Vorläufige Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs
Auswahl einer geeigneten Dozentin
Ausnahme des Grundsatzes der Leistungskontinuität
Gründe:
I.
Im Streit ist die vorläufige Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs, insbesondere die Auswahl einer geeigneten Dozentin.
Der 2008 geborene Antragsteller ist syrischer Staatsangehöriger, 2015 mit seinen Eltern nach Deutschland eingereist und als
subsidiär Schutzberechtigter anerkannt. Seit dem Säuglingsalter besteht bei ihm eine beidseitig hochgradige, an Taubheit grenzende
Innenohrschwerhörigkeit. Aus diesem Grund ist er als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 und den
Merkzeichen G, H, Gl und RF anerkannt. Er lebt gemeinsam mit Geschwistern im Haushalt seiner Eltern in der im Kreisgebiet
des Antragsgegners gelegenen Stadt Osterholz-Scharmbeck und besucht die Schule an der D. E., eine Hörgeschädigtenschule, in
der er einmal in der Woche für 90 Minuten an dem Unterrichtsfach Deutsche Gebärdensprache teilnimmt. Die Familie des Antragstellers
bezieht zur Sicherung ihres Lebensunterhalts laufende Leistungen nach dem SGB II.
Nachdem der Antragsteller im Frühjahr 2017 mit einem Cochlear-Implantat versorgt worden war, beantragten seine Eltern beim
Antragsgegner mit Schreiben vom 5.9.2017 und 14.2.2018 unter Vorlage eines Kostenvoranschlags der Dozentin F. die Gewährung
eines Persönlichen Budgets (PB) zur Finanzierung eines Hausgebärdensprachkurses. Der (auch) vom behandelnden HNO-Facharzt
G., Osterholz-Scharmbeck, empfohlene Kurs sollte nach dem Kostenvoranschlag an zwei Tagen in der Woche zwei Unterrichtseinheiten
pro Tag umfassen. Nach Einholung einer Stellungnahme der Amtsärztin H. und der Dipl. Ergotherapeutin I. vom 22.5.2018, nach
der der Vater einen - aus Sicht des Gesundheitsamtes im häuslichen Umfeld nicht indizierten - Gebärdensprachkurs nicht mehr
befürwortet haben soll, lehnte der Antragsgegner den Antrag vom 5.9.2017 durch Bescheid vom 5.6.2018 ab. Auf den hiergegen
erhobenen Widerspruch - bei dem Gespräch im Gesundheitsamt müsse es aufgrund geringer Deutschkenntnisse zu einem Missverständnis
gekommen sein - holte der Antragsgegner eine weitere Stellungnahme der Mitarbeiterinnen des Gesundheitsamtes vom 9.7.2018
ein, nach der die Teilnahme an einem Gebärdensprachkurs als sinnhaft angesehen wurde, allerdings in ausreichender Weise durch
den Besuch einer Gebärdensprachschule, nicht notwendig hingegen im häuslichen Umfeld (Hausgebärdensprachkurs). Insoweit solle
noch Kontakt mit der Schule des Antragstellers aufgenommen werden, inwieweit die Umsetzung des Erlernens der Gebärdensprachschule
dort möglich sei; anderenfalls könne der Antragsteller eine Gebärdensprachschule besuchen. Daraufhin wies der Antragsgegner
den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 21.8.2018 mit der Begründung zurück, der Antragsteller sei dem Grunde nach
anspruchsberechtigt, nach dem sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz aber auf einen Gebärdensprachkurs in seiner Schule
oder einer anderen Gebärdensprachschule zu verweisen.
