Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Gewährung von Leistungen nach SGB II für EU-Bürger
Kein Eingreifen des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II
Annahme der Arbeitnehmereigenschaft angesichts einer geringfügigen Beschäftigung des Antragstellers (hier Erzielung eines
monatlichen Einkommens von ca. 150 EUR)
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) an den Antragsteller.
Der Antragsteller ist im Oktober 1980 geboren und besitzt die griechische Staatsangehörigkeit.
Nach seinen Angaben ist er in der Bundesrepublik Deutschland geboren und lebte dort bis zum Jahr 2003. Im Jahr 2003 verzog
er in die Niederlande um dort zu arbeiten. In dem dortigen Restaurant seiner Eltern erlitt er im Jahr 2008 einen schweren
Unfall mit erheblichen Verbrennungen. Im Mai 2015 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er lebte zunächst in N,
zog dann im Juli 2015 zu seiner Familie nach L und wohnt seitdem in der Wohnung einer Tante. Im August 2015 beantragte er,
nachdem er vom Sozialamt der Stadt L an das Jobcenter verwiesen worden war, Leistungen nach dem SGB II bei dem Antragsgegner. Mit Bescheid vom 18.8.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers ab. Zu Begründung
führte er aus, dass kein Leistungsanspruch bestehe, da sich der Antragsteller lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland
aufhalte. Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein.
Am 26.8.2015 beantragte der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht. Die Ablehnung durch
den Antragsgegner sei nicht rechtmäßig. Es sei umstritten, ob der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstoße. Im Hinblick hierauf müsse die vom Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren
anzustellende Folgenabwägung zu einer Leistungsgewährung führen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners sei er auch nicht
erwerbsunfähig. Ab dem 1.9.2015 übe er eine geringfügige Beschäftigung aus. Der Antragsteller hat mehrere Bewerbungen sowie
einen Arbeitsvertrag vorgelegt. Aus dem Arbeitsvertrag geht hervor, dass das Arbeitsverhältnis am 1.9.2015 begann. Es wurde
auf unbestimmte Zeit geschlossen. Die ersten sechs Monate wurden als Probezeit vereinbart. Als Arbeitsvergütung wurde eine
monatliche Bruttovergütung von 148,75 EUR/ Stundenlohn von 8,50 EUR vereinbart. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit sollte
vier Stunden betragen. In dem Arbeitsvertrag war weiter vereinbart, dass der Antragsteller einen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen
im Kalenderjahr habe. Im Falle unverschuldeter Krankheit und Arbeitsunfähigkeit bestehe Anspruch auf Fortzahlung der Arbeitsvergütung
bis zur Dauer von sechs Wochen nach den gesetzlichen Bestimmungen. Der Antragsteller legte weiter die Lohnabrechnungen aus
den Monaten September und Oktober vor. Danach betrug der Verdienst jeweils 148,75 EUR. Nach einer Erkrankung des Klägers vom
26.10.2015 bis zum 15.11.2015 und einem stationären Aufenthalt im Krankenhaus kündigte der Arbeitgeber des Antragstellers
das Arbeitsverhältnis zum 30.11.2015.
