Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
Rechtsqualität einer abschließenden Feststellung im Sinne von § 41a Abs. 3 S. 4 SGB II
Rechtswidrigkeit der Feststellung nach der Vorlage relevanter Unterlagen
Abgrenzung zur Versagung im Sinne von § 66 SGB I
Tatbestand
Der Kläger wendete sich gegen eine Nullfestsetzung von zuvor vorläufig bewilligten Leistungen für Dezember 2016 bis Mai 2017.
Umstritten ist zwischen den Beteiligten die nachträgliche Berücksichtigung von im Klageverfahren vorgelegten Unterlagen.
Der am 00.00.1966 geborene Kläger ist alleinstehend. Er übte im streitigen Zeitraum eine selbständige Tätigkeit aus. Zuletzt
vor dem streitigen Zeitraum bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 17.05.2016 vorläufig Leistungen von Juni 2016 bis November
2016 iHv monatlich 655 €. Nachdem der Kläger die für die endgültige Festsetzung erforderlichen Angaben gemacht hatte, setzte
der Beklagte die Leistungen mit Bescheid vom 06.03.2017 endgültig iHv 398,22 € monatlich unter Anrechnung von Einkommen iHv
332,78 € monatlich fest.
Im Oktober 2016 beantragte der Kläger die Weiterbewilligung der Leistungen. Er gab Unterkunftskosten iHv insgesamt 318 € an
und legte eine vorläufige EKS-Erklärung mit einem geschätzten monatlichen Gewinn iHv 58 € vor. Mit Bescheid vom 21.11.2016
bewilligte der Beklagte von Dezember 2016 bis Mai 2017 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts iHv monatlich
408,16 €. Er setzte - abweichend von der Erklärung des Klägers - anzurechnendes Einkommen iHv monatlich 313,84 € an und berücksichtigte
dabei den Durchschnittsgewinn der Monate August 2016 bis Oktober 2016. Mit Änderungsbescheid vom 26.11.2016 bewilligte der
Beklagte bei ansonsten unveränderten Verhältnissen ab Januar 2017 weiter vorläufig monatlich 413,16 € (Regelsatzerhöhung ab
01.01.2017).
Mit Schreiben vom 21.11.2017 forderte der Beklagte den Kläger auf, zur abschließenden Prüfung des Leistungsanspruchs von Dezember
2016 bis Mai 2017 die abschließende EKS-Erklärung, monatliche betriebswirtschaftliche Auswertungen, die entsprechenden Summen-
und Saldenlisten sowie Nachweise ("Rechnungen, Quittungen, Kontoauszüge, Fahrtenbuch etc") zum Beleg der Angaben vorzulegen.
Der Beklagte erteilte folgende Rechtsfolgenbelehrung:
"Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind und Änderungen
in den Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen (§
60 SGB I). Haben Sie bis zu dem genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, können die Geldleistungen
ganz versagt werden, bis Sie die Mitwirkung nachholen (§§
60,
66,
67 SGB I). Dies bedeutet, dass Sie keine Leistungen erhalten".
Mit Schreiben vom 15.12.2017 und 05.01.2018 erinnerte der Beklagte an die Aufforderung und forderte ergänzend die Kontoauszüge
aller Konten für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 an. Der Beklagte setzte zuletzt eine Frist bis zum 22.01.2018 und
wiederholte die o.a. Rechtsfolgenbelehrung. Allen Anforderungsschreiben war der Gesetzestext der §§
60,
66 und
67 SGB I beigefügt.
Am 22.01.2018 ging die Anlage EKS bei dem Beklagten ein, die nur teilweise Gewinne auswies.
Mit Bescheid vom 31.01.2018 setzte der Beklagte - ausdrücklich gestützt auf § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II - die Leistungen von Dezember 2016 bis Mai 2017 "auf 0,00 €" fest. Der Kläger habe nicht alle vom Beklagten verlangten Unterlagen
übersandt. Der Kläger legte am 14.02.2018 Widerspruch ein und kündigte die Nachreichung von Unterlagen an. Mit Widerspruchsbescheid
vom 29.03.2018 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Rechtsgrundlage für den Bescheid sei § 41a Abs. 3 SGB II. Der Kläger habe nur die EKS- Erklärung, nicht aber die weiteren Unterlagen vorgelegt. Mit Bescheid vom 09.04.2018 forderte
der Beklagte die Erstattung der Leistungen für den streitigen Zeitraum iHv 2.473,96 €. Das Widerspruchsverfahren gegen diesen
Bescheid ruht.
