb T. in U. tätig. Parallel erlangte
er im Rahmen eines Fernstudiums seinen Hochschulabschluss (Auskunft der Unfallkasse V. vom 27. Oktober 1999).
Vom 19. März 1974 bis 7. August 1989 war er als Technologe in der VEB Stärkefabrik W. beschäftigt, wo er nach eigenen Angaben
keinen Kontakt zu krebserregenden Stoffen hatte. Dies bestätigte der TAB Dr X. der BG Nahrungsmittel und Gaststätten. Der
Vers habe in geringem Umfang Umgang mit Natronlauge, Salz- und Schwefelsäure gehabt, die alle nicht als krebserzeugend eingestuft
seien (Stellungnahme vom 26. Oktober 1999). Nach der Umsiedelung in die Bundesrepublik im Jahr 1989 war der Vers bis 31. Dezember
2001 als Versorgungsingenieur bei der Fa Y. in Z. und danach als Produktionsleiter bei einem Hersteller für Konfitüren beschäftigt.
Bei dem VEB M. handelte es sich um ein Technikum für die Pflanzenschutzmittelforschung. In einer 8 x 8 x 20 m großen Halle
mit mehreren Rührwerkskesseln wurden auch Pflanzenschutzmittel produziert. Nach wiederholten Rücksprachen mit den von der
Klägerin benannten Zeugen und ehemaligen Kollegen des Vers, AA. (Geschäftsführer der AB. (AC. -) GmbH, ehemals VEB M., und
Vorgänger des Vers in der von diesem ausgeübten Beschäftigung) sowie AD. (ehemaliger Vorgesetzter des Vers), führte Dr R.
aus, die Stoffe und Verbindungen im Zusammenhang mit der Gewinnung des Wirkstoffes Diuron hätten teilweise ein kanzerogenes
Potential (Benzol, Diuron), seien aber keine aromatischen Amine. Zur Synthese von Fentoxan (einem Schädlingsbekämpfungsmittel)
sei Methanol vorgelegt worden, bei der nachfolgenden Zugabe von Ätznatron und Nitrobenzol seien Azoxybenzol und als unerwünschtes
Nebenprodukt Hydrazobenzol entstanden. Die Reaktion habe in einem Hängegefäß stattgefunden, in dem sich Azoxybenzol oberhalb
der Verunreinigungen und Nebenprodukte befunden habe. Zur Trennung des Gemisches seien der Ablasshahn des Hängegefäßes geöffnet
und die wässrige Lösung, dh die Verunreinigungen und Nebenprodukte, abgelassen und verworfen worden. Da es sich um eine warme
alkalische Lösung gehandelt habe, seien Handschuhe getragen worden. Azoxybenzol sei dann mittels Schlauch in blaue Blechkübel
abgelassen worden, wobei nicht in jedem Falle Handschuhe benutzt worden seien. Eine Hautexposition in Form von Spritzern müsse
als normal angesehen werden. Üblicherweise seien ein Kittel oder ein Schlosseranzug sowie Fäustel getragen worden. Die Handschuhe
seien nach erfolgter Benetzung nicht weggeworfen, sondern weiter benutzt worden, weshalb von einer "verschleppten" Exposition
gesprochen werden könne. Zur Formulierung des Fertigproduktes Fentoxan sei der Kübel in einem Wasserbad aufgeschmolzen worden.
Von einer Bedienbühne seien dann die blauen Blechkübel in die Vorlage gekippt worden, auch hierbei sei eine Benetzung der
Hände und Unterarme durch Spritzer vorgekommen. Nach erfolgter Formulierung sei das Verkaufsprodukt in 10 l Plastikkanister
abgelassen worden. Die Belüftung sei bei normalem Versuchslauf so dimensioniert, dass Gase und Dämpfe abgezogen wurden. Die
Formulierung sei mehrfach wöchentlich, aber nicht täglich erfolgt, etwa 10 Plastikkanister, 300 l/Tag. Die Zeugen schätzten
die Expositionszeit auf maximal eine Stunde täglich. Dr R. wies darauf hin, dass mehrfach in der Woche, aber nicht täglich,
beim Umfüllen der Schmelze in den Formulierungsbehälter eine Exposition gegenüber einem Stoffgemisch, das in sehr geringer
Konzentration Benzidin enthalten habe, bestanden habe. Der Hauptaufnahmeweg sei die Resorption über die Haut und die Inhalation
als Dampf oder Staub, welche vorliegend ausscheide. Eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen in hochkonzentrierter reiner
Form habe nicht bestanden. Eine Exposition gegenüber Toluidinen habe nicht gesichert werden können, zudem seien diese nicht
kanzerogen. Bei den vom Arzt L. benannten Stoffen 3,4 Dichlorphenylisocyanat, Dimethylamin, Natriummethylat, Toluol, Xylol
und Diphenyl handele es sich ebenfalls nicht um krebserregende Substanzen (Stellungnahmen vom 20. Oktober und 6. Dezember
1999, 12. Januar 2000 und 3. Mai sowie 24. August 2001).
Dr AE. führte in seiner von der Beklagten veranlassten Stellungnahme vom 14. Januar 2000 aus, dass Acrylnitril (VEB Q.) bekannt
dafür sei, Krebs der Atemwege, aber nicht der Nieren oder Harnblasentumore zu verursachen. Benzol wirke kanzerogen im Bereich
des blutbildenden Systems, aber nicht im uro-System. Nitrobenzol sei möglicherweise kanzerogen, es gebe aber für Menschen
keine einheitlichen Untersuchungsergebnisse. Azoxybenzol sei nicht als krebserregend bekannt. Zudem habe die Exposition in
AF. lediglich 3½ Jahre betragen. Es sei nach derzeitigem Wissenstand sehr unwahrscheinlich, dass das Urothelkarzinom des Vers
durch seine berufliche Tätigkeit verursacht oder mitverursacht worden sei. Ein Ursachenzusammenhang sei epidemiologisch gut
mit der Raucheranamnese zu begründen. Die Landesgewerbeärztin Dr AG. schloss sich den Ausführungen des Dr AE. an und verneinte
ebenfalls eine BK Nr 1301. Es gebe zurzeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass einer der Stoffe, mit denen
der Vers in den VEB Chemiefaserwerk Q. und M. Kontakt hatte, beim Menschen Urogenitalkarzinome verursache (Stellungnahme vom
8. März 2000).
Die Beklagte lehnte die Anerkennung der Krebserkrankung der ableitenden Harnwege als BK Nr 1301 und die Bewilligung von Hinterbliebenenleistungen
ab. Ein beruflicher Umgang mit aromatischen Aminen habe nicht festgestellt werden können. Die ermittelten Berufsstoffe seien
zwar geeignet, Krebserkrankungen auszulösen, aber in anderen Zielorganen als den Harnwegen (Bescheid vom 2. März 2000).
Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, unberücksichtigt geblieben seien die chemischen Reaktionen und die dabei
entstehenden Nebenprodukte. Nach den Ermittlungen sei eine Benetzung der Haut (Hände, Unterarme, Hals und Gesicht) mit Hydrazobenzol
als normal anzusehen gewesen. Bei der Herstellung des Fentoxan sei es zu einer Umlagerung des Hydrazobenzols zu Benzidin,
einem krebserregenden Stoff gekommen. Diese Umlagerung habe sich auf der Haut des Vers vollzogen, was die 1988 aufgetretene
Hauterkrankung, deren Ursache während eines stationären Aufenthaltes in der Hautklinik Neuruppin nicht geklärt werden konnte,
belegen würde. Diese Umlagerung könne sich nicht nur im sauren, sondern auch im alkalischen Milieu vollziehen, wenngleich
nicht im großtechnischen Maßstab. Zudem herrsche auf der Haut ein saures Milieu vor. Die Aufnahme des so entstandenen Benzidins
sei durch die Resorption über die Haut wie auch durch Inhalation erfolgt. Auch die orale Aufnahme von Dämpfen und Spritzern
sei zu berücksichtigen, die Umlagerung von Benzidin werde durch die Magensäure ermöglicht. Dr R. bestätigte die krebserregende
Wirkung von Benzidin auf Blase und Leber sowie Harnwege. Allerdings hätten erneute Recherchen auch bei den Zeugen ergeben,
dass entgegen seiner ursprünglichen Annahme bei dem beschriebenen Produktionsverfahren Benzidin nicht entstehen konnte. Denn
es habe gezielt in einem alkalischen Milieu stattgefunden. Nach mehrfachen Untersuchungen zur Reinheit des Azoxybenzol sei
festzuhalten, dass bei der beschriebenen Reaktionsführung Benzidin nicht, auch nicht in Spuren, entstehen könne, wenn die
Reaktion - wie geschehen - in einem alkalischen Bereich erfolge. Er berichtigte insoweit seine Angaben in den Stellungnahmen
vom 3. Mai und 24. August 2001. Nach Schätzung der Zeugen sei von einer Exposition von maximal einer Stunde pro Tag gegenüber
der Schmelze auszugehen, die sich realisiert habe durch das Tragen eines Handschuhs, das gelegentliche Benetzen der Haut bei
den Ablassvorgängen, das Einfüllen der aufgetauten Schmelze in den Formulierungskessel und beim Ablassen des Fertigproduktes
in die Verkaufsbehälter. Nach Auskunft des Nachfolgeunternehmens existieren über die damaligen Versuchsreihen keine Unterlagen
mehr, betriebliche Unterlagen waren gleichfalls nicht vorhanden, die Akten der damaligen zuständigen Arbeitshygieneinspektion
enthielten keine weiterführenden Informationen (Stellungnahmen vom 30. Oktober 2000, 3. Mai 2001, 24. August 2001 und 28.
September 2001).
Dr AH., der langjährige Leiter der damaligen Abteilung "Chemische Versuchstechnik" im Betriebsteil VEB M., führte aus, dass
die Abfüllung der Azoxybenzolschmelze bei der Herstellung von Fentoxan höchstens ganz am Anfang in 30 l Kanister, später ausschließlich
in 200 l Blechfässer erfolgt sei. Kontaminationen seien daher bei Abfüllarbeiten kaum in Frage gekommen. Ca 1x pro Woche sei
ein formuliertes Produkt abgefüllt worden, die Produktionshöhe habe bei etwa 10-20 t pro Jahr gelegen, das wären 50-100 Fässer.
Die ihm noch vorliegende Probe von Azoxybenzol habe er auf Veranlassung des Beratungsarztes Dr AI. einer Laboranalyse unterzogen,
sie habe aber ua wegen ihres Alters nicht auf Benzidin getestet werden können. Nach Rücksprachen mit weiteren ehemaligen Beschäftigten
des VEB M. (dem Analytiker Dr AJ., damals Gruppenleiter, Dr AK., damaliger Hauptabteilungsleiter der Pflanzenschutzmittelentwicklung,
Dr AL., damals Laborentwicklung der Azoxybenzolsynthese, sowie Dr AM., damaliger Abteilungsleiter Forschungsanalytik) sei
die Benzidin-Problematik bei den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bekannt gewesen und auch berücksichtigt worden. Es sei
gezielt untersucht worden, ob bei der Synthese Benzidin gebildet werde. Die damaligen Testungen hätten ergeben, dass bei dem
gewählten Syntheseweg Benzidin nicht entstehe (Auskunft vom 14. September 2001).
Dr AI. verwies auf die chemische Literatur (Lexikon Chemie Römpp und Ullmans Enzyklopädie), wonach bei der Verarbeitung von
Azoxybenzol auf der Grundlage von Nitrobenzol zwischen 5 bis 15 % Hydrazobenzol entstehe, das unter Einfluss von Säure die
sogenannte Benzidinumwandlung eingehe. Während er zunächst den Verdacht geäußert hatte, dass das verarbeitete Azoxybenzol
auch Benzidin enthalte (Schriftsatz vom 11. September 2001, Vermerk vom 12. September 2001), wies er in seiner Stellungnahme
nach Aktenlage vom 11. Oktober 2001 darauf hin, dass für die Synthese des Azoxybenzols ein Weg gewählt worden sei, bei dem
kein Benzidin entstehen könne. Dies sei nach den Zeugen auch analytisch bestätigt worden. Die ursprüngliche Angabe des Dr
R. in der Stellungnahme vom 3. Mai 2001 sei daher unzutreffend. Es sei sicher auszuschließen, dass der Vers während seiner
Tätigkeit im VEB M. gegenüber Benzidin exponiert gewesen sei. Dr AH. habe ihm gegenüber die Angaben der Zeugen AG. und AN.
bestätigt und um weitere Gefahrstoffe ergänzt. Eine Exposition gegenüber Toluidinen und Toluol habe nach Dr AH. nicht bestanden.
Nach einer Überprüfung an Hand der Liste von Gefahrstoffen, die im Verdacht stehen, Urothelcarcinome zu verursachen, zählen
die Stoffe der Tätigkeiten in Q. und M. zu keiner dieser Gruppen. Nach einer Auskunft der Biologischen Bundesanstalt für Land-
und Fortwirtschaft sei die DDR der alleinige Hersteller des Fentoxans auf der Basis von Azoxybenzol gewesen sei. Deshalb stünden
andere Hersteller, die Auskunft über ihre Erfahrungen geben könnten, nicht zur Verfügung. Die Unterlagen des Archivs der ehemaligen
Zulassungsstelle für Pflanzenschutzmittel der DDR in der Außenstelle der Bundesanstalt enthielten abgesehen von der Rezeptur
keine weiteren Angaben zu möglichen Verunreinigungen.
Gestützt hierauf wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach den umfangreichen Ermittlungen habe eine Einwirkung von aromatischen
Aminen nicht festgestellt werden können. Bei dem angewandten Syntheseweg sei Benzidin nicht entstanden. Die weiteren Gefahrstoffe,
denen der Vers ausgesetzt gewesen sei, seien nach dem derzeitigen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht geeignet
gewesen, Urothelcarcinome zu verursachen (Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2002).
Mit der am 26. Februar 2002 erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, dass der Vers nach den Stellungnahmen des TAB einen
intensiven körperlichen Kontakt mit Flüssigkeiten, Gasen und Dämpfen, die Hydrazobenzol enthielten, gehabt habe. Hände, Unterarme,
Hals und Gesicht seien benetzt worden, zudem habe eine orale Aufnahme von Flüssigkeitsspritzern und eine indirekte orale Aufnahme
von Flüssigkeit durch Haut-Mund-Kontakt stattgefunden. Auf der Haut und im Magen des Vers sei es zu der Umlagerung zu Benzidin
gekommen. Nur für optimale Reaktionsbedingungen werde der Einfluss starker Säure gefordert. Für den Kausalzusammenhang spreche
auch die Vorverlagerung des Erkrankungsalters. Durch die Vielzahl der krebserzeugenden Stoffe sei von Synergieeffekten auszugehen.
