Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II für rumänische Staatsangehörige
Pflicht des zuerst angegangenen SGB-II-Leistungsträgers zur Erbringung vorläufiger Leistungen gem. § 43 Abs. 1 S. 2 SGB I
Erbringung von Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege bei verfestigtem Aufenthalt der Unionsbürger (hier: Anspruch auf Hilfe
zum Lebensunterhalt)
Negativer Kompetenzkonflikt zwischen Jobcenter und Sozialamt
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Der 1991 geborene Antragsteller zu 1) und die 1989 geborene Antragstellerin zu 2) sind die Eltern der 2007, 2008 und 2010
geborenen Antragsteller zu 3) bis 5). Die Antragsteller halten sich seit Dezember 2013 in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Sie beziehen Kindergeld iHv 558 EUR monatlich. Außerdem verkauft die Antragstellerin
zu 2) die Straßenzeitung "fifty-fifty" und bezieht hieraus nach eigenen Angaben ein Einkommen iHv ca. 250 EUR monatlich. Nach
eigenen Angaben hilft der Antragsteller zu 1) "Nachbarn" beim "Eisensammeln" und erhält hierfür eine geringe Entlohnung (50
bis 100 EUR monatlich). Die Antragsteller haben für die von ihnen bewohnte Mietwohnung in E seit dem 01.10.2015 monatlich
370 EUR (Grundmiete iHv 250 EUR und Betriebskostenvorauszahlung einschließlich Heizkosten iHv 120 EUR) zu zahlen.
Nach eigenen Angaben bereits im November 2014, nach Aktenlage jedenfalls am 08.12.2014, beantragten die Antragssteller beim
Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit Bescheid vom 29.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 09.10.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab, weil die Antragsteller ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche
hätten. Hiergegen haben die Antragsteller am 22.10.2015 Klage erhoben.
Bereits am 21.05.2015 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Duisburg beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen. Das Sozialgericht hat eine Auskunft des
Herausgebers von "fifty-fifty" (Asphalt - Verein zur Förderung obdachloser und armer Menschen e.V.) über die Tätigkeit der
Antragstellerin zu 2) eingeholt. Der Verein hat mitgeteilt: Der Verkauf von Straßenmagazinen ist eine Form würdevolleren Bettelns".
Auskunft über das aus dem Verkauf erzielte Einkommen könne nur der Verkäufer selber geben.
Mit Beschluss vom 01.10.2015 hat das Sozialgericht den Antrag gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II abgelehnt. Der Verkauf der Straßenzeitung stelle unter Zugrundelegung des Ausführungen des Herausgebers keine selbständige
Tätigkeit iSd § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU dar.
Die Antragsteller haben am 05.10.2015 Beschwerde eingelegt. Sie haben Schulbescheinigungen der Antragsteller zu 3) und 4),
Kontoauszüge seit Mai 2015, Nachweise über eine Räumungsklage hinsichtlich der bis zum 30.09.2015 bewohnten Wohnung, einen
Mietvertrag vom 01.10.2015 über die aktuell bewohnte Wohnung und eine eidesstattliche Versicherung über die zur Verfügung
stehenden Einkünfte vorgelegt. Sie haben erklärt, Arbeit zu suchen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist im tenorierten Umfang begründet. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf
vorläufige Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gegen den Antragsgegner.
Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund iSd §
86 b Abs.
2 Satz 2
SGG glaubhaft gemacht. Sie haben glaubhaft gemacht, nicht über Mittel zu verfügen, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichen.
Auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung liegt ein Anordnungsgrund vor (ständige Rechtsprechung des Senats,
vergl. nur Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER).
Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Grundvoraussetzungen für einen Leistungsanspruch
gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II - insbesondere die Hilfebedürftigkeit dem Grunde nach - liegen auch unter Berücksichtigung des Kindergeldes, der Einkünfte
aus dem Verkauf der Straßenzeitung sowie dem "Eisensammeln" nach summarischer Prüfung vor.
Der Senat kann offen lassen, ob die Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen waren, weil sie als rumänische Staatsangehörige Ausländer sind, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem
Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn der Antragsgegner als Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II (§§ 6, 44 b Abs. 1 SGB II) ist nach §
43 SGB I zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet (vergl. hierzu bereits Beschluss des Senats vom 16.12.2015 - L 7 AS 1466/15 B ER).
Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen (hierzu unten 1) und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung
verpflichtet ist (hierzu unten 2), kann gem. §
43 SGB I der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger (hierzu unten 3) vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach
pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat gem. §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines
Kalendermonats nach Eingang des Antrags (hierzu unten 4).
1) Die Antragsteller haben dem Grunde nach einen Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen (zur Notwendigkeit der Zweckidentität
von vorgeleisteter und ggfs. endgültig zustehender Leistung Grube, in: JurisPK, § 102 SGB X Rn. 37). Sie sind mangels ausreichenden eigenen Einkommens und Vermögens hilfebedürftig und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern erfüllen sie sowohl die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 SGB II als auch die Voraussetzungen des §§ 19 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Die Antragsteller zu 1) und 2), die den Antragstellern zu 3) bis 5) einen Anspruch auf Sozialgeld vermittel (§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) bewegen sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; für Leistungen nach dem SGB XII sind Altersgrenzen nicht vorgegeben (lediglich die Leistungsart ist gem. § 19 Abs. 2 SGB XII altersabhängig). Der Umstand, dass die Antragsteller sowohl nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt (bzw. deren Familienangehörige), von existenzsichernden
Leistungen ausgeschlossen sind, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteilen vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R (Medieninformation Nr. 28/15) und 16.12.2015 - B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 33/14 R (Terminsbericht Nr. 61/15) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung
von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen
im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn - wie bei den Antragstellern - ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt.
Das Ermessen ist nach den bislang zugänglichen Informationen über die Begründung der Entscheidungen des BSG dann u. a. aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum
Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu leisten ist.
2) Es liegt zwischen dem Antragsgegner und dem Beigeladenen (Sozialhilfeträger) ein negativer Kompetenzkonflikt iSd §
43 SGB I vor. Dies folgt aus § 21 Satz 1 SGB XII. Nach dieser Regelung erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt
nach dem SGB XII. Umstritten ist, ob das Tatbestandsmerkmal "dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II" nur allgemein die Leistungssysteme des SGB II einerseits und des SGB XII andererseits nach dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit abgrenzt mit der Folge, dass erwerbsfähige Personen keinen Anspruch
nach dem SGB XII geltend machen können, auch nicht bei Eingreifen eines Leistungsausschlusses (so zB LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom
23.05.2014 - L 8 SO 129/14 BER mwN auch auf die Gegenauffassung), oder ob die Vorschrift den Zugang zum SGB XII eröffnet, wenn Hilfebedürftige aufgrund eines negativen Tatbestandsmerkmals keinen Zugang zu SGB II-Leistungen haben (so u. a. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.11.2012 - L 19 AS 1917/12 B ER). Seit den genannten Urteilen des BSG vom 03.12.2015 und 16.12.2015 ist höchstrichterlich entschieden, dass jedenfalls auch erwerbsfähige Personen mit einem verfestigten
Aufenthalt Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben können. Damit ist die Frage, ob die Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfallen, - ähnlich wie die Frage der Erwerbsfähigkeit iSd § 8 Abs. 1 SGB II (vergl. § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II) - jedenfalls bei diesen Personen (lediglich) maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegen
die Antragsteller dem Leistungsausschluss nicht, weil sie auch über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R), ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegen die Antragsteller
hingegen dem Leistungsausschluss, ist der Beigeladene bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung von Hilfe
zum Lebensunterhalt zuständig.