Am 23.04.2018 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen Klage erhoben und die vom Beklagten in dem Schreiben vom
05.01.2018 angeforderten Unterlagen beigefügt. Der Kläger hat behauptet, er habe diese Unterlagen bereits im Widerspruchsverfahren
persönlich beim Beklagten vorgelegt.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen,
über seinen den endgültigen Leistungsanspruch für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 neu zu entscheiden.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Kläger habe die maßgeblichen Unterlagen erst im Klageverfahren vorgelegt. Deren Berücksichtigung sei gem. § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II ausgeschlossen. Eine Nachholung der Mitwirkung entsprechend §
67 SGB I sei gesetzlich nicht vorgesehen.
Das Sozialgericht hat den Steuerberater L H als Zeugen gehört. Dieser hat bekundet, er habe die Unterlagen mehrfach fertiggestellt
und Anfang 2018 dem Kläger mitgegeben, weil dieser die Unterlagen beim Jobcenter habe abgeben wollen. Im Klageverfahren habe
er dann nochmals am 20.04.2018 die Unterlagen übersandt. Der Kläger hat erklärt, er habe die Unterlagen beim Info-Point des
Beklagten abgegeben.
Mit Urteil vom 25.07.2019 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.01.2018 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 zur Neubescheidung verurteilt. Zwar sei der angefochtene Bescheid gem. § 41a Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB II ursprünglich rechtmäßig gewesen. Der Kläger habe nicht nachweisen können, dass er die angeforderten Unterlagen beim Beklagten
im Rahmen des Widerspruchsverfahrens abgegeben hat. Durch die Vorlage der Unterlagen im Klageverfahren sei der Bescheid jedoch
rechtswidrig geworden. Bei § 41a Abs. 3 SGB II handele es sich nicht um eine Präklusionsvorschrift mit Ausschlusswirkung. Dies ergebe sich auch aus verfassungsrechtlichen
Erwägungen, eine abweichende Interpretation verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Grundrecht auf Gewährleistung
des menschenwürdigen Existenzminimums und Freiheitsrechte. Zudem bestehe ein Wertungswiderspruch dazu, dass außerhalb des
Anwendungsbereichs von § 41a Abs. 3 SGB II endgültig festgesetzte Leistungen im Wege des § 44 SGB X bei nachträglicher Vorlage von Unterlagen korrigiert werden könnten.
Gegen das am 02.09.2019 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 12.09.2019 Berufung erhoben. Er trägt ergänzend zu seinem erstinstanzlichen
Vorbringen vor, das Urteil leide an einem Verfahrensmangel, weil er zur Neubescheidung verpflichtet worden sei. Dies sei außerhalb
des Anwendungsbereichs von §
131 Abs.
5 SGG unzulässig.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts vom 25.07.2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den
angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Einer Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung
bedarf es allerdings nicht, so dass der Tenor klarstellend neu zu fassen war.
Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018.
Nicht Gegenstand des Verfahrens ist der Erstattungsbescheid vom 09.04.2018, den der Kläger mit einem gesonderten Widerspruch
angefochten hat.