Mit Beschluss vom 19.11.2015 hat das Sozialgericht den Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt. Die Voraussetzungen für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung lägen nicht vor. Der Antragsteller habe das Vorliegen eines Anordnungsanspruches
nicht glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II bestehe nicht. Der Antragsteller sei nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II als griechischer Staatsangehöriger von Leistungen ausgeschlossen. Er befinde sich zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik
Deutschland. Ein anderer Aufenthaltszweck sei nicht gegeben. Insbesondere sei der Antragsteller auch nicht Arbeitnehmer im
Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU. Der Antragsteller habe durch die Vorlage der Lohnabrechnungen zwar glaubhaft
gemacht, in den Monaten September und Oktober 2015 monatlich 148,75 EUR für eine Tätigkeit erhalten zu haben. Diese Tätigkeit
begründe zur Überzeugung des Gerichts keine Arbeitnehmereigenschaft im oben genannten Sinne. Abzustellen sei dabei auf den
unionsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 45 AEUV. Betrachte man das erzielte Einkommen und die vertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit sei die Tätigkeit als völlig
untergeordnet und unwesentlich zu werten. Die vertraglich vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit von ungefähr vier Stunden entspreche
einem Anteil von etwa 10 % der Arbeit eines voll Erwerbstätigen und auch das vereinbarte Entgelt sei als so geringfügig zu
betrachten, dass die Tätigkeit insgesamt nur eine untergeordnete Rolle spiele. Der Leistungsausschluss sei auch nicht wegen
Verstoßes gegen europarechtliche Vorschriften für den Antragsteller nicht anwendbar.
Am 24.11.2015 hat der Antragsteller Beschwerde erhoben. Es handele sich bei dem Beschäftigungsverhältnis um ein ordnungsgemäß
gemeldetes Arbeitsverhältnis. Soweit das Sozialgericht darauf abstelle, dass der Antragsteller lediglich eine monatliche Vergütung
i.H.v. 148,75 EUR erhalte, sei dies nicht zutreffend. Er erhalte an den Arbeitstagen von seinem Arbeitgeber kostenfrei auch
mittags und abends Essen. Zum Arbeitsbeginn werde er von seiner Mutter zum Arbeitgeber nach N gefahren. Dieser nehme ihn dann
zu seiner Arbeitsstelle in M mit und bringe ihn nach Arbeitsende auch zurück zu der Wohnung seiner Tante, wo er zurzeit schlafe.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19.11.2015 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung
zu verpflichten, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 26.08.2015 die ihm gesetzlich zustehende Regelleistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH könne zwar allein von einer bestimmten geringen Wochen- oder Monatsarbeitszeit,
einem nicht existenzsichernden Lohn oder dem Umstand, dass der Beschäftigte seine Arbeitskraft auf Abruf zu erbringen habe,
noch nicht auf eine völlig untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit geschlossen werden. Erst wenn im Rahmen der anzustellenden
Gesamtwürdigung mehrere Umstände bezüglich der Dauer und des wöchentlichen oder monatlichen Umfangs eine entsprechende Atypik
aufwiesen, könne von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit ausgegangen werden. Diese Abwägungen würden
dazu führen, die Beschäftigung hier als unwesentlich einzustufen. Eine Anstellung mit eingeschlossenem Fahrdienst und Verköstigung
im Restaurant stelle ganz offensichtlich ein Gefälligkeitsverhältnis dar, das sich von einem klassisch gelebten Arbeitsverhältnis
unterscheide. Dieses sei bei Eintreten der Erkrankung auch sofort beendet worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte
des Antragsgegners Bezug genommen; dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Das SG hat zu Unrecht den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Nach §
86b Abs.
2 S. 1
SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die
Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt
oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint
(§
86b Abs.
2 S. 2
SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt grundsätzlich voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden
Rechts (den so genannten Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den so genannten Anordnungsgrund)
glaubhaft macht (§
86 b Abs.
2 S. 4
SGG, §
920 Abs.
2 der
Zivilprozessordnung -
ZPO -).
Der Anordnungsanspruch ist jedenfalls für die Zeit vom 26.08.2015 bis zum 30.11.2015 glaubhaft gemacht.
Die Leistungsvoraussetzungen nach Maßgabe der §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 - 4; 8, 9 SGB II zum Alter, zur Erwerbsfähigkeit, zum gewöhnlichen Aufenthalt und zur Hilfebedürftigkeit erachtet das Gericht für den Antragsteller
als glaubhaft gemacht.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift angesichts der Erwerbstätigkeit des Antragstellers nicht. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Sozialgerichts,
die die geringfügige Beschäftigung als untergeordnet und unwesentlich erachtet haben, dürfte die Tätigkeit des Antragstellers
nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung in diesem Umfang sowohl nach Gemeinschaftsrecht
als auch nach nationalem Recht für die Annahme der Arbeitnehmereigenschaft ausreichen.
