Leistungen der Grundsicherung für Unionsbürger
Verpflichtung im Wege der einstweiligen Anordnung zur Erbringung von Leistungen nach SGB II
Regelbedarf und Leistungen für Unterkunft und Heizung
Zuerkennung der Leistungen im Wege der Folgenabwägung
Glaubhaftmachung der Hilfebedürftigkeit
Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU
Wenig Aufträge und niedriger Umsatz in den ersten neun Monaten der selbstständigen Erwerbstätigkeit
Gründe
I.
Der 1981 geborene Antragsteller zu 1) und die 1988 geborene Antragstellerin zu 2) sind verheiratet. Sie besitzen die rumänische
Staatsangehörigkeit. Die Antragsteller zu 3) bis zu 6) sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder.
Die Antragsteller reisten im Dezember 2014 in die Bundesrepublik ein. Zum 01.01.2015 mietete der Antragsteller zu 1) eine
Wohnung mit einer Bruttowarmmiete von 625,00 EUR monatlich an. Der Antragsteller zu 1) ist mit den Mieten für März und April
2015 sowie laufend ab Juni 2015 im Rückstand. Die Vermieterin hat im Juni 2015 das Mietverhältnis fristlos gekündigt und im
September 2015 Räumungsklage erhoben.
Anfang 2015 meldete der Antragsteller zu 1) ein Gewerbe für Dachrinnenreinigung sowie Akustik- und Trockenbau an. Er erzielte
in den ersten fünf Monaten ein Einkommen von durchschnittlich 380,00 EUR. Ab Juni 2015 ist er als Subunternehmer für die Firma
T-Bauelemente tätig. Aus dieser Tätigkeit erzielt er ein monatliches Einkommen von mindestens 400,00 EUR.
Der Antragsteller zu 1) bezieht darüber hinaus Kindergeld i.H.v. 773,00 EUR monatlich. Am 10.04.2015 erhielt er eine Nachzahlung
von Kindergeld i.H.v. 3.092,00 EUR. Seit Mai 2015 erfolgt die laufende Auszahlung von Kindergeld.
Am 27.04.2015 beantragten die Antragsteller die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit Bescheid
vom 29.06.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Dem Antragsteller zu 1) stehe allein ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche zu. Er habe nicht den Status eines Selbständigen
inne. Bei der selbständigen Tätigkeit handele es sich um eine untergeordnete Tätigkeit, mit der er "keinen nicht unerheblichen
Beitrag zum Lebensunterhalt beisteuern" könne. Es sei kein marktwirksames Auftreten des Antragstellers zu 1) zu erkennen.
Das Vorhaben der selbständigen Tätigkeit sei nicht schlüssig mit Aussicht auf Erfolg.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2015 zurück.
Hiergegen haben die Antragsteller Klage erhoben.
Am 07.07.2015 haben die Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtschutzes zu verpflichten, ihnen "vorläufig im Hinblick auf eine rechtskräftige
Entscheidung in der Hauptsache für den Zeitraum 01.04.2015 bis einschließlich 30.09.2015 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren".
Sie haben vorgetragen, der Antragsteller zu 1) habe geplant, eine selbständige Tätigkeit im Hausmeisterbereich aufzunehmen.
Er habe bereits in Rumänien als Helfer und Trockenbauer gearbeitet. Er habe in der Zeit vom 01.01.2015 bis 30.06.2015 Betriebseinnahmen
i.H.v. insgesamt 2.295,00 EUR gehabt.
Durch Beschluss vom 04.08.2015 hat das Sozialgericht Dortmund den Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung abgelehnt. Auf
die Gründe wird Bezug genommen.