Während des hiergegen beim Sozialgericht (SG) Stade angestrengten Klageverfahrens wurde der Antragsgegner in einem ersten Eilverfahren im Wege der einstweiligen Anordnung
dem Grunde nach verpflichtet, bis zum rechtskräftigen Abschluss des beim SG anhängigen Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch bis zum 31.7.2020, die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs zu übernehmen
(Senatsbeschluss vom 27.1.2020 - L 8 SO 199/19 B ER -). Der Antragsteller hatte nach dem damaligen Stand der Ermittlungen
glaubhaft gemacht, dass sein Bedarf an zusätzlicher Sprachförderung nach den Stellungnahmen der ihn behandelnden Stellen und
seiner Klassenlehrerin sowie des Schulleiters in hinreichender Weise nur durch einen Hausgebärdensprachkurs gedeckt werden
kann und eine vorläufige Übernahme der damit einhergehenden Kosten angesichts der prognostischen Dauer des Hauptsacheverfahrens
zur Erlangung einer angemessenen Schulbildung dringend geboten ist. Allerdings hat der Senat es in dem ersten Eilverfahren
als ermessensgerecht erachtet, dass der Antragsgegner eine (Auswahl-)Entscheidung über den Leistungserbringer zu treffen hat,
bei der die Besonderheit des Einzelfalles (§
104 Abs.
1 SGB IX), insbesondere angemessene Wünsche des Antragstellers (§
104 Abs.
2 SGB IX; vgl. für die Sozialhilfe § 9 Abs. 2 SGB XII) und die Empfehlung der Schule, aber ggf. auch geringere Kostensätze anderer Dozentinnen und Dozenten zu berücksichtigen
sind.
In Ausführung dieser Entscheidung bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen der Eingliederungshilfe durch
Übernahme der Kosten für einen Gebärdensprachkurs in einem Umfang von vier Stunden je Woche (Bescheid vom 17.3.2020). Dem
im Verwaltungs- und Eilverfahren ausdrücklich geäußerten Wunsch des Antragstellers, einen Hausgebärdensprachkurs durch die
ihm aufgrund seines Schulbesuchs bereits bekannte Dozentin F. zu ermöglichen, lehnte der Antragsgegner insbesondere wegen
unverhältnismäßiger Mehrkosten ab und erklärte gegenüber der Dozentin J., Gebärdenfreude Bremen, eine entsprechende Kostenzusage.
Der Antragsteller nahm diesen Sprachkurs nicht in Anspruch und begehrt im Hauptsacheverfahren weiterhin eine Kostenübernahme
für einen Hausgebärdensprachkurs durch die Dozentin F ... Die darauf gerichtete Klage wies das SG durch Gerichtsbescheid vom 7.5.2020 mit der Begründung ab, der Kläger habe keinen Rechtsanspruch auf die Kostenübernahme
für einen Gebärdensprachkurs (nur) durch die Dozentin F., vielmehr habe der Antragsgegner den Leistungsantrag unter Anwendung
des ihm zustehenden Ermessens und mit dem Verweis auf eine alternative Leistungserbringung zu Recht abgelehnt.
Der Antragsteller hat gegen die ihm am 15.5.2020 zugestellte Entscheidung am 9.6.2020 Berufung eingelegt und zugleich den
erneuten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Er macht geltend, dass die Durchführung eines Hausgebärdensprachkurses
- auch unabhängig von der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie - dringend erforderlich sei und es ihm u.a. aufgrund seines Alters
und seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht zuzumuten sei, eine Gebärdensprachschule in Bremen aufzusuchen. Er bestreitet
die fachliche Qualifikation der Dozentin J. für einen kindgerechten Hausgebärdensprachkurs; deren Unterricht in der Gebärdensprachschule
sei ausnahmslos auf Erwachsenenbildung ausgerichtet und sie verfüge - anders als die Dozentin F. - nicht über einen staatlich
anerkannten Abschluss in der Deutschen Gebärdensprache. Die Auswahl der Dozentin J. berücksichtige auch nicht, dass Hausgebärdensprachkurse
kindgerechten und geschützten Konzepten unterliegen würden.