Zutreffende Klageart ist die Anfechtungsklage (so auch SG Leipzig Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17). Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich nicht um eine Entscheidung über den Leistungsanspruch selbst, sondern -
ähnlich wie beim Versagungsbescheid gem. §
66 SGB I - lediglich um eine das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung ohne materiell-rechtlichen Gehalt (so auch SG Leipzig
Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17; Kemper in Eicher/Luik SGB II § 41a Rn. 49). Der Beklagte hat seine Entscheidung ausdrücklich auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gestützt. Diese Vorschrift ermöglicht eine formell abschließende Bescheidung gerade in den Fällen, in denen wegen fehlender
Angaben des Betroffenen keine materiell-rechtliche Entscheidung über die Höhe des Leistungsanspruchs unter Beachtung der Kriterien
des § 19 Abs. 3 SGB II möglich ist. Für eine derartige begrenzte Regelungswirkung von § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II sprechen auch die Gesetzesmaterialien. Nach der Begründung der Einfügung von § 41a Abs. 3 SGB II zum 01.08.2016 durch das 9. SGB II-ÄndG v. 26.07.2016 (BGBl I, 1824) wird - sofern die leistungsberechtigte Person trotz angemessener Fristsetzung ihren Nachweisobliegenheiten
bis zur abschließenden Entscheidung und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht oder nicht vollständig nachkommt
- der Leistungsanspruch in den einzelnen Leistungsmonaten abschließend "nur in der Höhe festgestellt, soweit dies ohne die
Mitwirkung der Leistungsberechtigten möglich ist" (BT-Dr. 18/8041, S. 53). Der Gesetzgeber hat damit erkannt, dass die Feststellung
des Leistungsanspruchs durch einen auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gestützten Bescheid hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurückbleiben kann. Allein eine solche Auslegung entspricht verfassungsrechtlichen
Vorgaben: Die Festsetzung der Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II hat den Vorgaben zur Höhe des menschenwürdigen Existenzminimums zu entsprechen (hierzu zuletzt BVerfG Urteil vom 05.11.2019
- 1 BvL 7/16). Es gibt hiernach einen Mindestanspruch, der der Disposition durch den Gesetzgeber entzogen ist und dessen Zubilligung verfassungsrechtlich
garantiert ist. Die Höhe dieses Anspruchs richtet sich nach dem existenziellen Bedarf und den dem Betroffenen zur Bedarfsdeckung
zur Verfügung stehenden Mitteln, nicht danach, ob er seinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten fristgerecht
nachgekommen ist. Jedenfalls eine verfassungskonforme Auslegung ergibt damit die begrenzte Regelungswirkung des § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II dahingehend, dass es sich allein um eine Legitimation für das Jobcenter handelt, das Verwaltungsverfahren formell abzuschließen,
nicht aber den materiell-rechtlich zustehenden Anspruch irreversibel auf Null festzusetzen.
Aus der Rechtsprechung des BSG folgt nicht Abweichendes. Zwar hat das BSG im Urteil zur Beachtlichkeit von bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides nachgereichten Unterlagen vom 12.08.2019 (B 4 AS 39/17 R) einen auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gestützten Nullfestsetzungsbescheid als "Leistungsbescheid" bezeichnet. Es hat in der Nullfestsetzung aber dessen ungeachtet
keine materiell-rechtliche Entscheidung über den Leistungsanspruch gesehen, was daran zu erkennen ist, dass das BSG sich nicht mit der ansonsten zwingenden Frage beschäftigt hat, warum der erstinstanzlich isoliert auf Aufhebung und Neubescheidung
gerichtete Klageantrag (vergl. hierzu den Tatbestand im der Revisionsentscheidung zugrundeliegenden Urteil des SG Berlin vom
25.09.2017S 179 AS 6737/17: Antrag "die Bescheide des Beklagten über die endgültige Festsetzung und Erstattung vom 28. März 2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide
vom 26. April 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, über den endgültigen Leistungsanspruch des Klägers für die
Zeit von Dezember 2014 bis August 2016 neu zu entscheiden") zulässig war und auch das BSG selbst in diesem Sinne tenoriert hat. Würde man einen auf § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gestützten Bescheid als endgültigen Leistungsbescheid ansehen, wären ein solcher Klageantrag und eine solche Tenorierung
wegen eines fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Denn der Rechtsschutzsuchende hat die Klageart zu wählen, die ihm
seinem Rechtsschutzziel am nächsten bringt. Kann er also auf Leistung klagen, ist eine Klage auf Leistung einer Klage auf
Neubescheidung - die hinter dem Leistungsausspruch zurückbleibt - vorzuziehen (BSG Urteil vom 18.09.2012 - B 2 U 15/11 R zum Vorrang der Anfechtungs- und Verpflichtungs- bzw. Leistungsklage vor der isolierten Anfechtungsklage). Der vom BSG im Urteil vom 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R gewählte Tenor ist also nur dann zulässig, wenn man in dem Festsetzungsbescheid nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II gerade keinen abschließenden Leistungsbescheid sieht, sondern - wie beim Versagungsbescheid nach §
66 SGB I (dazu BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 78/08 R mwN) - ihn als rein verfahrensrechtliche Entscheidung behandelt.