Gegen den ihnen am 05.08.2015 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 11.08.2015 Beschwerde eingelegt, mit der sie
ihr Begehren weiter verfolgen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet, im Übrigen unbegründet. Den Antragstellern sind im Wege der
Folgenabwägung Regelleistungen im Sinne von § 20 SGB II für die Zeit vom 07.07.2015 bis zum 30.09.2015 zuzuerkennen (1.). Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II stehen ihnen im Wege der Folgenabwägung für den Zeitraum vom 01.06.2015 bis zum 30.09.2015 zu (2.). Die Voraussetzungen für
die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren sind erfüllt (3.).
Nach §
86b Abs.
2 S. 2
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs (d.h. eines materiellen Anspruchs, für
den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie eines Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen
Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus.
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen
und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er im Hauptsacheverfahren erreichen kann. Dabei dürfen
Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl
auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden (vgl.
BVerfG, Beschlüsse vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12 - SGb 2015, 175, m.w.N. und vom 06.02.2013 - 1 BvR 2366/12 - BVerfGK 20, 196). Die summarische Prüfung kann sich insbesondere bei schwierigen Fragen auch auf Rechtsfragen beziehen
(Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Auflage 2014, §
86b Rn. 16c), wobei dann die Interessen- und Folgenabwägung stärkeres Gewicht gewinnt. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden
und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach
Möglichkeit zu verhindern (BVerfG, Beschluss vom 13.04.2010 - 1 BvR 216/07 - BVerfGE 126, 1 (27 f.), m.w.N.; vgl. zur Prüfungsdichte bei rechtlichen Fragen: BVerfG, Beschluss vom 27.05.1998 - 2 BvR 378/98 -, NVwZ-RR 1999, 217). Dabei ist eine weitergehende tatsächliche und rechtliche Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs
von Verfassungs wegen dann erforderlich, wenn dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung
seiner Grundrechte droht, die durch eine nachträgliche Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Je
gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die
tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 06.02.2013 - 1 BvR 2366/12, a.a.O.). Ist einem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand
einer Folgenabwägung zu entscheiden. In diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die
Abwägung einzustellen.
Nach diesen Maßgaben entscheidet der Senat auf Grund einer Folgenabwägung, weil nach dem derzeitigen Sachstand für den überwiegenden
Zeitraum mehr für als gegen ein Obsiegen der Antragsteller in der Hauptsache spricht.
1. Im Hinblick auf die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 20 SGB II bzw. des Sozialgelds nach § 23 SGB II haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund für die Zeit vom 07.07.2015 bis zum 30.09.2015
glaubhaft gemacht. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit,
wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten
das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese
Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung BSG, Beschlüsse vom 07.04.2011 - B 9 VG 15/10 B - und vom 08.08.2001 - B 9 V 23/01 B - SozR 3-3900 § 15 Nr. 4; Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 3/12 R).
Für den Zeitraum ab Antragstellung bei Gericht (07.07.2015) ergibt sich der erforderliche Anordnungsgrund betreffend den Regelbedarf
der Antragsteller aus dem glaubhaft gemachten Fehlen von Eigenmitteln. Verbleibende Zweifel sind der Klärung im Hauptsacheverfahren
vorbehalten. Anderes gilt demgegenüber für den Zeitraum vor Antragstellung bei Gericht. Soweit Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts in Form des Regelbedarfs auch für die Zeit vor dem 07.07.2015 begehrt werden, mangelt es an der Glaubhaftmachung
eines Anordnungsgrunds. Im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes sollen nur diejenigen Mittel zur Verfügung gestellt werden,
die zur Behebung einer aktuellen, d.h. gegenwärtigen Notlage erforderlich sind (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B.
Beschluss vom 09.09.2015 - L 19 AS 1061/15 B ER m.w.N.).Nur ausnahmsweise, wenn die Nichtgewährung der begehrten Leistung in der Vergangenheit noch in die Gegenwart
fortwirkt und infolge dessen eine aktuelle Notlage besteht, kann von diesem Grundsatz eine Ausnahme gemacht werden. Gesichtspunkte,
die in diesem Einzelfall ein Abweichen vom Grundsatz gebieten können, haben die Antragsteller weder vorgetragen noch sind
solche ersichtlich. Es ist ihnen möglich gewesen, den vorgetragenen finanziellen Engpass bis zur Antragstellung bei Gericht
zu überbrücken. Dass eine vergangene Bedarfslücke betreffend den Regelbedarf - nach Zeitablauf - eine erhebliche Notlage begründen
sollte, ist nicht zu ersehen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Ihnen im April 2015 ein Betrag i.H.v. 3.092,00 EUR zugeflossen
ist, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten.
Nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft
gemacht. Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II liegen bei dem Antragsteller zu 1) und der Antragstellerin zu 2) vor. Sie haben das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze
des § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Sie sind erwerbsfähig im Sinne von §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 SGB II. Anhaltspunkte für eine fehlende (gesundheitliche) Erwerbsfähigkeit liegen nicht vor. Auch haben sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. §
30 Abs.
3 S. 2
SGB I (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts haben die beiden Antragsteller zu 1) und 2), die eine Bedarfsgemeinschaft i.S.v.
§ 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II bilden, auch ihre Hilfebedürftigkeit i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II für die Zeit ab dem 07.07.2015 glaubhaft gemacht. Sie haben in der Zeit seit dem 07.07.2015 nicht über ausreichendes Einkommen,
auch nicht in Form von überschießendem Kindergeld, oder Vermögen verfügt, um ihren Lebensbedarf zu sichern. Allein die Tatsache,
dass auch ohne Leistungen durch den Träger der Grundsicherung jedenfalls das Lebensnotwendige offenbar gesichert ist, lässt
eine Hilfebedürftigkeit nicht entfallen. Entscheidend ist, ob Einkommen in Geld oder Geldeswert im jeweils zu beurteilenden
Zeitraum in einer Höhe konkret zur Verfügung steht, das den Gesamtbedarf vollständig deckt (vgl. BSG, Urteil vom 18.02.2010 - B 14 AS 32/08 R - SozR 4-4200 § 9 Nr. 9). Dafür, dass die beiden Antragsteller ab Antragstellung bei Gericht über unbekanntes Einkommen
oder Vermögen verfügt haben, liegen keine durchgreifenden Anhaltspunkte vor. Der Antragsteller zu 1) hat im Erörterungstermin
nachvollziehbar dargelegt, dass er und seine fünf Familienangehörigen ihren Unterhalt aus dem Kindergeld von 773,00 EUR und
seinem Verdienst von mindestens 400,00 EUR aus der selbständigen Tätigkeit, also von 1.173,00 EUR, bestritten haben. Der Betrag
von 1173,00 EUR entspricht 66 % des Regelbedarfs der gesamten Bedarfsgemeinschaft, der sich auf insgesamt 1.755,00 EUR monatlich
(360,00 EUR + 360,00 EUR + 267,00 EUR + 267,00 EUR + 267,00 EUR + 234,00 EUR) beläuft.
Die Antragsteller zu 3) bis zu 6) erfüllen als gemeinsame Kinder des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerin zu 2) die
Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II.
Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte unterliegen die Antragsteller nicht dem Leistungsausschluss
des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Nach dieser Vorschrift werden Ausländerinnen und Ausländer vom Leistungsanspruch ausgenommen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht
allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU) ergibt. Die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fordert eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw. der Gründe des Aufenthaltsrechts am Maßstab des Gesetzes über die allgemeine
Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) und ggf. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG; vgl. BSG, Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R m.w.N). Es muss positiv festgestellt werden, dass dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik
zusteht (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60, m.w.N.).