Der Umstand, dass der Beigeladene bislang mit dem Leistungsfall noch nicht befasst war, steht der Anwendung von §
43 SGB I nicht entgegen. Ausreichend ist, dass ein Leistungsträger - hier der Antragsgegner - den Anspruch aus einem Grund ablehnt,
der zur Zuständigkeit eines anderen Sozialleistungsträgers führt, wenn - wie hier - alle übrigen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch
bestehen (Lilge,
SGB I, §
43 Rn. 26). Es ist nicht erforderlich, dass der zuerst angegangene Träger ausdrücklich auf die Einstandspflicht eines anderen
Trägers verweist (Lilge,
SGB I, §
43 SGB I Rn. 25).
3) Der Antragsgegner ist zuerst angegangener Leistungsträger iSd §
43 SGB I. Die Antragsteller haben bislang nur bei dem Antragsgegner existenzsichernde Leistungen geltend gemacht. Unbeachtlich ist,
dass der Antragsgegner seine Leistungspflicht aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits mit Bescheid abgelehnt hat. Eine - der Sache nach wegen fehlender Zuständigkeit - bereits ergangene Ablehnungsentscheidung
steht einer Vorleistungspflicht nach §
43 SGB I jedenfalls solange die Ablehnungsentscheidung (wie hier) noch nicht bestandskräftig geworden ist, nicht entgegen. Vorläufigen
Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt nach Zweck und Bindungswirkung allein die Funktion zu, eine (Zwischen-)Regelung
bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Vorläufig bewilligte Leistungen sind daher als aliud gegenüber
endgültigen Leistungen anzusehen, deren Bewilligung keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung entfaltet (BSG, Urteil vom 29.04.2015 - B 14 AS 31/14 R mwN) und die daher unabhängig von der Ablehnung endgültig zustehender Leistungen erbracht werden können.
4) In dem Leistungsantrag ist im Zweifel auch ein Antrag iSd §
43 Abs.
1 Satz 2
SGB I zu sehen, vorläufige Leistungen zu erbringen. Ein Antrag ist jede gegenüber dem erstangegangenen Leistungsträger abgegebene
Willenserklärung, aus der - erforderlichenfalls durch Auslegung - zu entnehmen ist, dass der Berechtigte zumindest vorläufige
Leistungen wünscht (Lilge,
SGB I, §
43 Rn. 40). Dies ist bei einem Antrag auf lebensnotwendige existenzsichernde Leistungen im Regelfall zu bejahen.
5) Die Rechte des Antragsgegners sind gewahrt, weil er für den Fall, dass die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts ausgeschlossen sind, einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen den Beigeladenen geltend machen kann. Der aus der Anwendung von §
43 SGB I folgende Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X erfordert die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der vorläufig erbrachten Leistungen (allg. Meinung, vergl. nur LSG Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 15.04.2013 - L 20 SO 453/11 mwN), die gegeben ist, weil es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift, als Folge der genannten Rechtsprechung des BSG vom 03.12.2015 und 16.12.2015 nicht um den Streit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung, sondern um die Eröffnung eines
Kompetenzkonfliktes handelt. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den Antragsgegner geltenden Rechtsvorschriften
(§ 102 Abs. 2 SGB X). Der Beigeladene kann diese evtl. erweiterte Erstattungspflicht vermeiden, indem er den Leistungsfall übernimmt und den
negativen Kompetenzkonflikt damit beendet.
6) In Anwendung des im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eröffneten Ermessens hinsichtlich der Ausgestaltung der einstweiligen
Anordnung (hierzu nur Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl., §
86 b Rn. 30) hat der Senat den Beginn des Verpflichtungszeitraums auf den Zeitpunkt des Bezugs der neuen Wohnung gelegt. Bei der
Bemessung des Gesamtzeitraums hat der Senat berücksichtigt, dass der Antragsgegner einerseits nur vorläufig (bis auf Weiteres)
zur Leistungszahlung verpflichtet ist und andererseits dem Beigeladenen ausreichend Zeit zur Übernahme des Leistungsfalls
zur Verfügung stehen muss. Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs ab Mai 2015 war die Beschwerde damit zurückzuweisen.
Die Höhe des neben dem Kindergeld anzurechnenden Einkommens hat der Senat unter Würdigung der Erklärungen der Antragsteller
geschätzt (§§
202 SGG,
287 ZPO; zur Anwendung dieser Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren vergl. nur BSG, Urteil vom 24.11.2011 - B 14 AS 151/10 R), um den Beteiligten Rechtssicherheit für den Leistungszeitraum zu geben. Die tatsächliche Höhe des anzurechnenden Einkommens
wird im Hauptsacheverfahren festzustellen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG in entsprechender Anwendung und berücksichtigt das anzurechnende Einkommen.