Der auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides und Verpflichtung zur Neubescheidung gerichtete Antrag des Klägers ist interessengerecht
entsprechend eingeschränkt als reiner Anfechtungsantrag auszulegen. Hiergegen bestehen keine Bedenken, weil der Beklagte nach
Aufhebung des angefochtenen Nullfestsetzungsbescheides zur Neubescheidung der bisher nur vorläufig festgesetzten Leistungen
verpflichtet ist und das Rechtsschutzziel des Klägers damit auch bei einer isolierten Anfechtungsklage erreicht wird. Die
Regelung des § 41a Abs. 5 Satz 1 SGB II ("Ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach Absatz 3, gelten
die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt") steht einem Neubescheidungsanspruch nach Aufhebung der
Nullfestsetzung nicht entgegen. Denn diese Fiktionswirkung tritt nur ein, wenn der Grundsicherungsträger bis zu dem jeweils
maßgebenden Zeitpunkt einen abschließenden Leistungsbescheid tatsächlich nicht erlassen, also jede Regelung zur endgültigen
Leistungsbestimmung unterlassen hat. Nur daran kann die Vertrauensschutzwirkung der Regelung anknüpfen (BSG Urteil vom 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R; Grote-Seifert in JurisPK SGB II § 41a Rn. 64).
Die so ausgelegte Klage ist begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29.03.2018 aufgehoben.
Der Bescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.03.2018 ist von Beginn an rechtswidrig. Einzig
in Betracht kommende Rechtsgrundlage ist § 41a Abs. 3 SGB II. Hiernach gilt: "Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheiden abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch,
sofern die vorläufig bewilligte Leistung nicht der abschließend festzustellenden entspricht oder die leistungsberechtigte
Person eine abschließende Entscheidung beantragt. Die leistungsberechtigte Person und die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden
Personen sind nach Ablauf des Bewilligungszeitraums verpflichtet, die von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende
zum Erlass einer abschließenden Entscheidung geforderten leistungserheblichen Tatsachen nachzuweisen; die §§
60,
61,
65 und
65a des
Ersten Buches gelten entsprechend. Kommen die leistungsberechtigte Person oder die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen ihrer
Nachweis- oder Auskunftspflicht bis zur abschließenden Entscheidung nicht, nicht vollständig oder trotz angemessener Fristsetzung
und schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht fristgemäß nach, setzen die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende
den Leistungsanspruch für diejenigen Kalendermonate nur in der Höhe abschließend fest, in welcher seine Voraussetzungen ganz
oder teilweise nachgewiesen wurden. Für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand."
Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist eröffnet, denn der Kläger hatte für den streitbefangenen Zeitraum zunächst vorläufig
Leistungen nach § 41a Abs. 1 SGB II erhalten. Auch konnte der insoweit beweisbelastete Kläger nicht nachweisen, im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren neben
der EKS-Erklärung auch die weiteren entscheidungserheblichen Unterlagen vorgelegt zu haben.
Indes hat der Beklagte den Kläger nicht iSd § 41a Abs. 3 Satz 3 SGB II über die Rechtsfolgen belehrt. Eine Rechtsfolgenbelehrungen als Voraussetzung für eine Leistungsminderung muss konkret, verständlich,
richtig und vollständig sein (BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 92/09 R zum Sanktionsrecht). Die dem Kläger erteilte Belehrung bezieht sich ausdrücklich auf den Erlass eines Versagungsbescheides
nach §
66 SGB I, nicht auf den dann ergangenen Nullfestsetzungsbescheid nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II. Hierbei handelt es sich nicht bloß um eine irrtümliche Benennung einer falschen Rechtsgrundlage bei ansonsten zutreffendem
Inhalt, sondern der Inhalt der Rechtsfolgenbelehrung selbst ist falsch. Indem der Beklagte auch auf §
67 SGB I verwiesen, diese Vorschrift zur Information im Wortlaut beigefügt und die Möglichkeit einer Nachholung der Mitwirkung ausdrücklich
erwähnt hat, hat er den (für eine Entscheidung nach §
66 SGB I zutreffenden) Eindruck erweckt, die Mitwirkung könne auch nachträglich erfolgen, was zu einer nachträglichen Erbringung der
versagten Leistung führe. Damit hat der Beklagte über eine Rechtsfolge belehrt, die nach seiner Rechtsauffassung aber gerade
nicht gegeben sein soll.