Der Antragsgegner erachtet einen Hausgebärdensprachkurs grundsätzlich nicht als notwendig. Die Übernahme entsprechender Kosten
komme nur wegen der gegenwärtigen Bedingungen während der Covid-19-Pandemie in Betracht. Im Übrigen sei es dem Antragsteller
zuzumuten, einen Sprachkurs bei der Dozentin J. in Bremen zu belegen. Er besuche täglich die Schule in Bremen, so dass sein
Aktionsradius nicht auf die elterliche Wohnung beschränkt sei. Seinen Eltern sei es zuzumuten, ihn so lange zur Sprachschule
nach Bremen zu begleiten, bis er die erforderliche Sicherheit und Selbstständigkeit erlangt hat, die Wege auch allein zurückzulegen.
Seinem Wunsch, dass der Hausgebärdensprachkurs allein durch die Dozentin F. durchgeführt wird, stünden unverhältnismäßige
Mehrkosten entgegen. Nach den Berechnungen des Antragsgegners würden sich die monatlichen Kosten eines Sprachkurses durch
die Dozentin J. in der Sprachschule in Bremen auf 866,67 EUR bzw. im Haushalt des Antragstellers auf 1.213,33 EUR und eines
Hausgebärdensprachkurses durch die Dozentin F. - wegen des höheren Stundensatzes und der zusätzlich berechneten Fahrtkosten
- auf 2.630,18 EUR belaufen. Die Dozentin J. verfüge in gleicher Weise wie die Dozentin F. über die notwendige Qualifikation,
den Antragsteller in der Gebärdensprache zu unterrichten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Prozessakten der Hauptsache
(- S 19 SO 88/18; L 8 SO 84/20 B ER -) und des vorangegangenen Eilverfahrens (- S 19 SO 16/19 ER; L 8 SO 199/19 B ER -) sowie
der Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.
II.
Der Eilantrag des Antragstellers ist zulässig, insbesondere ist der Senat als Rechtsmittelgericht für die Entscheidung zuständig,
weil die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist (§
86b Abs.
2 Satz 3
SGG). In dem Verfahren betreffend den Gerichtsbescheid des SG vom 7.5.2020 ist über den vom Antragsteller geltend gemachten Anspruch auf Übernahme eines Hausgebärdensprachkurses durch
die Dozentin F. (mit Wirkung für die Zukunft) und die Rechtmäßigkeit der Ablehnungsentscheidung des Antragsgegners (Bescheid
vom 5.6.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.8.2018) zu entscheiden.
Die dort angefochtene Ablehnung des Leistungsantrags vom 5.9.2017 hat sich nicht durch das Inkrafttreten des Rechts der Eingliederungshilfe
nach Teil 2 des
SGB IX zum 1.1.2020 und den Wegfall der Zuständigkeit des Antragsgegners als örtlicher Träger der Sozialhilfe auf andere Weise erledigt
(§ 39 Abs. 2 SGB X; vgl. hierzu BSG, Beschluss vom 25.6.2020 - B 8 SO 36/20 B - juris Rn. 9; Siefert, ZAP 2020, 359, 360 f.; Groth, jurisPR-SozR 19/2020 Anm. 5 und Eicher in jurisPK-
SGB IX, 3. Aufl. 2020, Anhang zu § 19 SGB XII Rn. 2, 2.2.). Die Einführung der neuen Leistungen der Eingliederungshilfe mit einer neuen Trägerschaft berührt grundsätzlich
nicht eine bereits nach §
14 SGB IX (in der Zeit bis 31.12.2019) begründete Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers, der (im Außenverhältnis) gegenüber dem
Menschen mit Behinderung umfassend für die erforderlichen Rehabilitationsleistungen zuständig geworden ist (vgl. zur sog.
