Regelaltersrente
Beschäftigungszeiten in einem Ghetto
Verfristeter Widerspruch
Nichterfüllung der Wartezeit
Tatbestand
In der Hauptsache begehrt der Kläger die Gewährung einer Regelaltersrente aufgrund von Arbeitszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung
von Renten aus Beschäftigungen aus einem Ghetto (ZRBG).
Der am 00.00.1937 in Mogilev-Podolsk, Ukraine, geborene Kläger ist jüdischen Glaubens und Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes
(BEG). Am 27.11.1992 wanderte er nach Israel ein. Dort hat er nach Auskunft der israelischen Nationalversicherung keine Beiträge
zur israelischen Nationalversicherung entrichtet.
Einen Antrag des Klägers vom 02.06.2003 auf Bewilligung einer Regelaltersrente aufgrund von Ghettobeitragszeiten lehnte die
Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 26.11.2003 ab, da der Kläger keine auf die Wartezeit anrechenbaren Zeiten zurückgelegt
habe. Da er am 00.00.1937 geboren sei, sei bereits aufgrund des damaligen Lebensalters nicht davon auszugehen, dass er Arbeitszeiten
in einem Ghetto zurückgelegt habe.
Im August 2010 leitete die Beklagte nach Änderung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Überprüfung von Amts wegen
ein. Der Kläger gab an, von August 1941 bis März 1944 im Ghetto Mogilev-Podolsk Hilfsarbeiten in einer Mühle, einer Ölfabrik
und im Gemüselager verrichtet zu haben. Arbeitgeber sei der Judenrat gewesen. Nach Beiziehung einer Auskunft der israelischen
Nationalversicherung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21.04.2011 die Bewilligung einer Regelaltersrente ab. Der Kläger
habe die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt. Er habe nur 32 auf die Wartezeit anrechenbare Monate. Dem Bescheid
beigefügt war ein Versicherungsverlauf. Hierin sind für den Versicherten Pflichtbeitragszeiten vom 30.08.1941 bis zum 08.03.1944
gespeichert.
Mit Schreiben vom 16.05.2011, bei der Beklagten eingegangen am 17.04.2012 legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung
führte er aus, dass er schon im Rentenalter nach Israel gekommen sei und aufgrund seines Alters keine Beiträge für die Rentenversicherung
in Israel habe zahlen können. Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.10.2012 als unzulässig
zurück. Der am 21.04.2011 zur Post gegebene Bescheid gelte als am 28.04.2011 als bekannt gegeben. Der Widerspruch hätte spätestens
am 27.07.2011 (ggf. erster Werktag nach Ablauf der Monatsfrist) eingehen müssen. Die dreimonatige Widerspruchsfrist sei nicht
gewahrt.
Der Kläger hat am 28.11.2012 Klage erhoben. Er habe seinen Widerspruch so spät abgeschickt, weil er so lange keinen Übersetzer
habe finden können. Die Nichteinhaltung der Wartezeit sei kein stichhaltiger Grund, weil sonst alle Anträge auf Ghettorente
abgelehnt werden müssten. Der Krieg gegen das faschistische Deutschland sei in weniger als vier Jahren beendet worden.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid vom 02.05.2013 die Klage abgewiesen und sich zur
Begründung auf die Ausführungen der Beklagten in dem Widerspruchsbescheid bezogen. Ergänzend hat es ausgeführt, dass die "Bekanntgabefiktion"
des § 37 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) mangels anderweitigen Vortrags des Klägers nicht entkräftet worden sei. Zudem müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger
den Bescheid spätestens am 16.05.2011 tatsächlich erhalten habe, da die Widerspruchsbegründung dieses Datum trage. Es liege
auch kein Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen vor. Der Kläger sei nicht ohne sein Verschulden
daran gehindert gewesen, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Die Suche nach einem Dolmetscher könne bei lebensnaher Auslegung
kein Grund für die Überschreitung der dreimonatigen Widerspruchsfrist sein. Vielmehr sei davon auszugehen, dass auch in Israel
innerhalb kurzer Zeit ein Dolmetscher hätte gefunden werden können. Dies insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsachen,
dass der Kläger in einem Ballungszentrum (Jerusalem) wohne und die Widerspruchsbegründung tatsächlich erst im April 2012 -
also ca. ein Jahr nach Erhalt des Bescheids - vorgelegen habe. Letztlich hätte dem Kläger aber auch bewusst sein müssen, dass
eine Übersetzung nicht notwendig sei, da die Beklagte im Rahmen ihrer Amtsermittlungspflicht in eigener Verantwortung einen
Dolmetscher hätte bestellen müssen. Zumindest zur Fristwahrung wäre dem Kläger ein Widerspruch in seiner Heimatsprache zuzumuten
gewesen.
Der Kläger hat am 28.05.2013 Berufung eingelegt. Die Begründung der Beklagten, dass für die Gewährung einer Rente die allgemeine
Wartezeit von fünf Jahren nicht erfüllt sei, sei nicht stichhaltig. Danach hätte kein einziger Holocaust Überlebender aus
der Sowjetunion einen Anspruch auf Ghettorente, weil der Krieg von Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion am 22.06.1941 begonnen
und am 09.05.1945 geendet habe, somit weniger als fünf Jahre gedauert habe. Das Bundessozialgericht in Kassel habe daher die
Mindestzeit des Aufenthalts im Ghetto auf sechs Monate begrenzt. Die Frist für seinen Widerspruch von drei Monaten habe er
nicht einhalten können, weil er so lange einen Dolmetscher gesucht habe. Im Übersetzerverband von Israel gebe es leider nur
zwei Dolmetscher mit der Sprachenkombination Deutsch und Russisch.