Selbst wenn man - mit dem Sozialgericht - der Meinung ist, die Rechtsfolgenbelehrung sei ausreichend, ist der angefochtene
Bescheid jedenfalls durch die Vorlage der angeforderten Unterlagen im gerichtlichen Verfahren (Schriftsatz vom 20.04.2018)
rechtswidrig geworden.
Der nachträgliche Eintritt der Rechtswidrigkeit ist beachtlich. Dem steht der Umstand, dass zulässige Klageart die Anfechtungsklage
ist und deren Begründetheit sich grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung
richtet, nicht entgegen. Die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage bestimmt sich
nach dem materiellen Recht. Ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig ist und einen Kläger
in seinen Rechten verletzt und dieser deshalb im Wege der Anfechtungsklage verlangen kann, dass das Gericht den Verwaltungsakt
aufhebt, ist keine Frage des Prozessrechts. Für die Festlegung des maßgeblichen Zeitpunkts ist es deshalb im Ergebnis nicht
entscheidend, dass es sich bei der Klage um eine reine Anfechtungsklage handelt. Der Rückgriff auf die Klageart zur Bestimmung
der maßgeblichen Sach- und Rechtslage entspricht lediglich einer Faustregel mit praktisch einleuchtenden Ergebnissen. Bestimmt
- wie hier - das materielle Recht einen anderen maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (siehe dazu die Ausführungen im Folgenden),
ist für die Anwendung der Faustregel kein Raum (BSG Urteil vom 28.11.2018 - B 4 AS 43/17 R zum Eintritt der Haftungsbeschränkung nach §
1629a BGB wegen Vollendung des 18. Lebensjahres im Klageverfahren).
Hinsichtlich der Berücksichtigung nachträglich eingereichter Unterlagen unterscheidet sich eine Entscheidung nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II - bei ansonsten gegebener Vergleichbarkeit (s.o.) - vom Versagungsbescheid gem. §
66 SGB I. Während beim rechtmäßigen Versagungsbescheid die Nachholung der Mitwirkungshandlung im gerichtlichen Verfahren unbeachtlich
und die Anfechtungsklage bei einer rechtmäßigen Versagungsentscheidung daher abzuweisen ist (BSG Urteil vom 17.02.2004 - B 1 KR 4/02 R; BSG Urteil vom 25.10.1988 - 7 RAr 70/87; BVerwG Urteil vom 17.01.1985 - 5 C 133/81), ist dies bei einer Entscheidung nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II nicht der Fall. Die Unbeachtlichkeit einer Nachholung der zunächst versäumten Mitwirkungshandlung folgt beim Versagungsbescheid
aus §
67 SGB I. Wird die Mitwirkung nachgeholt und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die
er nach§ 66
SGB I versagt oder entzogen hat, nach dieser Vorschrift nachträglich ganz oder teilweise erbringen. Damit wird bei Nachholung der
Mitwirkung nach einem Versagungsbescheid in einem gesonderten Verwaltungsverfahren über die nachträgliche Erbringung der versagten
Leistungen entschieden, so dass die Anfechtung einer Versagungsentscheidung sich ohne Auswirkungen auf den materiellen Anspruch
auf diese beschränken kann. Eine §
67 SGB I entsprechende Norm fehlt jedoch im Anwendungsbereich von § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II, namentlich verweist § 41a Abs. 3 Satz 2 SGB II zwar auf verschiedene Bestimmungen der §§
60 f
SGB I, jedoch gerade nicht auf §
67 SGB I.
Der Beklagte ist verpflichtet, über den Leistungsanspruch anhand der mit der Klage vorgelegten Unterlagen zu entscheiden.
Der allein auf die Nichtvorlage der Unterlagen gestützte Nullfestsetzungsbescheid vom 31.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29.03.2018 ist durch die Vorlage dieser relevanten Unterlagen rechtswidrig geworden. Zu Recht hat das Sozialgericht erkannt,
dass der Kläger einen Anspruch auf Berücksichtigung dieser Unterlagen und abschließende Entscheidung über den materiellen
Leistungsanspruch hat.