Wie der Antragsgegner zutreffend dargelegt hat, geht der EuGH davon aus, dass für die Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft
nicht auf eine feste Grenze bezüglich des zeitlichen Umfangs und der Entlohnung abzustellen ist. Unter Berücksichtigung der
europarechtlichen Rechtsprechung (vgl. insbesondere EuGH vom 04.02.2010 C -14/09, Genc, [...], mwN: Arbeit an 6 Stunden in
der Woche als Reinigungskraft bei einem monatlichen Einkommen in Höhe von 200,00 Euro) ist hier festzustellen, dass der Antragsteller
sowohl einen Arbeitsvertrag als auch entsprechende Lohnabrechnungen vorgelegt hat. In dem Arbeitsvertrag wurde eine regelmäßige
Arbeitszeit und eine angemessene Entlohnung vereinbart. Enthalten sind auch Regelungen zur Fortzahlung des Entgelts im Krankheitsfall
sowie zum Urlaubsanspruch. Die Tatsache, dass der Arbeitgeber dem Antragsteller zum 30.11.2015 gekündigt hat spricht nach
Auffassung des Senats gerade nicht für ein "Gefälligkeitsarbeitsverhältnis". Auch der Umstand, dass der Arbeitgeber den Antragssteller
in seinem PKW zum Arbeitsort mitgenommen hat, spricht nach summarischer Prüfung nicht dafür, dass hier kein reguläres Arbeitsverhältnis
vorlag.
Anknüpfungspunkte für die Frage, ob die Beschäftigung noch einen beachtenswerten Umfang hat, sieht der Senat auch im nationalen
Recht. Unter Heranziehung von Umständen, die innerhalb des deutschen Sozialleistungsrechts an anderer Stelle noch für bedeutsam
angesehen werden, ist dabei beispielhaft auf das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung hinzuweisen. Dort wird für die
Frage, ob ein für die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente zuvor bezogener Unterhalt bedeutsam ist, ein Betrag in Höhe von
25% des zeitlich und örtlich maßgeblichen Regelsatzes zugrundegelegt (vgl. LSG NRW Beschluss vom 30.01.2008 - L 20 B 76/07 SO ER mwN). Im vorliegenden Fall erzielt der Antragsteller mit ca. 150 Euro ein Einkommen, das im Rahmen einer Bewilligung
von Leistungen nach dem SGB II über dem anrechnungsfreien Betrag von 100 Euro liegt und fast 40 % des maßgeblichen Regelsatzes ausmacht.
Für die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung der Leistungen besteht auch ein Anordnungsgrund. Dem Antragsteller
drohen ohne eine einstweilige Anordnung schwerwiegende Nachteile, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr abgewendet
werden können.
Hinsichtlich des Regelbedarfs folgt dies für die in der Vergangenheit hingenommenen Beeinträchtigungen schon aus dem unmittelbaren
Grundrechtseingriff (Art.
1 Abs.
1 GG), der durch die Verweigerung der zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs erforderlichen Mittel entsteht. Der Senat hat die
Gewährung der ausschließlich beantragten Regelleistung auf den Zeitraum bis zum 30.11.2015 beschränkt. Für die Zeit ab 01.12.2015
ist der Antragsteller nach der Rechtsprechung des BSG vom 03.12.2015 (vgl. Terminsbericht des BSG vom 03.12.2015) auf Leistungen des SGB XII-Trägers zu verweisen. Diese hat er nach den Angaben des Prozessbevollmächtigten auch zeitnah nach der Entscheidung vom 03.12.2015
beantragt.
Dem Antragsteller war gem. §
73 a SGG i.V.m. §
114 ZPO für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten zu bewilligen.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).