Der Tabakkonsum des Vers könne die Wirkung der beruflichen Exposition nicht aufheben. Würde ein Beitrag zur Entstehung/Verschlimmerung
der Erkrankung durch den Tabakkonsum unterstellt, müsse aufgrund der bisher festgestellten Tatsachen neben dem privaten von
einem zumindest gleichwertigen beruflichen Beitrag aufgrund der Exposition gegenüber Benzidin ausgegangen werden.
Die Beklagte verwies unter Bezugnahme auf weitere Stellungnahmen des Dr R. vom 22. August 2002 und 14. August 2003 darauf,
dass die Benzidin-Umlagerung ein seit Jahrzehnten bekanntes und in der Literatur vielfach beschriebenes Verfahren darstelle.
Nach dem Chemie-Lexikon von Römpp sei der Einfluss einer starken Säure erforderlich, in einer anderen Literaturquelle werde
eine 20%ige Schwefelsäure gefordert. Der Säureschutzmantel der Haut sei lediglich leicht sauer, aber keine starke Säure in
diesem Sinne. Die Magensäure sei zwar stark sauer, ein Kontakt mit ihr könne aber nur bei Verschlucken von Partikeln in Betracht
kommen. Das Azoxybenzol mit Nebenprodukten habe entweder in flüssiger oder erstarrter Form vorgelegen. Der Anteil an Hydrazobenzol
habe bei 15 % gelegen. Eine Staubentwicklung und damit verbunden eine orale Staubaufnahme scheide aufgrund des beschriebenen
Produktionsweges aus. Nach wiederholten Angaben der Zeugen seien die Systeme geschlossen gewesen, die Entlüftung über das
Dach sei über einen Rückkühler erfolgt, vorhandenes Kondensat sei in den Behälter zurück gelaufen. Im Normalbetrieb sei daher
keine Exposition gegenüber dampfförmigen Hydrazobenzol festzustellen, zumal dieser Stoff einen Schmelzpunkt von 123°C besitze.
Eine orale versehentliche oder absichtliche Aufnahme der Flüssigkeit durch Verschlucken sei ebenfalls auszuschließen. Wegen
der alkalischen Reaktionsführung sei eine Umwandlung nicht möglich gewesen. Zudem habe die Beratungsärztin Dr
AO., Fachärztin für Dermatologie, Zweifel, dass die Abläufe chemischer Reaktionen in großen Industrieanlagen in gleicher Weise
auf die menschliche Haut übertragbar seien. Zu dieser Frage könnten in einem toxikologischen Institut keine Untersuchungen
durchgeführt werden (Stellungnahme vom 10. Juli 2003, Vermerke vom 16. Juli 2003).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat das Gutachten nach Aktenlage des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr AP. vom 1. Januar 2004 nebst ergänzender
Stellungnahme vom 9. April 2004 eingeholt. Nach dessen Beurteilung ist die Erkrankung des Vers nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
beruflich bedingt. Eine BK Nr 1301 wie auch der Nr 1303 sei zu verneinen. Die Benzidin-Einwirkung sei nicht im Vollbeweis
belegt. Ein direkter Kontakt mit aromatischen Aminen habe nicht stattgefunden. Eine Benzidinexposition sei lediglich über
eine nicht bewiesene Nebenreaktion zu diskutieren. Der Syntheseweg selbst habe im alkalischen Milieu stattgefunden, was für
die Umwandlung nicht ausreiche. Belegt sei weiter nicht die Umwandlung auf der Haut: zwar weise diese ein leicht saures Milieu
auf, der ph-Wert des Schweißes variiere zwischen 5,5 und 6,8 (ph 7 = neutral), was keinem chemisch stark saurem Milieu entspreche.
Eine Umlagerung durch Magensäure sei theoretisch denkbar. Es gebe hierzu aber keine gesicherten wissenschaftlich-toxikologischen
Erkenntnisse. Entscheidend sei auch, dass eine orale Exposition durch Dämpfe und Spritzer nach dem Ergebnis der sehr umfangreichen
und ausführlichen arbeitstechnischen Ermittlungen nicht nachgewiesen sei: Azoxybenzol mit Nebenprodukten seien in flüssiger
oder erstarrter Form vorgekommen, eine Staubentwicklung sei verfahrenstechnisch auszuschließen, nach den wiederholten übereinstimmenden
Aussagen der Zeitzeugen habe es sich um ein geschlossenes System gehandelt. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung sei es nicht
zu einem Verschlucken, sondern im Falle der Benetzung der Lippen zum Ausspucken des nicht wohl riechenden und nicht schmeckenden
Reaktionsgemisches gekommen. Zudem sei davon auszugehen, dass das Reaktionsgemisch von den Schleimhäuten des oberen Verdauungstraktes
resorbiert werden würde. Es sei wenig wahrscheinlich, dass überhaupt eine nennenswerte Menge in den Magen gelangt sei. Eine
Umlagerung auf den Lippen oder der Mundschleimhaut sei mangels stark saurem Milieu zu verneinen. Zudem seien Reaktionsweisen
aus Versuchsanlagen der chemischen Industrie ohne gesicherte Daten nicht auf den Menschen zu übertragen. Selbst wenn die von
der Klägerin behaupteten Reaktionen unterstellt würden, sprächen Art und Umfang des Produktionsverfahrens gegen eine relevante
Exposition. Bei einer Exposition von maximal einer Stunde pro Tag könne eine nennenswerte Risikoerhöhung verneint werden.
Die Tumorinzidenz hänge mit der Dosis zusammen und korreliere mit ihr. Das Fehlen einer Schwellendosis bedeute zunächst nur,
dass eine niedrige Exposition ein niedriges Gesundheitsrisiko und eine hohe Exposition ein hohes Risiko zur Folge habe. Nach
den heutigen Erkenntnissen steige ein benzidinbedingtes Urothelkarzinom-Risiko in Abhängigkeit von Dauer und Intensität der
beruflichen Benzidindosis an (Dosis-Wirkungs-Beziehung). Deshalb sei hier selbst bei einem unterstellten Kontakt nicht von
einer relevanten Exposition auszugehen. Neben zB dilatierten oder obstruierten Harnwegen oder bestimmten Medikamenteneinnahmen
stelle nach dem derzeitigen medizinischen Wissenstand der inhalative Tabakkonsum den Hauptrisikofaktor für die Entstehung
von Urothelcarcinomen dar. Die vom Vers selbst angegebenen 20 Zigaretten täglich seien ein nicht zu vernachlässigender außerberuflicher
Risikofaktor, vor dessen Hintergrund eine Vorverlegung des Hauptmanifestationsalters, das bei 65 Jahren liege, welche auch
ohne zusätzliche chemische Einwirkungen immer wieder beobachtet werde, außer Acht gelassen werden könne. Eine Benzidin-Umlagerung
auf der Haut allein aus chemischen Gründen komme nicht in Frage. Selbst wenn diese aber unterstellt werde, könne Benzidin
nur in Spuren entstanden sein. Eine nennenswerte Risikoerhöhung sei zu verneinen: Der Vers habe lediglich 4 Jahre dort gearbeitet,
es habe keine 8-stündige Exposition über den ganzen Arbeitstag, sondern nur eine von maximal einer Stunde täglich und damit
keine nennenswerte Exposition vorgelegen. Der Hydrazobenzolanteil habe bei maximal 15 % aufgrund der ungewollten Nebenreaktion
gelegen. Von der Hauterkrankung könne nicht auf eine Benzidinexposition geschlossen werden, da diese erst 1988, 14 Jahre nach
Expositionsende, aufgetreten sei. Eine Anerkennung nach §
9 Abs
2 SGB VII wegen der Exposition gegenüber Nitrosaminen komme ebenfalls nicht in Betracht: Nitrobenzol und Toluidine hätten sich nur
im Tierversuch als krebserregend erwiesen, die Ergebnisse seien nicht auf den Menschen übertragbar und es gebe keine gesicherten
Erkenntnisse für den Menschen. Für eine Synkanzerogenese müssten die angeschuldigten Stoffe krebserregend sein und das gleiche
Zielorgan haben. Es sei aber wissenschaftlich nicht gesichert, das Benzol zur Risikoerhöhung bei Urothelkarzinomen führe.