"aufgedrängten" Zuständigkeit Ulrich in jurisPK-
SGB IX, 3. Aufl. 2018, §
14 Rn. 39 m.w.N.). Für ein Fortwirken der bereits nach §
14 SGB IX begründeten Zuständigkeit bei einem Wegfall der Eigenschaft als Rehabilitationsträger i.S. des §
6 SGB IX reicht es damit aus, dass der (bislang zuständige) Rechtsträger - wie hier (dazu gleich) - weiterhin Rehabilitationsträger
i.S. des §
6 SGB IX ist. §
14 SGB IX regelt die Zuständigkeitsklärung zwischen verschiedenen Rehabilitationsträgern, wobei die Bezeichnung "Träger", die im Sinne
einer rechtsfähigen juristischen Person zu verstehen ist, deutlich macht, dass es sich um unterschiedliche juristische Personen
des öffentlichen Rechts handeln muss, damit von einem Zuständigkeitskonflikt im Sinne der Vorschrift die Rede sein kann (so
schon Senatsurteil vom 29.10.2015 - L 8 SO 122/12 - juris Rn. 28). Abgesehen von Fällen der zielgerichteten Zuständigkeitsanmaßung
genügt es für die Anwendung des §
14 SGB IX, dass der Rechtsträger überhaupt Träger von Leistungen zur Teilhabe und damit ein Rehabilitationsträger i.S. des §
6 SGB IX ist (in diese Richtung wohl auch BSG, Urteil vom 4.4.2019 - B 8 SO 11/17 R - juris Rn. 13; vgl. auch §
14 Abs.
1 Satz 1
SGB IX, der allein auf den Antrag auf "Leistungen zur Teilhabe" abstellt).
§
14 SGB IX ist als Vorschrift im Teil 1 des
SGB IX im Recht der Eingliederungshilfe nach Teil 2 des
SGB IX (weiterhin) anwendbar (§
7 Abs.
1 Satz 1 und
3 SGB IX); auch die Normänderungen zum 1.1.2018 durch das Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I 3234) haben auf die hier bereits
im September 2017 begründete Zuständigkeit des Antragsgegners keine Auswirkungen, weil die Neufassung des §
14 SGB IX lediglich an das bisherige Recht anknüpft und die Vorschrift nur präzisieren soll (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 233 und BT-Ausschussdrucksache
18(11)244, S. 7, 44, 51; zur zeitlichen Geltung eines Gesetzes nach allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts
vgl. BSG, Urteil vom 13.7.2017 - B 8 SO 1/16 R - juris Rn. 20). Die Änderung oder das Inkrafttreten eines für einen (neuen) Rehabilitationsträger
geltenden Leistungsgesetzes i.S. des §
7 Abs.
1 SGB IX führt insoweit nur dazu, dass der nach §
14 SGB IX bereits zuvor zuständig gewordene Rehabilitationsträger ggf. auch nach diesen Rechtsgrundlagen über die beantragte Teilhabeleistung
zu entscheiden hat (s.o).
Anders als bei einer möglichen Zäsur bei der Abschaffung einer Sozialleistung und der Einführung einer anderen (zur Ablösung
der Alhi durch das SGB II vgl. etwa BSG, Urteile vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R - juris Rn. 18 und - B 11b AS 3/06 R - juris Rn. 13 f.) bewirkt §
14 SGB IX im Recht der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zugunsten des Menschen mit Behinderung eine Kontinuität
(im rechtlichen Sinn) durch die verbindlich festgelegte Zuständigkeit des Rehabilitationsträgers (im Ergebnis ebenso Groth,
a.a.O.). Ob bei einem Wechsel der (sachlichen) Zuständigkeit des Rechtsträgers in seiner neuen Eigenschaft als Träger der
Eingliederungshilfe durch das Inkrafttreten von Teil 2 des
SGB IX (die Einführung einer "neuen" Leistung) bzw. den landesrechtlichen Zuständigkeitsregelungen (§
94 SGB IX) zum 1.1.2020 zumindest bei einem Verlängerungs- oder Folgeantrag nicht (mehr) von einem einheitlichen Rehabilitationsgeschehen
auszugehen ist, mit der möglichen Folge einer erneuten Zuständigkeitsprüfung nach §
14 SGB IX (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28.11.2019 - B 8 SO 8/18 R - juris Rn. 15; dazu Schaumberg, DVfR Forum A, A11-2020), muss hier nicht beantwortet
werden. Aus Sicht des Senats spricht aber Überwiegendes dafür, in diesen Fällen eine Ausnahme des Grundsatzes der Leistungskontinuität