Der Kläger beantragt sinngemäß schriftsätzlich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.05.2013 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
vom 21.04.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2012 zu verurteilen, ihm Regelaltersrente nach Maßgabe
der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Prozessakte und der den Kläger betreffenden
Verwaltungsakte der Beklagten (Az.: 000) verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Widerspruch unzulässig war,
da er nach Ablauf der dreimonatigen Widerspruchsfrist eingelegt worden ist.
Angefochten ist der Gerichtsbescheid vom 02.05.2011. Zwar ist der Zugang des Anhörungsschreibens nicht nachgewiesen, jedoch
hat der Kläger eine unterbliebene Anhörung nicht gerügt (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl. 2014, §
105 Rdz 12).
Nach §
84 Abs
1 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakte den Beschwerden bekanntgegeben worden ist, schriftlich
oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Frist beträgt bei Bekanntgabe
im Ausland drei Monate. Der Bescheid der Beklagten vom 21.04.2011 wurde dem Kläger spätestens am 16.05.2011 bekannt gegeben.
Unter diesem Datum hat er seinen Widerspruch verfasst. Dies wird von dem Kläger auch nicht bestritten.
Ausgehend hiervon endete die Widerspruchsfrist am 16.08.2011. Der Widerspruch ist jedoch erst acht Monate später am 17.04.2012
eingegangen.
Dem Kläger war auch nicht nach der Regelung des §
67 Abs
1, Abs
2 S 4
SGG, die nach §
84 Abs
2 S 3
SGG auch im Widerspruchsverfahren gilt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen zu gewähren. Es ist nicht erkennbar,
dass der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die Verfahrensfrist einzuhalten. Es überzeugt nicht, wenn der Kläger vorträgt,
dass er nicht in der Lage gewesen sei, in Israel einen Dolmetscher der Sprachenkombination Deutsch - Russisch zu finden. Aus
welchen Gründen dies elf Monate gedauert haben soll, ist nicht nachvollziehbar, auch unter Berücksichtigung des Vortrages
des Klägers, in Israel gäbe es in der Übersetzervereinigung nur zwei Dolmetscher mit dieser Sprachenkombination.
Selbst wenn der Senat zu Gunsten des Klägers davon ausginge, dass dieser ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert
war, hätte die Berufung keinen Erfolg. Sie wäre unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente,
denn er hat die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt.
Nach §
35 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeine Rentenversicherung - (
SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie erstens die Regelaltersgrenze erreicht und zweitens die allgemeine
Wartezeit erfüllt haben. Der am 20.03.1937 geborene Kläger hat die Regelaltersgrenze von 65 Jahren nach § 235 Abs 2 S 1 SBG VI am 19.03.2002 erreicht. Er hat jedoch nicht die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten erfüllt, denn er hat nur 32 Monate
rentenrechtlicher Zeiten, die auf die Wartezeit anrechenbar sind. Nach §
50 Abs
1 Ziff 1
SGB VI ist die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren Voraussetzung für einen Anspruch auf Regelaltersrente. Auf die
allgemeine Wartezeit werden nach §
51 Abs
1 SGB VI Kalendermonate mit Beitragszeiten und nach §
50 Abs
4 SGB VI Kalendermonate mit Ersatzzeiten angerechnet. Der Kläger verfügt jedoch nur über 32 Monate, die mit Beitragszeiten nach den
ZRBG belegt sind. Die Beklagte hat - entsprechend dem Vortrag des Klägers, er habe von August 1941 bis März 1944 in dem Ghetto
Mogilev-Podolsk gearbeitet - Pflichtbeitragszeiten von August 1941 bis März 1944 festgestellt. Weitere anrechenbare Beitrags-
oder Ersatzzeiten liegen nicht vor. Der 1992 nach Israel eingewanderte Kläger hat dort keine Beiträge zur israelischen Nationalversicherung
entrichtet, die auf Grund des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens auf die Wartezeit hätten angerechnet werden
können. Die von dem Kläger eventuell in der UdSSR bzw. Ukraine zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten sind mangels Sozialversicherungsabkommens
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesen Staaten nicht berücksichtigungsfähig.
Der Kläger kann die Wartezeit auch nicht durch Ersatzzeiten erfüllen. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Kläger
nach Vollendung des 14. Lebensjahres den allein hier in Betracht kommenden Ersatzzeittatbestand des § 250 Abs 1 Ziff 4 erfüllt.
Danach sind Ersatzzeiten Zeiten vor dem 01. Januar 1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte
nach vollendetem 14. Lebensjahr in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§ 43,
47 Bundesentschädigungsgesetz) oder im Anschluss an solche Zeiten wegen Krankheit, arbeitsunfähig oder unverschuldet arbeitslos
gewesen sind oder infolge Verfolgungsmaßnahmen
a) arbeitslos gewesen sind, auch wenn sie der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung gestanden haben, längstens aber die Zeit
bis zum 31.12.1946, oder
b) bis zum 30.06.1945 ihren Aufenthalt in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze
oder danach in Gebieten außerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsgesetze nach dem Stand vom 30.06.1945 genommen
oder einen solchen beibehalten haben, längstens aber die Zeit bis zum 31.12.1949, wenn sie zum Personenkreis des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes
gehören (Verfolgungszeit).
Der Kläger vollendete das 14. Lebensjahr am 19.03.1951. Anhaltspunkte, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig
oder unverschuldet arbeitslos war, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs
1 und
2 SGG nicht erfüllt sind.