Es spricht mehr dafür als dagegen, dass es sich bei dem Antragsteller zu 1) um einen Selbständigen i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU handelt. Danach sind Unionsbürger freizügigkeitsberechtigt, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt
sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige), es sich also um Personen handelt, die von ihrer Niederlassungsfreiheit
nach Art. 49 AUEV Gebrauch machen. Die auf Art. 49 AEUV basierende Niederlassungsfreiheit umfasst die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen
Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit (EuGH, Urteil vom 25.07.1991 - C-221/89 Rechtssache Factortame; BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66). Maßgeblich ist die Möglichkeit für einen Unionsangehörigen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben
eines anderen Mitgliedstaates als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen (EuGH, Urteil vom 11.11.2010
- C- 384/08). Eine wirtschaftliche Tätigkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn mit ihr zumindest auch ein Erwerbszweck verfolgt
wird. Sie muss entgeltlich erbracht werden und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen. Der Antragsteller zu 1) hat
ein selbständiges Gewerbe "Dachrinnenreinigung sowie Akustik- und Trockenbau" ordnungsgemäß angemeldet und die Aufnahme der
Tätigkeit beim Finanzamt auch angezeigt. Er übt die selbständige Tätigkeit seit Januar 2015 tatsächlich aus, seit dem 01.06.2015
wird er für die Firma T-Bauelemente als Subunternehmer bei der Entrümpelung bzw. dem Ausräumen von Wohnungen tätig. Insoweit
bestehen, insbesondere nach Anhörung des Antragstellers zu 1) im Erörterungstermin, keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür,
dass es sich bei den im Verfahren vorgelegten Quittungen über den Erhalt eines Entgelts für Auftragsausführungen um Belege
über nicht existierende Aufträge handelt. Der Antragsteller zu 1) handelt nach dem im Erörterungstermin gewonnenen Eindruck
auch mit Gewinnerzielungsabsicht (vgl. hierzu VG München, Urteil vom 26.01.2105 - M 23 K 14.450). Ebenso kann ihm nicht der
Wille abgesprochen werden, eine wirtschaftliche Tätigkeit als niedergelassener Selbständiger auf unbestimmte Zeit zu betreiben
(vgl. hierzu LSG Hessen, Urteil vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12). Der Antragsteller zu 1) hat die nötigen Werkzeuge für seine Tätigkeit angeschafft und sich im Rahmen seiner durch die fehlenden
Sprachkenntnisse eingeschränkten Möglichkeiten um Aufträge bemüht. Im Erörterungstermin hat der Antragsteller auch bekundet,
dass er die selbständige Tätigkeit zwecks Erzielung von Einkünften zur Bestreitung des Lebensbedarfs seiner Familie fortsetzen
wird, bis er eine abhängige Beschäftigung gefunden hat.
Unerheblich für die Eröffnung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit ist, ob die Tätigkeit einen bestimmten Gewinn
abwirft, insbesondere ob sie zur Deckung des Lebensunterhalts ausreicht (BayVGH, Beschluss vom 21.05.2015 - 10 C 15.797; OVG
Hamburg, Beschluss vom 21.06.2010 - 1 B 137/10), insbesondere bei Beginn der Ausübung der selbständigen Tätigkeit (vgl. hierzu BayVGH, Beschluss vom 29.06.2015 - 10 ZB
15.930). Insoweit steht der vom Antragsteller zu 1) in den ersten neun Monaten erzielte Umsatz von 380,00 EUR - '400,00 EUR
monatlich nicht der Annahme einer Ausübung einer selbständigen Tätigkeit i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU entgegen.