anzunehmen (vgl. dazu Ulrich in jurisPK-
SGB IX, 3. Aufl. 2018, §
14 Rn. 56 ff., 60).
Die im Hauptsacheverfahren angefochtene Ablehnungsentscheidung hat sich auch nicht durch eine erneute Sachentscheidung - hier
etwa für die Zeit ab Mitte März 2020 durch Bescheid des Antragsgegners vom 17.3.2020 - auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X; vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 12/06 R - juris Rn. 8). Diesem Bescheid ist nach allgemeinen Auslegungsregeln (noch) mit
hinreichender Eindeutigkeit zu entnehmen, dass er bloß in Ausführung des Senatsbeschlusses vom 27.1.2020 (- L 8 SO 199/19
B ER -) ergangen ist (vgl. S. 2 der Begründung) und keine unbedingte Bewilligung enthält (sog. Ausführungsbescheid, vgl. dazu
Burkiczak in jurisPK-
SGG, 1. Aufl. 2017, §
86b Rn. 462). Da der Antragsteller die entsprechend der einstweiligen Anordnung befristet bis Ende Juli 2020 bewilligten Leistungen
nicht in Anspruch genommen hat, ist dieser Bescheid ohnehin gegenstandslos geworden.
Wie auch im Hauptsacheverfahren ist der Antragsgegner der richtige Beteiligte i.S. der §§
69,
70 SGG. Auf die Frage einer Rechts- oder Funktionsnachfolge (vgl. dazu Schink, Rechtsnachfolge bei Zuständigkeitsveränderungen in
der öffentlichen Verwaltung, 1984, S. 54 ff.) des (sachlich und örtlich zuständigen) Trägers der Eingliederungshilfe anstelle
des bis Ende 2019 für die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach dem ehemaligen 6. Kapitel des SGB XII zuständigen Trägers der Sozialhilfe (vgl. § 241 Abs. 8
SGB IX in der Fassung vom 17.7.2017, BGBl. I 2541) kommt es hier im Ergebnis nicht an, weil der Antragsgegner auch nach neuem Recht
für die Leistung sachlich und örtlich zuständig ist (Trägeridentität; vgl. dazu auch Groth, a.a.O.). In Niedersachsen sind
die Landkreise als örtliche Träger der Eingliederungshilfe sachlich zuständig für Leistungen der Eingliederungshilfe an Leistungsberechtigte,
die - wie der Antragsteller - das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (vgl. §
94 Abs.
1 SGB IX i.V.m. §
2 Abs.
1 und
2, §
3 Abs.
1 Satz 1 und Abs.
2 des Niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des
SGB IX und SGB XII (Nds. AG SGB IX/XII) vom 24.10.2019 (Nds. GVBl. S. 300); die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus §
98 Abs.
1 Satz 1
SGB IX, weil sich der Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung (und bis heute) im Haushalt seiner Eltern und damit im Kreisgebiet
des Antragsgegners gewöhnlich aufhält. Aufgrund der Trägeridentität ist auch eine (echte) notwendige Beiladung des Trägers
der Eingliederungshilfe nach §
75 Abs.
2 Alt. 1
SGG, weil die Entscheidung auch gegenüber dem (im Innenverhältnis) nunmehr mutmaßlich endgültig zuständigen Rehabilitationsträger
nur einheitlich ergehen kann (vgl. nur BSG, Urteil vom 26.10.2004 - B 7 AL 16/04 R - juris Rn. 13 ff.), nicht angezeigt.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nicht begründet und daher abzulehnen.