Ferner seien Nitrosodiethylamin, Nitrobenzol o-Toluidin, p-Toluidin beim Menschen nicht krebserregend.
Auf Antrag der Klägerin ist nach §
109 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) das Gutachten nach Aktenlage des Prof Dr P. vom 22. August 2005 erstattet worden. Nach seiner Einschätzung gebe es epidemiologische
Studien, die nicht nur die Evidenz für Menschen und speziell für bestimmte Berufsgruppen ergeben, sondern genau die hier streitigen
Expositionen für Chemieberufe bis hin zu einzelnen Substanzen oder -gruppen betreffen. Es fänden sich Hinweise für die Karzinomentwicklung
von Benzol-Derivaten, Benzidin und Lösungsmitteln sowie aliphatischen Kohlenwasserstoffen. Zu einer derart gesundheitlich
beanspruchten Berufsgruppe gehörten Laboranten in den Jahren bis 1980. Schon vor 34 Jahren habe Bittersohl 1971 auf eine Häufung
von Krebserkrankungen in der ostdeutschen chemischen Industrie hingewiesen. Aufgefallen seien Urotheltumore, deren Krankheitsrate
in Produktionsbetrieben und Reparaturbetrieben um ein Vielfaches erhöht gewesen sei. Aussagen zu verdächtigen Stoffen könnten
nur in allgemeiner Form erfolgen, da keine echte Fall-Kontrollstudie unter Berücksichtigung der Krankheitsfälle, Produktionsbetriebe
oder Substanzen durchgeführt worden sei. Eine wesentliche Mitursache für Urothelcarcinome sei das Zigarettenrauchen. Der kurzfristig
tödliche Verlauf, die langjährige quälende Hautkrankheit mit großflächigen Verletzungen der nässenden Ekzeme sowie die Nierensteine
sprächen für eine nachhaltige Intoxikation des Organismus, deren Herkunft bei Fehlen sonstiger beruflicher Expositionsquellen
mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die angeschuldigte Tätigkeit zurückzuführen sei. Für eine beruflich bedingte Vorverlegung
des Erkrankungsrisikos seien gerade petrochemische Produkte geeignet. Dass der Vers diesen Stoffen ausgesetzt gewesen sei,
belege die 1988 dokumentierte Hautschädigung. Obwohl Dr AE. als renommierter Arbeitsmediziner und Krebsursachenspezialist
der ostdeutschen chemischen Industrie gelte, der die Verhältnisse in den Betrieben der ehemaligen DDR ausgezeichnet gekannt
habe, sei seine Stellungnahme nicht ausreichend. Nach der Krebsursachenforschung sei immer von einer multifaktoriellen Ursache
auszugehen. Solange die Zusammenhänge nicht geklärt seien und eine ausreichende alternative verdächtige Einwirkung fehle,
seien alle Karzinogene unspezifisch als wahrscheinliche Ursachen der frühzeitig aufgetretenen Krankheit verdächtig.
Dem ist die Beklagte mit einer Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr AQ. vom 2. Dezember 2005 entgegengetreten,
der sich den Ausführungen des Dr AP. angeschlossen hat. Benzol sei zwar kanzerogen, aber nicht im Bereich des harnableitenden,
sondern des blutbildenden Systems, und nach gesicherten toxikologischen und epidemiologischen Kenntnissen (Bolt ua 2005) kein
aromatisches Amin. Die Umlagerung von Hydrazobenzol zu Benzidin vollziehe sich nur im stark sauren Milieu, zB 20%ige Salzsäure.
Hierzu gehöre die Haut und auch die Magensäure nicht. Zudem seien derartige Prozesse nur in der chemischen Großindustrie bekannt,
über solche Umwandlungen im menschlichen Organismus gebe es keine hinreichenden Erkenntnisse.
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat durch Urteil vom 28. März 2006 die Klage abgewiesen: Es stehe bereits nicht zur vollen Überzeugung fest, dass
der Vers gegenüber aromatischen Aminen exponiert gewesen sei. Der TAB sei zwar in seinen ersten Stellungnahmen hiervon ausgegangen.
Die weiteren Überprüfungen der Reaktionsmechanismen und Herstellungsverfahren mit Untersuchungen zur Reinheit des Produktes
hätten aber das Vorliegen von Benzidin ausgeschlossen. Dieses Ergebnis habe der ehemalige Leiter der Abteilung bestätigt.
Selbst wenn zugunsten der Klägerin eine Benzidinexposition unterstellt werde, sei nach den schlüssigen und nachvollziehbaren
Ausführungen des Dr AP. ein Kausalzusammenhang nicht hinreichend wahrscheinlich. Nach den medizinischen Erkenntnissen steige
ein benzidinbedingtes Urothelkarzinomrisiko in Abhängigkeit von der Dauer und der Intensität der beruflichen Exposition. Hier
sei nicht von einer relevanten Exposition auszugehen. Dem Gutachten des Prof Dr P. sei nicht zu folgen. Denn dieser Sachverständige
lege unzulässigerweise eine allgemeine Kanzerogenität aller chemischen Grundstoffe zu Grunde, für die jeweils eigenständige
BK-Ziffern bestünden, worauf Dr AQ. zu Recht hingewiesen habe.
Gegen das am 25. April 2006 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der am 26. Mai 2006 (Freitag nach Himmelfahrt)
eingelegten Berufung und wiederholt im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen: Seit 1987 sei wissenschaftlich erwiesen und
der Beklagten auch bekannt, dass aus Hydrazobenzol unter dem Einfluss der Magensäure Benzidin entstehe. Sie verweise insoweit
auf eine Veröffentlichung der Beklagten aus dem Jahr 1994. Die Benzidin-Umlagerung sei hier auf drei Wegen geschehen: zum
einen über eine orale Aufnahme (Umwandlung durch die Magensäure), über die Aufnahme über die Haut (Umwandlung durch den Säureschutzmantel
der Haut) sowie bereits im Reaktionsgemisch, da sich Benzidin bereits im alkalischen Milieu oder beim Erhitzen der hydrazobenzolhaltigen
Lösung umlagere. Sie berufe sich für diesen eindeutigen Reaktionszusammenhang auf Prof Dr AR., Institut für organische Chemie
der Universität AS. und dessen Email vom 16. Mai 2006.