Sofern in der Rechtsprechung ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff (Urteil vom 04.02.2010 - C-14/09 Rechtssache Genc) eine Niederlassung verneint wird, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, deren Umfang sich als völlig
untergeordnet und unwesentlich darstellt (LSG NRW, Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.10.2014 - L 29 AS 2052/14 B ER; OVG Hamburg, Beschluss vom 21.06.2010 - 1 B 137/10), spricht dies im vorliegenden Fall nicht durchgreifend gegen die Annahme eines Aufenthaltsrechts i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU. Das Vorhandensein von sehr wenigen Aufträgen kann im Rahmen einer Gesamtbewertung ein Anhaltspunkt für eine nur untergeordnete
und unwesentliche selbständige Tätigkeit sein. Bei der Frage der Unwesentlichkeit ist aber zu berücksichtigen, dass es, wenn
ein Gewerbebetrieb - wie im vorliegenden Fall - nicht übernommen, sondern neu eröffnet wird, oftmals einer längeren Anlauf-
und Aufbauphase bedarf, bis der Betrieb sich trägt (OVG Bremen, Beschluss vom 21.06.2010 - 1 B 137/10, BayVGH, Beschluss vom 29.06.2015 - 10 ZB 15930). Wann eine Tätigkeit sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt,
ist auch bislang in der Rechtsprechung weder beim Arbeitnehmerstatus noch bei dem Selbstständigenstatus geklärt. Im Hinblick
auf den erzielten Umsatz von 380,00 - 400,00 EUR monatlich in den ersten neun Monaten spricht nach Auffassung des Senats unter
Würdigung der Tatsache, dass der Betrieb des Antragstellers zu 1) sich im Aufbau befindet und nach dessen Angaben kaum Betriebskosten
anfallen und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass bei Arbeitnehmern bei einem Entgelt von 380,00 - 400,00 EUR monatlich
ihr Arbeitnehmerstatus nicht in Frage gestellt wird, mehr gegen als für die Annahme einer untergeordneten und unwesentlichen
Tätigkeit.
Als Familienangehörige eines Selbständigen i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind die Antragsteller zu 2) bis zu 6) nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt.
2. Im Hinblick auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II haben die Antragsteller Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund für die Zeit vom 01.06.2015 bis zum 30.09.2015 glaubhaft gemacht.
Ein Anordnungsanspruch betreffend die Bedarfe nach § 22 SGB II ist für den Zeitraum ab dem 01.06.2015 glaubhaft gemacht. Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2, und 4 SGB II sowie die des § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II sind gegeben. Auch ist Hilfebedürftigkeit der Antragsteller i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9, 12 SGB II für die Zeit ab dem 01.05.2015 glaubhaft gemacht. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. Im April 2015
sind die Antragsteller jedoch nicht hilfebedürftig gewesen, da durch den Zufluss der Kindergeldnachzahlung i.H.v. 3.092,00
EUR ihr Bedarf von insgesamt 2.380,00 EUR gedeckt gewesen ist.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund für die Bedarfe nach § 22 SGB II für die Zeit vom 01.06.2015 bis zum 30.09.2015 glaubhaft gemacht. Die Vermieterin hat das Mietverhältnis wegen der Mietrückstände
betreffend die Monate März, April und Juni 2015 fristlos gekündigt und im September 2015 Räumungsklage erhoben. Damit haben
die Antragsteller eine konkrete Gefährdung ihrer Unterkunft aufgrund von Mietschulden glaubhaft gemacht. Hinsichtlich des
Bedarfes nach § 22 SGB II für Mai 2015 ist eine aktuelle Notlage allerdings nicht erkennbar, da insoweit keine Mietschulden bestehen. Da die Vermieterin
ihre Kündigung des Mietverhältnisse auch auf den Mietrückstand für den Monat Juni 2015 stützt, wirkt die Nichtgewährung der
begehrten Kosten für Unterkunft und Heizung vor der Antragstellung bei Gericht am 07.07.2015 noch fort, so dass rückwirkend
vom Antragsgegner die Bruttomiete für Juni 2015 zu übernehmen ist.
3. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren nach §
73a Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §§
114 ff.
ZPO liegen vor. Prozesskostenhilfe steht - bei Vorliegen der Voraussetzung nach §§
73 a Abs.
1 S. 1
SGG,
114 ZPO im Übrigen - auch unter dem Gesichtspunkt zu, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht geboten
hat. Bei der Frage der Anwendung und Auslegung des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine schwierige, ungeklärte Rechtsfrage (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 03.08.2015 - L 19 AS 1284/15 B). Die Prozesskostenhilfe wird ab dem Zeitpunkt der Antragstellung - dem 06.10.2015 - bewilligt.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).