SGB-II-Leistungen
Übernahme von Fahrtkosten zum Besuch eines Sportvereines
Anspruchsgrundlage
Kein Ermessen
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme von Fahrtkosten zum Besuch des Sportvereines des
Klägers.
Der Kläger ist 2004 geboren und steht im Leistungsbezug bei dem Beklagten. Mit Bescheid vom 30.09.2014 bewilligte der Beklagte
der Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.10.2014 bis 31.03.2015, mit Bescheid vom 25.03.2015 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.04.2015 bis 31.08.2015. Mit Bescheid vom 02.12.2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen der
Bildung und Teilhabe in Form des Mitgliedsbeitrags des Vereins PSV für die Zeit vom 01.10.2014 bis 31.03.2015 in Höhe von
einmalig 60 EUR. Bei diesem Verein handelt es sich um den Polizei-Sportverein D., bei dem der Kläger die Sportart Jiu Jitsu
ausübt. Mit Schreiben vom 08.01.2015 beantragte der gesetzliche Vertreter des Klägers, sein Vater, ergänzend zu seinem "Globalantrag",
die Fahrtkosten zum Vereinsbesuch zu übernehmen. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen
vom 23.07.2014 müssten Bildungs- und Teilhabeangebote ohne weitere Kosten erreichbar sein. Sein Sohn Pierre besuche das Training
an zwei Tagen in der Woche, wobei er von seinen Eltern mit dem Pkw dort hingebracht und abgeholt werde. Das Training ende
erst nach 20:00 Uhr, weshalb die Eltern einer alleinigen Heimfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zustimmten.
Mit Bescheid vom 19.01.2015 lehnte der Beklagte die Übernahme der Fahrtkosten zum Verein ab, da diese durch Leistungen für
Bildung und Teilhabe nicht erfasst seien. Mit Schreiben vom 22.01.2015, auf das Bezug genommen wird, erhob der gesetzliche
Vertreter des Klägers Widerspruch. Mit weiterem Bescheid vom 03.03.2015 lehnte der Beklagte den Antrag (erneut) ab. Für den
Kläger seien mit Bescheid vom 02.12.2014 bereits Teilhabeleistungen von 10 EUR monatlich bewilligt worden, der maximal mögliche
Betrag für Teilhabeleistungen gemäß § 28 Abs. 7 SGB II betrage 10 EUR, damit sei dieser maximale Betrag bis März 2015 bereits ausgeschöpft. Unabhängig davon sei eine Übernahme
von Fahrtkosten zum Verein nicht möglich, da diese Kosten nicht durch Leistungen der Bildung und Teilhabe erfasst und in der
Regelleistung des Alg II enthalten seien. Der Ablehnungsbescheid vom 19.01.2015 werde hiermit zurückgenommen. Mit Widerspruchsbescheid
vom 10.04.2015 wies der Beklagte sodann den Widerspruch des Klägers zurück; auf die Begründung wird Bezug genommen.
Der Kläger hat am 22.04.2015 Klage erhoben und erneut auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Die
einfache Entfernung zur Trainingsstätte betrage 6 km, als Fahrtkosten würden 20 Cent pro Entfernungskilometer geltend gemacht.
Im streitgegenständlichen Zeitraum seien somit 46 Fahrten zu übernehmen. Die Sportart werde nicht in der unmittelbaren Nähe
des Wohnortes des Klägers angeboten, selbstverständlich könne der Kläger die Sportart aussuchen und sei nicht auf ähnliche
Sportarten zu verweisen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung der Bescheide vom 19.01. und 03.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 10.04.2015 dem Kläger über die bisher bewilligten 10 EUR monatlich für Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben hinaus
Fahrtkosten in Höhe von 1,20 EUR pro Fahrt zum Sportverein für insgesamt 46 Fahrten zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich keinesfalls, dass damit die Fahrtkosten
zu jedwedem Teilhabeangebot zwingend zu übernehmen seien. Denkbar könne in diesem Zusammenhang nur sein, dass ein solcher
Anspruch bestehen könne, wenn der Kläger ansonsten keine Möglichkeit habe, derartige Angebote ohne weitere Kosten wahrzunehmen.