Die Unterlagen sind für die Prüfung des Leistungsanspruchs für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 relevant. Sie entsprechen
den im Verwaltungsverfahren vom Beklagten angeforderten Unterlagen.
Sie sind nicht deswegen unbeachtlich, weil der Kläger diese nicht schon bis zur letzten Verwaltungsentscheidung (zur Möglichkeit
der Erfüllung der Nachweis- und Auskunftspflicht bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens BSG Urteil vom 12.09.2018 -B 4 AS 39/17 R), sondern erst im Klageverfahren vorgelegt hat. Eine solche ausschließende Wirkung, die der Beklagte § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II beimisst, hat diese Bestimmung nicht. Weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte noch Sinn und Zweck der Bestimmung
tragen eine solche Auslegung, die im Übrigen aus systematischen Gründen ausscheidet und auch nicht verfassungskonform erfolgen
kann.
Der Wortlaut von § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II "für die übrigen Kalendermonate wird festgestellt, dass ein Leistungsanspruch nicht bestand" beinhaltet nur eine verfahrensrechtliche
Befugnis, eine entsprechende abschließende Feststellung zu treffen, sagt aber nichts aus über das materiell-rechtliche Bestehen
des Leistungsanspruchs. Ansonsten hätte die Formulierung lauten müssen "für die übrigen Kalendermonate besteht kein Leistungsanspruch",
bzw. - wenn der Gesetzgeber das Nichtbestehen des Anspruchs hätte fingieren wollen - "gilt der Betroffene nicht als hilfebedürftig"
(vergl. zB die gesetzlichen Fiktionen der §§ 67 Abs. 3 Satz 1 SGB II und §
13 Abs.
3a Satz 6
SGB V). Die Befugnis, das dann festzustellen, wäre eine verwaltungsverfahrensrechtliche Selbstverständlichkeit (in diesem Sinne
auch SG Leipzig Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17). Eine materielle Präklusionswirkung lässt sich dieser Formulierung ebenfalls nicht entnehmen. Hierzu hat das BSG bereits in der Entscheidung vom 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R darauf hingewiesen, dass der Wortlaut der Vorschrift maßgeblich von typischen Präklusionsvorschriften wie §
106a Abs.
3 SGG, §
87b Abs.
3 VwGO, § 79b Abs. 3 FGO oder §
296 ZPO abweicht. In diesen Vorschriften ist jeweils ausdrücklich die Befugnis erwähnt, Vorbringen und Beweismittel nicht zuzulassen
oder zurückzuweisen, eine entsprechende Ermächtigung enthält § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II nicht (aA SG Osnabrück Urteil vom 16.04.2019 - S 16 AS 245/18).
Sinn und Zweck der Bestimmung liegt in einer Beschleunigung und Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens (eingehend Kemper
in Eicher/Luik, SGB II, § 41a Rn. 48; insoweit zutreffend unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien auch SG Osnabrück Urteil vom 16.04.2019 - S 16 AS 245/18). Das Jobcenter soll in die Lage versetzt werden, das Verwaltungsverfahren rechtmäßig ohne weitere Ermittlungen von Amts
wegen abzuschließen, wenn der Betroffene die Obliegenheit, über in seiner Sphäre liegende Umstände Mitteilung zu machen und
Unterlagen vorzulegen, nicht nachkommt. Der Beklagte soll nicht auf die - ohne eine solche Bestimmung aus § 20 SGB X folgende - Verpflichtung verwiesen sein, anderweitige Beweismittel zu suchen oder bei Selbständigen entsprechend der bis
zum 31.07.2016 geltenden Rechtslage (§ 3 Abs. 6 Alg II-V in der bis zum 31.07.2026 gF) eine Schätzung vorzunehmen, die Grundlagen für eine rechtmäßige Schätzung zu ermitteln und
die maßgeblichen Überlegungen im Bescheid über die abschließende Bewilligung im Einzelnen wiederzugeben (BSG Urteil vom 12.09.2018 - B 4 AS 39/17 R). Der Beschleunigungs- und Vereinfachungseffekt wird auch dann erreicht, wenn erst im Widerspruchs- oder Klageverfahren
vorgelegte Unterlagen berücksichtigt werden müssen, weil ohnehin nur ein geringer Teil aller Bescheide mit Widerspruch und
Klage angefochten werden. § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II ermöglicht es zudem auch dem Betroffenen, der erkennt, dass er die vorläufigen Leistungen zu Unrecht erhalten hat, auf eine
Vorlage von Unterlagen zu verzichten, dem Jobcenter eine Prüfung zu ersparen und die Nullfestsetzung zu akzeptieren. Wenn
der Rechtsprechung des BSG zur Berücksichtigung nachgereichter Unterlagen im Widerspruchsverfahren entgegengehalten wird, diese verkenne den Vereinfachungszweck
des § 41a Abs. 3 SGB II (so SG Osnabrück Urteil vom 16.04.2019 - S 16 AS 245/18), trifft dies daher nicht zu. Abgesehen davon würde eine Rückforderung vorläufig bewilligter Leistungen bei Nullfestsetzung
nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II trotz eines materiell bestehenden Leistungsanspruchs voraussichtlich zu einer Vielzahl von Erlassanträgen aus Billigkeitsgesichtspunkten
(§ 44 SGB II) führen und damit zusätzlich aufwändige Verwaltungsverfahren nach sich ziehen.