Die Klägerin beantragt, 1. das Urteil des SG Hannover vom 28. März 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 2. März 2000 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Februar 2002 aufzuheben, 2. die Krebserkrankung der Harnwege ihres verstorbenen
Ehemannes als BK Nr 1301 der Anl 1 zur
BKV und den Tod des Versicherten als Folge der BK festzustellen, 3. die Beklagte zu verurteilen, ihr Verletztenrente als Sonderrechtsnachfolgerin
ihres verstorbenen Ehemannes und Hinterbliebenenrente zu zahlen, hilfsweise, nachzulassen, zu der Lehrmeinung hinsichtlich
der Umlagerung von Hydrazo- benzol zu Benzidin noch vorzutragen und frühere Arbeitskollegen des Versicherten als Zeugen zu
vernehmen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 28. März 2006 zurückzuweisen.
Sie hat darauf hingewiesen, dass zwar bei dem in der toxikologischen Bewertung erwähnten Versicherten Dr St ein Harnblasenkarzinom
wie eine BK anerkannt worden sei. Dessen Arbeitsbedingungen seien aber nicht mit denen des Vers vergleichbar. Dr St sei ca
4 Jahre mit der Entwicklung eines Herstellungsverfahrens für Hydrazobenzol befasst gewesen. Im Jahr 1987 seien in diesem konkreten
Einzelfall im Hinblick auf die Metabolisierung von Hydrazobenzol zu Benzidin die Voraussetzungen als erfüllt angesehen worden,
zumal Dr St eine negative Raucheranamnese aufgewiesen habe. Eine die damalige Einzelfallentscheidung rechtfertigende Lehrmeinung,
die auf gefestigten medizinischen Erkenntnissen beruhte, gebe es nicht.
Der Senat hat eine schriftliche Auskunft des Prof Dr AR., Institut für organische Chemie in AS., vom 14. Juni 2011 eingeholt.
Dieser hat ausgeführt, dass sich Hydrazobenzol auch thermisch in Benzidin umlagere, wenn auch langsamer als unter Einwirkung
von Säure. Die Umlagerungsreaktion könne auch nicht im alkalischen Milieu verhindert werden. Diese Reaktion werde durch eine
umfassende wissenschaftliche Publikation aus dem Jahre 1989 belegt. Aus der Arbeit gehe auch hervor, dass sich die Benzidin-Umlagerung
auch unter Lichteinwirkung vollziehe. Die toxikologische Bewertung der BG beschreibe die Metabolisierung von Hydrazobenzol
zu Benzidin in Tierversuchen (Ratten). Obwohl deren Metabolismus kräftiger sei als beim Menschen, sei davon auszugehen, dass
Hydrazobenzol auch im menschlichen Organismus gebildet werde. Beschleunigt werde die Bildung durch Magensäure (saure Bedingungen)
nach oraler Aufnahme oder durch den ph-Wert der Haut (schwach sauer) nach entsprechendem Kontakt.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten
und die Gerichtsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und somit insgesamt zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen
Erfolg. Das SG hat die - hinsichtlich des Feststellungsantrags gem §
55 Abs
1 Nr
3 SGG - zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Denn die Erkrankung des Vers, an deren Folgen er verstarb, kann nicht mit der im Recht
der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Tätigkeit zurückgeführt, insbesondere
nicht als BK Nr 1301 der Anl 1 zur
BKV festgestellt werden. Deshalb hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente (§ 56 Sozialgesetzbuch
[SGB] Siebtes Buch [VII] - Gesetzliche UV -) als Sonderrechtsnachfolgerin des Vers (§ 56 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB Erstes Buch
- Allgemeiner Teil -) und auf Zahlung von Hinterbliebenenrente (§
63 SGB VII).
Der Feststellungsantrag ist zulässig, weil es nicht allein um einen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen, der nach der Rspr
des BSG (SozR 4-2700 § 9 Nr 17 Rn 26 ff) unter jedem rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt zu prüfen und für den die Frage eines Versicherungsfalls
nur eine Tatbestandsvoraussetzung des streitgegenständlichen Anspruchs ist, geht. Denn mit der Ablehnung der Anerkennung einer
BK hat die Beklagte zugleich (auch) Ansprüche zu Lebzeiten des Vers, die die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin geltend
macht, abgelehnt.
Seine Beurteilung stützt der Senat auf die überzeugenden und übereinstimmenden Wertungen der Dres AE., AI., AG., AQ.,
AO. sowie insbesondere des Sachverständigen Dr AP., dessen Gutachten auf einer umfassenden Recherche des medizinisch-wissenschaftlichen
Kenntnisstandes beruht. Demgegenüber vermochten die Ausführungen des Prof Dr P. und des Prof Dr AR. nicht zu überzeugen.
Bei dem Vers lässt sich keine BK Nr 1301 - nur diese ist einschlägig für Urothelkarzinome und aromatische Amine, und die Beklagte
hat infolgedessen auch zutreffend in den angefochtenen Bescheiden nur über diese entschieden - feststellen. Diese BK umfasst
Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine. Bei dem Vers lag zwar ein Urothelkarzinom
vor. Es ist aber schon nicht im Vollbeweis belegt, dass er während seiner beruflichen Tätigkeit gegenüber aromatischen Aminen
exponiert gewesen ist.
Die Prüfung konzentriert sich allein auf die Frage des Umgangs des Vers mit aromatischen Aminen im Zusammenhang mit der Herstellung
des Schädlingsbekämpfungsmittels Fentoxan in dem VEB M ... Alle anderen Beschäftigungsverhältnisse des Vers sind ebenso zu
vernachlässigen wie die weiteren Produktionsverfahren im VEB M ... Der Vers war zwar im Rahmen seiner Beschäftigungsverhältnisse
in den VEB Q. und M. der Einwirkung einer Vielzahl chemischer Stoffe ausgesetzt. Bei diesen vom Vers, der Klägerin, den früheren
Arbeitskollegen, Dr R. wie auch den behandelnden Ärzten genannten chemischen Stoffen handelte es sich aber sämtlichst nicht
um aromatische Amine. Zudem gelten sie entweder nicht als kanzerogen oder zwar als kanzerogen, aber mit einem anderen Zielorgan
als die Harnblase. Dieses gilt insbesondere für Benzol, das kein aromatisches Amin und deshalb kein Listenstoff der BK Nr
1301 und nicht krebserregend im Bereich der Harnwege ist (Dr AE., Dr AP., Dr AQ.).
Das bei der Herstellung von Fentoxan verwendete Azoxybenzol ist nicht krebserregend. Das im weiteren Verlauf als unerwünschtes
Nebenprodukt entstehende Hydrazobenzol ist zwar krebserregend, aber nicht im Bereich der Harnwege. Zudem ist es kein aromatisches
Amin, der bloße Umgang mit diesem Stoff allein erfüllt daher nicht den Tatbestand der BK Nr 1301 (Dr AE., Dr AG.).