Einstweilige Anordnungen sind nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung
zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass
ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass
der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit
eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile sind glaubhaft zu machen (§
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 ZPO).
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) nicht glaubhaft gemacht,
weil es ihm einstweilen zuzumuten ist, einen Hausgebärdensprachkurs durch die Dozentin J. in Anspruch zu nehmen. Der Antragsgegner
hat sich zu einer entsprechenden Kostenübernahme jedenfalls während der Covid-19- Pandemie bereit erklärt, so dass der Erlass
einer einstweiligen Anordnung - auch insoweit - nicht geboten ist.
Gegenstand der form- und fristgerecht (§
151 SGG) eingelegten und auch im Übrigen zulässigen, insbesondere statthaften (§§
143,
144 Abs.
1 Satz 2
SGG) Berufung ist der Gerichtsbescheid des SG vom 7.5.2020, durch den die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§
54 Abs.
1,
56 SGG) auf Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs aus Mitteln der Eingliederungshilfe abgelehnt worden ist (zum
Streitgegenstand vgl. auch oben). Aus den angekündigten Anträgen im Hauptsache- und Eilverfahren ergibt sich eindeutig, dass
der Antragsteller bzw. seine ihn vertretenen Eltern den ursprünglich geltend gemachten Anspruch in Form eines PB nach §
105 Abs.
3 Satz 1
SGB IX i.V.m. §
29 SGB IX (bis 31.12.2019 nach §§ 53, 57 Satz 1 und 2 SGB XII i.V.m. §
29 SGB IX) nicht mehr geltend machen.
Dem geltend gemachten Anspruch kann nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner über eine Hilfegewährung noch eine
Ermessensentscheidung nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (für die Gewährung von Eingliederungshilfe an Ausländer nach der Rechtslage bis 31.12.2019 gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII) zu treffen hat, ob dem Antragsteller im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch überhaupt Eingliederungshilfe zu gewähren
ist. Danach können Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Leistungen nach Teil 2 des
SGB IX (Eingliederungshilfe) erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Der Antragsgegner hat in den gerichtlichen
Verfahren den Bedarf des Antragstellers an einer zusätzlichen Förderung in Gebärdensprache dem Grunde nach anerkannt (vgl.
etwa den Schriftsatz im vorliegenden Verfahren vom 8.7.2020) und damit die Entscheidung über das Entschließungsermessen ("ob")
bereits zu Gunsten des Antragstellers getroffen. Ob hier ausnahmsweise ohnehin ein Rechtsanspruch nach §
100 Abs.
1 Satz 2
SGB IX (bis 31.12.2019: § 23 Abs. 1 Satz 4 SGB XII) wegen eines prognostisch dauerhaften Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland besteht, muss daher nicht beantwortet
werden.
Der Antragsteller erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe als Rechtsanspruch
nach §
99 Abs.
1 SGB IX i.V.m. § 53 Abs. 1 SGB XII und den §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfe-VO, jeweils in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung, weil er aufgrund der beidseitigen hochgradigen,
an Taubheit grenzenden Innenohrschwerhörigkeit wesentlich behindert ist (vgl. § 1 Nr. 5 Eingliederungshilfe-VO).