Eine Auslegung der Vorschrift im Sinne einer präkludierenden Wirkung wäre auch mit Sinn und Zweck der vorläufigen Bewilligung
nach § 41a Abs. 1 SGB II sowie der systematischen Stellung von § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II als Bestandteil der Regelungen über die vorläufige Leistung nicht zu vereinbaren. Die Möglichkeit, gem. § 41a Abs. 1 SGB II über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, obwohl die Voraussetzungen für den Anspruch nur
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen(§ 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II) bzw. zur Feststellung der Höhe des Anspruchs noch längere Zeit erforderlich ist (§ 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ist als Begünstigung der Betroffenen geschaffen worden, die auf existenzsichernde Leistungen angewiesen sind und diese zügig
erhalten sollen. Der Grundsicherungsträger hat damit zugleich die Möglichkeit, einstweilige Rechtsschutzverfahren zu vermeiden
und die Voraussetzungen einer endgültigen Leistungsbewilligung ohne Zeitdruck prüfen zu können (Grote-Seifert in JurisPK SGB
II§ 41a Rn. 19). Allein in diesem Zusammenhang steht auch § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II. Mit dem Begünstigungszweck der vorläufigen Leistung wäre es nicht zu vereinbaren, der Bestimmung eine Ermächtigung zu entnehmen,
die eine nicht korrigierbare Nullfeststellung des Anspruchs trotz bestehender Hilfebedürftigkeit ermöglicht.
Nicht plausibel wäre zudem, einer vorläufigen Entscheidung eine höhere Bestandskraft zuzumessen, als einer von vornherein
erfolgten endgültigen Bewilligung. Letztere könnte gem. § 40 Abs. 1 SGB II, 44 SGB X innerhalb der dort genannten zeitlichen Grenzen bei Vorlage weiterer Unterlagen zugunsten des Betroffenen noch geändert werden,
während dies bei einer abschließenden Feststellung nach § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II und Annahme einer präkludierenden Wirkung dieser Bestimmung dann nicht mehr möglich wäre.
Eine verfassungskonforme Auslegung führt zu demselben Ergebnis. Die Leistungsansprüche nach dem SGB II dienen - wie ausgeführt - der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. In dieses würde in unverhältnismäßiger
Weise eingegriffen, wenn die Verletzung von verfahrensrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten zu einem vollständigen Verlust
eines materiell-rechtlich ggfs. bestehenden Leistungsanspruchs führen würde. Die Sanktion des § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II - Befugnis des Jobcenters zur Nullfestsetzung ohne weitere Ermittlungen - ist ausreichend, um den Betroffenen zum Handeln
- Nachholung der Mitwirkung - zu bringen. Zu Recht wird in der Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass ein Verwaltungsverfahren
nicht um seiner selbst willen durchgeführt wird (SG Leipzig Urteil vom 29.05.2018 - S 7 AS 2665/17). Verfahrensrechtliche Regelungen dienen als Hilfsrecht der Feststellung der berechtigten Leistungsansprüche der Betroffenen
und nicht dazu, ein Verwaltungsverfahren ohne Rücksicht auf die Richtigkeit des materiellen Ergebnisses zu beenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG) zugelassen.