Entscheidend ist daher, ob es im weiteren Verlauf durch eine chemische Reaktion mit Hydrazobenzol zur Entstehung von Benzidin,
einem aromatischen Amin, gekommen ist. Diese in der chemischen Literatur als "Benzidin-Umlagerung" bezeichnete und seit 1844,
dh langjährig bekannte organisch-chemische Reaktion lässt sich nach den gesamten umfangreichen medizinischen und arbeitstechnischen
Ermittlungsergebnissen im Wege des Vollbeweises schon nicht feststellen. Während für die Beurteilung des Kausalzusammenhangs
zwischen einer Gesundheitsstörung und einer beruflichen Exposition der Maßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausreicht,
muss die berufliche Exposition als solche voll bewiesen sein. Diese muss mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen
sein, so dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen
Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG Urteil vom 22. September 1977 - 10 RV 15/77 = BSGE 45, 1 ff). Das ist hier sowohl hinsichtlich der unmittelbaren Exposition gegenüber Benzidin noch während des Herstellungsverfahrens
des Fentoxan (1) als auch hinsichtlich der Benzidin-Umlagerung am bzw im Körper des Vers (2) nicht der Fall.
1. Nach dem Ergebnis der umfangreichen und sorgfältigen Ermittlungen des Dr R. und des Dr AT. sowie der übereinstimmenden
Angaben aller gehörten ehemaligen Beschäftigten des Unternehmens und der übereinstimmenden Ausführungen des Dr AP., Dr AQ.
und Dr AT. lässt sich nicht feststellen, dass es in dem Herstellungsverfahren selbst zu einer Umlagerung von Hydrazobenzol
zu Benzidin gekommen ist. Vielmehr ist aufgrund des vom Unternehmen gezielt gewählten Produktionsverfahrens eine Umlagerung
des Hydrazobenzols zu Benzidin während der Verarbeitung ausgeschlossen: Nach den Ermittlungen des Dr R. und den übereinstimmenden
Aussagen der früheren Arbeitskollegen ist bei der Produktion von Fentoxan das Risiko einer Benzidin-Umlagerung bekannt gewesen.
In Kenntnis dessen ist gezielt ein Herstellungsweg gewählt worden, der diese chemische Reaktion verhinderte. Aus diesem Grund
ist Azoxybenzol im alkalischen Milieu bearbeitet worden, so dass sich das dabei unerwünscht entstehende Nebenprodukt Hydrazobenzol
in der Schmelze nicht zu Benzidin umlagern konnte. Dieses bestätigt die Auskunft des Dr AU. nach seinen Recherchen ist bei
den damaligen Testungen kein Benzidin, auch nicht in Spuren, gefunden worden.
Aufgrund des gewählten alkalischen Milieus konnte es nicht zur Benzidin-Umlagerung unmittelbar während des Herstellungsprozesses
kommen. Denn nach übereinstimmender Aussage der Dres AP., AQ., AT. und R. vollzieht sich diese chemische Reaktion nur unter
dem Einfluss von Säure, dh nicht im alkalischen Milieu. Alle vier Wissenschaftler haben hierzu auf den gesicherten allgemein-wissenschaftlichen
Kenntnisstand in der chemischen Literatur verwiesen. Dieser ist für die Beurteilung im Bereich der gesetzlichen UV maßgeblich.
Auch Prof Dr AR. hat auf diesen Kenntnisstand der chemischen Literatur zu Beginn seiner Auskunft vom 14. Juni 2011 ausdrücklich
hingewiesen. Entgegen der Auffassung der Klägerin können seine weiteren Ausführungen zur Möglichkeit der Benzidin-Umlagerung
auch unter alkalischen Bedingungen oder unter thermischen Einwirkungen nicht als gesicherter Kenntnisstand in der Medizin
und Chemie gesehen werden. Prof Dr AR. hat sich auf die ausdrückliche Frage nach wissenschaftlich anerkannten Literaturquellen
allein auf eine Studie aus dem Jahre 1989 gestützt. Diese hat aber in den folgenden 20 Jahren keinen Eingang in den herrschenden
wissenschaftlichen Kenntnisstand gefunden. Nach diesem bedarf es für die Benzidin-Umlagerung - wie bereits ausgeführt - einer
Säure, was auch Prof Dr AR. herausgestellt hat.
2. Auch kann die für die Anerkennung als BK erforderliche berufliche Exposition gegenüber einem aromatischen Amin nicht über
die Benzidin-Umlagerung auf oder im Körper des Vers angenommen werden. Diese Einwirkung wird schon nicht von der BK Nr 1301
erfasst (dazu unter a). Eine weite Auslegung würde dem dem BK-Recht innewohnenden Bestimmtheitsgrundsatz widersprechen und
zu einer unbestimmten Ausweitung des Listensystems führen. Jedenfalls ist der Umwandlungsprozess medizinisch-wissenschaftlich
nicht gesichert (dazu unter b). Unabhängig davon ist eine entsprechende Einwirkung spekulativ, jedenfalls nicht im erforderlichen
Vollbeweis belegt (dazu unter c).
a) §
9 Abs
1 SGB VII ermächtigt zur Bezeichnung von Krankheiten als BKen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere
Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade
als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Mit der Bezeichnung als BK steht die generelle Eignung einer beruflichen Einwirkung
auf die Verursachung einer Krankheit fest, worauf die erforderliche Prüfung des individuellen Kausalzusammenhangs aufbauen
kann. Dabei muss grundsätzlich der Listenstoff selbst auf den Körper einwirken, denn regelmäßig wird nur diese toxikologische
Wirkungsweise der Bezeichnung als BK zugrunde liegen. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sich ein Nicht-Listenstoff
irgendwann einmal im Stoffwechsel des Menschen in einen Listenstoff umwandelt, wird regelmäßig nicht im Blickfeld stehen.
Deshalb kann insoweit nicht von der generellen Eignung einer beruflichen Einwirkung ausgegangen und der Kausalzusammenhang
unter der BK Nr geprüft werden (so auch Koch/Lauterbach, UV-
SGB VII, Komm, §
9 Rn 66 f; aA Mehrtens/Brandenburg,
BKV, Komm, E §
9 SGB VII Rn 16.2 und ihnen folgend Römer in Hauck/Noftz,
SGB VII, Komm, §
9 Rn 22). Eine Ausnahme stellt die BK Nr 1312 (Erkrankungen der Zähne durch Säuren) dar, weil ihr - ausweislich des Merkblatts
zu dieser BK (abgedr in Mehrtens/Brandenburg, aaO., M 1312) - gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Kenntnisse über Erkrankungen
der Zähne auch durch in der Mundhöhle erst sich bildende organische Säuren zugrunde liegen.
b) Demgegenüber ist medizinisch-wissenschaftlich nicht gesichert, dass sich die Benzidin-Umlagerung auch auf der menschlichen
Haut bzw im menschlichen Magen vollzieht. Selbst wenn zugunsten der Klägerin entsprechend der vorgenannten weiten Auslegung
unterstellt wird, dass auch die Umwandlung eines nicht zu einem Listenstoff zählenden Stoffes im menschlichen Körper zu dem
Listenstoff Benzidin dem Begriff der "besonderen Einwirkung" iSd BK Nr 1301 unterfällt, führt das mangels ausreichender medizinisch-wissenschaftlicher
Erkenntnisse zu keinem für sie günstigen Ergebnis. Systematisch sind diese nach §
9 Abs
2 SGB VII zu prüfen (so auch Lauterbach/Koch aaO. Rn 68). Danach haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit; die nicht in der
Rechtsverordnung als BK bezeichnet oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK anzuerkennen,
sofern im Zeitpunkt der Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine
Bezeichnung nach Abs 1 vorliegen. Auch wenn die Beklagte darüber nicht ausdrücklich entschieden hat, ist diese Norm im Hinblick
auf den geltend gemachten Anspruch auf Hinterbliebenenrente heranzuziehen, da dieser - wie ausgeführt - unter jedem rechtlichen
und tatsächlichen Gesichtspunkt zu prüfen ist.