Der Anspruch auf Übernahme von Kosten einer zusätzlichen Förderung der Gebärdensprache kann sich hier als Leistung zur Teilhabe
an Bildung, konkret als Hilfe zu einer Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, nach §
112 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1, Satz 3
SGB IX (bzw. für die Zeit bis zum 31.12.2019 nach §§ 53, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Eingliederungshilfe-VO) oder als Leistung zur sozialen Teilhabe nach §
113 Abs.
1 und
2 Nr.
6 SGB IX i.V.m. §
82 Satz 1
SGB IX (bzw. für die Zeit bis 31.12.2019 nach §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII i.V.m. §
55 Abs.
2 Nr.
4 SGB IX a.F. und §
16 Nr.
2 Eingliederungshilfe-VO) ergeben. Die Anspruchsvoraussetzungen für eine Förderung liegen insoweit vor; dies ist zwischen den
Beteiligten auch unstreitig. Nach Aktenlage steht aufgrund der medizinischen Befunde, insbesondere der Dr. phil. K., Bremen,
vom 3.2.2017, des Facharztes für HNO-Heilkunde G., L., vom 16.3.2018 und der Dr. M. und Dipl. Pädagogin N. des O. P. Centrum
"Q.", R., vom 13.9.2018 fest, dass der Antragsteller dringend auf einen Gebärdensprachkurs als zusätzliche Förderung - neben
dem Angebot der Schule an der D. E. - angewiesen ist.
Der Senat stellt klarstellend fest, dass der Antragsteller - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - bereits im ersten
Eilverfahren glaubhaft gemacht hat, dass sein Bedarf an zusätzlicher Sprachförderung unabhängig von den gegenwärtigen Bedingungen
während der Covid-19-Pandemie in hinreichender Weise nur durch einen Hausgebärdensprachkurs gedeckt werden kann. An dieser
Beurteilung hält der Senat aufgrund der Stellungnahmen der den Antragsteller behandelnden Stellen, die die Durchführung eines
Hausgebärdensprachkurses ausdrücklich empfohlen haben (vgl. die Berichte des Herrn G. vom 16.3.2018 sowie von Frau Dr. M.
und Frau N. vom 13.9.2018), sowie der Klassenlehrerin des Antragstellers, Frau S., und des Schulleiters, Herrn T., vom 1.
und 25.11.2019 fest (vgl. im Einzelnen den Senatsbeschluss vom 27.1.2020 - L 8 SO 199/19 B ER - S. 5, 6). Zu diesen fachlichen
Empfehlungen kommen noch die glaubhaft gemachten Schwierigkeiten des Antragstellers in tatsächlicher Hinsicht hinzu, die Sprachschule
in Bremen selbstständig zu erreichen (vgl. die Darlegungen in den Schriftsätzen seines Prozessbevollmächtigten vom 4. und
23.9.2020).
Die (Auswahl-)Entscheidung des Antragsgegners über die (konkrete) Lehrkraft, die Dozentin J., ist aber nach den besonderen
Umständen des Einzelfalles nicht offensichtlich (ermessens-)fehlerhaft. Nach §
104 SGB IX bestimmen sich die Leistungen der Eingliederungshilfe nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des
Bedarfes, den persönlichen Verhältnissen, dem Sozialraum und den eigenen Kräften und Mitteln; dabei ist auch die Wohnform
zu würdigen (Abs. 1 Satz 1). Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, ist zu
entsprechen, soweit sie angemessen sind (Abs. 2 Satz 1). Die Wünsche der Leistungsberechtigten gelten nicht als angemessen,
wenn und soweit die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern,
mit denen eine Vereinbarung nach Kapitel 8 besteht, unverhältnismäßig übersteigt und wenn der Bedarf nach der Besonderheit
des Einzelfalles durch die vergleichbare Leistung gedeckt werden kann (Abs. 2 Satz 2 Nr.
1 und
2). Bei der Entscheidung nach §
104 Abs.
2 SGB IX ist zunächst die Zumutbarkeit einer von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichenden Leistung zu prüfen (Abs. 3 Satz
1). Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände einschließlich der gewünschten Wohnform angemessen zu berücksichtigen
(Abs. 3 Satz 2). Bei Unzumutbarkeit einer abweichenden Leistungsgestaltung ist ein Kostenvergleich nicht vorzunehmen (Abs.