Die Umlagerung im sauren Milieu ist aus chemischen Produktionsverfahren bekannt. Es gibt aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse
oder Belege, dass sich diese chemische Reaktion auch auf oder im menschlichen Körper vollzieht. Hierauf haben Dr AP., Dr AQ.
und Dr
AO. übereinstimmend hingewiesen und ihre Zweifel daran geäußert, dass sich die Erkenntnisse aus chemischen Großanlagen ohne
weiteres auf den menschlichen Körper übertragen lassen. Allein der Umstand, dass die Beklagte in einem Einzelfall vor inzwischen
25 Jahren von dieser Umlagerung im Magen des damaligen Versicherten ausging, belegt nicht, dass diese Umwandlung gesicherte
medizinische Erkenntnis ist, zumal Grundlage allein in vitro Versuche waren (Toxikologische Bewertung Heft Nr 19 Hydrazobenzol,
hrsgg von der BG der chem Ind, Ausg 10/94' S 16). Die Beklagte hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der damaligen
Anerkennung um eine Einzelfallentscheidung gehandelt hat. Ein gesicherter medizinischer Kenntnisstand lag ihr nicht zugrunde.
Hieraus lässt sich kein Rechtsanspruch auf eine entsprechende Anerkennung in einem gleichgelagerten Sachverhalt ableiten.
Zudem hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass die Situation des damaligen Versicherten sowohl hinsichtlich der Arbeitsbedingungen
wie auch hinsichtlich der Raucheranamnese unterschiedlich war.
Auch eine Benzidin-Umlagerung auf der menschlichen Haut ist nach medizinisch-wissenschaftlichem Kenntnisstand nicht gesichert.
Denn für diese Umlagerung ist - wie bereits ausgeführt - nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand eine Säure erforderlich,
vereinzelt wird sogar eine starke Säure gefordert. Hierzu zählt der ph-Wert der Haut nicht, es handelt sich hier lediglich
um ein schwach saures Milieu (Dr
AO., Dr AP., Dr AQ.).
c) Unabhängig davon kann die 1988 aufgetretene Hauterkrankung des Vers nicht als Indiz für eine Benzidin-geschädigte Haut
angesehen werden, da die entsprechende Exposition im VEB M. im März 1974 und damit 14 Jahre zuvor beendet war (Dr AP., Dr
AQ., Dr AI.). Deshalb hat auch Dr P. die Hauterkrankung nicht auf die beruflichen Einwirkungen der Tätigkeit des Vers im VEB
M. zurückgeführt. Eine relevante Exposition ist somit nicht gesichert, auch wenn aufgrund der Ermittlungen des Dr R. bei den
Umfüllarbeiten auch Flüssigkeitsspritzer auf die Haut des Vers gekommen sein mögen. Des Weiteren ist nicht gesichert, dass
Bestandteile der Schmelze überhaupt bzw in nennenswertem Umfang in den Magen des Vers gelangt sind: Eine Inhalation durch
Staub oder Dämpfe scheidet aufgrund des Produktionsverfahrens aus. Nach den umfangreichen Ermittlungen des Dr R. und den Angaben
der ehemaligen Beschäftigten ist das Fentoxan in einem geschlossenen System hergestellt worden, Dämpfe oder Stäube sind dabei
nicht aufgetreten. Ein Verschlucken der Schmelze in flüssiger oder fester Form ist nicht wahrscheinlich, hierauf hat auch
Dr AP. ausdrücklich hingewiesen.
3. Aber auch wenn zugunsten der Klägerin eine Exposition über die Haut und des Weiteren unterstellt wird, dass es im Einzelfall
gelegentlich zur Aufnahme von Flüssigkeitsspritzern in den Mund gekommen ist, diese nicht von Schleimhäuten des Mundes und
des oberen Verdauungstraktes resorbiert worden sind (so Dr AP. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 9. April 2004) und
drittens die Magensäure auch ausreichend sauer für die Benzidin-Umlagerung ist, lässt sich der Kausalzusammenhang nicht hinreichend
wahrscheinlich machen. Denn letztendlich kann es dergestalt nur zu einer geringen Exposition gegenüber Hydrazobenzol und damit
auch nur zu einer Benzidin-Umlagerung in sehr geringem Umfang gekommen sein. Die Herstellung von Fentoxan erfolgte nicht täglich
und auch nicht in großen Mengen. Der Schätzwert betrug nach Aussagen früherer Arbeitskollegen maximal 1 Std tgl. Hinzu kommt,
dass Hydrazobenzol nur ein unerwünschtes Nebenprodukt war und lediglich von einem Anteil von 15 % auszugehen ist. Zudem wurde
Schutzkleidung getragen, eine Exposition in Form von Spritzern auf der Haut ist zwar nicht völlig auszuschließen, aber nur
in geringem Umfang anzunehmen (Dr AP., Dr R., Dr AI.).
Angesichts dessen ist nicht von einer nennenswerten Risikoerhöhung auszugehen: Dr AP. hat im Einzelnen den medizinisch-wissenschaftlichen
Kenntnisstand dargestellt, nach dem die Dauer und Intensität der Exposition über ein Arbeitsleben zur Beurteilung eines Karzinomrisikos
von besonderer Bedeutung ist, auch wenn unter präventiven Gesichtspunkten ein Grenzwert, unterhalb dem eine Schädigung ausgeschlossen
werden kann, nicht besteht. Die Listen-BKen sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass Versicherte über einen längeren
Zeitraum schädigenden Einwirkungen ausgesetzt sind und erst diese längerfristige Belastung zu der Erkrankung führt (BSGE 103,
45/48 Rn 18). Bei der Krebserkrankung des Vers, die kein berufstypisches Krankheitsbild aufzeigt, kann die Wahrscheinlichkeit
einer beruflichen (Mit)Verursachung nur im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne allein anhand der Bestimmung einer
Erhöhung des Erkrankungsrisikos durch die berufliche Belastung beurteilt werden.
Entgegen der Auffassung der Klägerin führt der Umstand, dass es für Benzidin keinen Grenzwert oder keine Schwellendosis für
die kanzerogene Wirkung gibt, nicht dazu, dass bei einer - hier ohnehin nur unterstellter, aber nicht belegter - Exposition
gegenüber diesem Listenstoff automatisch der Kausalzusammenhang zu bejahen ist. Es ist vielmehr eine Abwägung der beruflichen
und privaten Risikofaktoren im Rahmen einer Dosis-Wirkungs-Beziehung vorzunehmen. Denn die Tumorinzidenz hängt mit der Dosis,
der Dauer und der beruflichen Intensität der beruflichen Einwirkung zusammen, was Dr AP. in seinem ausführlich und sorgfältig
begründeten Gutachten zutreffend dargestellt hat. Deshalb wären dieser lediglich geringen Exposition die privaten Rauchgewohnheiten
des Vers gegenüberzustellen, die zu einer wesentlichen Risikoerhöhung für die Krebserkrankung des Vers geführt haben. Der
Senat hält auch insofern die Einschätzung der Dres AP., AI., AQ., AG. und AE. für überzeugend, die mit dem herrschenden medizinischen
Kenntnisstand, das als Hauptursache für Urothelkarzinome das Rauchen angesehen wird, übereinstimmt. Auch der Sachverständige
Dr P., der Arzt des Vertrauens der Klägerin, hat in seinem Gutachten mehrfach auf die karzinogene Wirkung von Zigarettenrauchen
im Bereich der ableitenden Harnwege hingewiesen.