3 Satz 5).
Nach diesen Vorgaben spricht nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens Überwiegendes dafür, dass die hier in Betracht kommenden
Dozentinnen, Frau F. und Frau J., in vergleichbarer Weise den Hausgebärdensprachkurs durchführen können, der Wunsch des Antragstellers,
nach dem allein die Dozentin F. den Kurs übernehmen soll, aber wegen unverhältnismäßiger Mehrkosten nicht angemessen i.S.
des §
104 Abs.
2 Satz 1 und
2 SGB IX ist. Die Leistungserbringung durch die Dozentin J. erscheint auch - jedenfalls einstweilen - zumutbar.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage verfügen die Dozentinnen J. und F. jeweils über eine hinreichende Qualifikation
für den Unterricht in Gebärdensprache und auch über praktische Erfahrungen mit Einzelkursen im häuslichen Bereich. Beide sind
auf einer einschlägigen Dozentenliste für Hausgebärdensprachkurse aufgeführt https://www.kestner.de/n/elternhilfe/liste/gebaerdensprachkurs-liste1.htm;
abgerufen am 9.11.2020). Nach der im ersten Eilverfahren vom Senat eingeholten Stellungnahme der Klassenlehrerin des Antragstellers,
Frau S., und des Schulleiters, Herrn T., vom 25.11.2019 sollen die Lehrkräfte der Gebärdensprachschule, also auch die Dozentin
J., in ihren Hausgebärdensprachkursen nach den gleichen Richtlinien arbeiten und "sicherlich" die gleichen Inhalte im Hausgebärdensprachkurs
anbieten wie die Dozentin F ... Für letztere spreche jedoch, dass sie den Antragsteller aus ihrer früheren Tätigkeit an der
Schule D. kenne und diese Beziehung ein günstiger Aspekt sei, um den Unterricht beginnen zu können. Die persönliche Beziehung
des Antragstellers zu der Dozentin F. gebietet es aber nicht, bei der Entscheidung über die Wahl des Leistungserbringers etwaige
Mehrkosten unberücksichtigt zu lassen. Insoweit hat der Antragsgegner glaubhaft gemacht, dass die Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs
durch die Dozentin F. wegen der Abrechnung nach den Bestimmungen des JVEG (in monatlicher Höhe von etwa 2.600,00 EUR) deutlich über diejenigen hinausgehen, die von der Dozentin J. in Rechnung gestellt
werden würden (in Höhe von etwa 1.200,00 EUR je Monat). Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, dass beide Dozentinnen
keine Vereinbarungen nach Kapitel 8 von Teil 2 des
SGB IX abgeschlossen haben (vgl. §
104 Abs.
2 Satz 2
SGB IX; zum Wunsch- und Wahlrecht nach § 9 SGB XII betreffend vereinbarungsgebundene Leistungserbringer vgl. BSG, Urteil vom 5.7.2018 - B 8 SO 30/16 R - juris Rn. 20). Der Frage, ob Gesichtspunkte wie die Qualität der Leistung und die
Wahrscheinlichkeit, das Teilhabeziel - das Erlernen der deutschen Gebärdensprache - zu erreichen, den Einsatz der im Vergleich
über doppelt so hohen Kosten des Hausgebärdensprachkurses durch die Dozentin F. rechtfertigt, muss ggf. im Hauptsacheverfahren
nachgegangen werden, also auch dem Einwand des Antragstellers, die Dozentin J. verfüge in formaler Hinsicht nicht über die
gleiche Qualifikation wie Frau F. und sei wegen ihrer Ausrichtung auf Erwachsenenbildung nicht in gleicher Weise in der Lage,
den Hausgebärdensprachkurs kindgerecht zu gestalten. Der Senat stellt insoweit eine zeitnahe Beweisaufnahme in Aussicht. Einstweilen
ist es dem Antragsteller hingegen zuzumuten, den Sprachunterricht im häuslichen Bereich mit der Dozentin J. zu beginnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.