Die von der Klägerin erst im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgebrachten Einwendungen zu den Rauchgewohnheiten
ihres verstorbenen Mannes glaubt der Senat ihr nicht. Zum einen ist nicht nachvollziehbar, warum erst jetzt geltend gemacht
wird, dass der Vers jahrzehntelang nur gelegentlich geraucht und seine Angabe gegenüber dem Mitarbeiter der Beklagten im Juli
1999 lediglich die damalige aktuelle Krankheitssituation betroffen habe. Die Klägerin hat seit der medizinischen Beurteilung
durch Dr AE. im Januar 2000, spätestens aber seit dem ausführlich begründeten Gutachten des Dr AP. vom Januar 2004 Kenntnis
davon, dass den Rauchgewohnheiten des Vers ein wesentlicher Faktor für die Risikoerhöhung bei der Entstehung der Krebserkrankung
beizumessen ist. Sie hat trotz anwaltlicher Vertretung ihre aktuellen Einwendungen nicht zeitnah, sondern erst jetzt - nach
12 (ausgehend von der Stellungnahme des Dr AE.) bzw 8 Jahren (ausgehend vom Gutachten des Dr AP.) - vorgebracht. Zum anderen
werden die aktuellen Einwendungen der Klägerin durch die Angaben des Vers selbst gegenüber seinen behandelnden Ärzten in dem
Krankenhauses O. aus dem Jahre 1988 widerlegt. Denn hier hat der Vers ebenfalls - wie später im Juli 1999 - angegeben, 20
Zigaretten täglich zu rauchen. Diese Angaben haben die Gutachter und Sachverständigen - Dr AV. Dr AP. - für die Beurteilung
der Dosis-Wirkungs-Beziehung daher zutreffend zugrunde gelegt.
4. Schließlich ist eine synkanzerogene Wirkung der chemischen Stoffe, unter deren Einfluss der Vers gearbeitet hat, medizinisch-wissenschaftlich
nicht gesichert. Diese setzt voraus, dass mehrere krebserregende Stoffe mit dem gleichen Zielorgan vorliegen, was hier schon
nicht gegeben ist (Dr AP.). Zudem ist die Exposition gegenüber dem aromatischen Amin Benzidin, dem hier einzigen im Bereich
des Urothelsystems kanzerogenen Stoffes, nicht - wie bereits ausgeführt - im Vollbeweis belegt. Im Übrigen liefe die Annahme
einer synkanzerogenen Wirkung der Vielzahl der chemischen Stoffe auf die Feststellung einer neuen Gesamt-BK (wie der mit der
Zweiten Verordnung zur Änderung der
BKV vom 11. Juni 2009 eingefügten Nr 4114: Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen
Kohlenwasserstoffen) hinaus, die der Bezeichnung durch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates vorbehalten ist
(§
9 Abs
1 SGB VII, BSG SozR 4-2700 §
9 Nr 17 Rn 17 ff). Die sich aus den zeitlichen Abständen zwischen den Änderungen der
BKV ergebenden Regelungslücken schließt die "Öffnungsklausel" des §
9 Abs
2 SGB VII. Sie stellt jedoch keine allgemeine Härteklausel dar, sondern ermöglicht die Anerkennung als "Wie-BK", wenn die Voraussetzungen
für die Bezeichnung einer BK vorliegen (aaO. Rn 31). Die sog BK-Reife liegt hier nach der Recherche des aktuellen arbeitsmedizinisch-wissenschaftlichen
Kenntnisstandes durch den Sachverständigen Dr AP. indes nicht vor. Zudem käme es vorliegend auch auf die Erkenntnisse im Zeitpunkt
des Todes des Vers an (§
63 Abs
1 Satz 2
SGB VII, BSG Urteil vom 12. Januar 2010, B 2 U 5/08 R).
Der Senat hält die ausführlich und sorgfältig begründeten Einschätzungen der Gutachter und Sachverständigen Dr AP., Dr AQ.,
Dr AI., Dr
AO. und Dr AE. für überzeugend. Ihre Ausführungen stehen im Einklang mit dem allgemein anerkannten medizinischen Kenntnisstand.
Bei der Bewertung der Arbeitsplatzsituation legt der Senat die Ergebnisse der umfangreichen und intensiven Ermittlungen des
Dr R. und die Angaben der früheren Arbeitskollegen AN., Dr AH. und AG. zugrunde, die aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmung und
Erinnerung als Zeitzeugen am ehesten geeignet waren, verlässliche Angaben zu den Arbeitsbedingungen zu machen, zumal sie am
Ausgang des Rechtsstreits kein Interesse haben.
Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht aus den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen. Soweit sie sich auf die toxikologische
Bewertung des Hydrazobenzols durch die Beklagte stützt, liegen dieser die Untersuchung eines Kollektivs von 189 Arbeitern
aus der Benzidin-Produktion, bei der ua auch Hydrazobenzol als Arbeitsstoff anfiel, zugrunde. Diese Erkenntnisse lassen sich
aber auf den vorliegenden Fall aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen nicht übertragen. Der verstorbene Ehemann
der Klägerin war nicht in der Benzidin-Produktion tätig, und die berufliche Exposition gegenüber Benzidin ist bei ihm gerade
nicht im Vollbeweis belegt.
Der Senat sieht den Sachverhalt durch die umfangreichen und sorgfältigen Ermittlungen des Dr R. und den ausführlichen und
im Einzelnen durch Literaturquellen belegten Beurteilungen des Dr AP., Dr AE., Dr AQ., Dr
AO. und Dr AT. als geklärt an. Dem Hilfsantrag der Klägerin war deshalb nicht stattzugeben. Abgesehen davon, dass sie in dem
über beide Instanzen währenden 10-jährigen Verfahren ausreichend Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Fragen zur Benzidin-Umlagerung
und zu den Sachverhaltsermittlungen der Beklagten gehabt hat, hat die Klägerin weder Unklarheiten im Sachverhalt aufgezeigt
noch vorgetragen, zu welchen konkreten Fragen welche Zeugen gehört werden sollen. Dem Vertagungsantrag war nicht zu entsprechen,
weil die Frage "zu der Lehrmeinung hinsichtlich der Umlagerung von Hydrazobenzol zu Benzidin" seit Einholung der Stellungnahme
des Prof Dr AR. vom 14. Juni 2011 Gegenstand der schriftsätzlichen Auseinandersetzung der Beteiligten gewesen ist (Schriftsätze
von 28. Juli und 26. August 2011). Ihre Thematisierung in der mündlichen Verhandlung konnte deshalb - darauf hat der Senat
im Termin hingewiesen - nicht überraschen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen (§
160 Abs
2 SGG).