Der Stadtsportbund halte für die Altersgruppe des Klägers in H. allein zehn Angebote von Sportvereinen mit dem ausgeübten
Jiu Jitsu artverwandten Sportarten vor (Schriftsatz vom 16.9.2015). Es sei nicht nachvollziehbar, dass keines dieser Angebote
in Anspruch genommen worden sei. Bei der Teilhabe im Sinne des Bildungs- und Teilhabepaketes gehe es nicht um die Ausübung
einer bestimmten Sportart, sondern um die generelle Möglichkeit, einen Sport im Rahmen der Gemeinschaft auszuüben. Somit bestehe
also kein Anspruch auf eine konkret gewünschte Leistungsgewährung für eine besondere Sportart oder ein besonderes Instrument,
sondern ausschließlich ein Anspruch auf abstrakte Gewährung von Leistungen zur Erlangung von Bildung und Teilhabe.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte
der Beklagten. Der Inhalt aller Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 03.03.2015 sowie - klarstellend -
der Bescheid vom 19.01.2015 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2015 waren aufzuheben und die Bewilligungsbescheide
vom 30.09.2014 und 25.03.2015 abzuändern, weil diese Entscheidungen den Kläger im Sinne des §
54 Abs.
2 SGG beschweren. Gleichzeitig war die Beklagte zur Zahlung des tenorierten Betrages zu verpflichten. Denn sie ist zur Übernahme
der Fahrtkosten verpflichtet.
Bei Leistungsberechtigten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres wird gemäß § 28 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II ein Bedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft in Höhe von insgesamt 10 EUR monatlich berücksichtigt
für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit. Gemäß § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II können neben der Berücksichtigung dieser Bedarfe auch weitere tatsächliche Aufwendungen berücksichtigt werden, wenn sie im
Zusammenhang mit der Teilnahme an Aktivitäten nach Satz 1 Nr. 1 - 3 entstehen und es den Leistungsberechtigten im begründeten
Ausnahmefall nicht zugemutet werden kann, diese aus dem Regelbedarf zu bestreiten.
Der Beklagte hat vorliegend entsprechend seiner gesetzlichen Verpflichtung die Mitgliedsbeiträge für die vom Kläger ausgesuchte
und ausgeübte Sportart übernommen, ohne dass er auch nur ansatzweise bezweifelt hätte, dass der Kläger in seiner Auswahl frei
wäre. Die entsprechende Bewilligung des Beklagten erfolgte insoweit rechtmäßig, weil sich eine Einschränkung hinsichtlich
der Auswahl auch nicht mit dem Gesetz in Einklang bringen ließe. Eine solche Einschränkung kann nun auch nicht gleichsam "durch
die Hintertür", nämlich über Ablehnung der Fahrtkostenerstattung, vorgenommen werden. Die diesbezüglich seitens des Beklagten
vertretene Rechtsauffassung, es bestehe keinesfalls Anspruch auf eine ganz bestimmte Leistungsgewährung von Bildungs- und
Teilhabeleistungen, sondern ausschließlich Anspruch auf abstrakte Gewährung von Leistungen zur Bildung und Teilhabe ist einerseits
schon im Hinblick auf die von dem Beklagten grundsätzlich bewilligte Leistung in Form der Mitgliedsbeiträge für den ausgesuchten
Sport des Klägers widersprüchlich und schon deswegen nicht haltbar, sie widerspricht zudem dem Gesetz und der eindeutigen
Auslegung des Bundesverfassungsgerichts.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 23.07.2014, 1 BvL 10/12, entschieden, dass das Bildungs- und Teilhabegesetz grundsätzlich (nur deshalb!) verfassungsgemäß ist, weil es einer verfassungsgemäßen
Auslegung zugänglich ist. Es hat insbesondere für rechtmäßig erachtet, dass der nach § 28 Abs. 7 SGB II berücksichtigte Bedarf an Leistungen zur Teilhabe in Höhe von 10 EUR im Monat festgelegt worden ist (a. a. O., Rn. 131, [...]).
Es hat darüber hinaus ausgeführt:
"Bildungs- und Teilhabeangebote müssen für die Bedürftigen allerdings auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein.
Jedenfalls seit 01.08.2013 werden nach § 28 Abs. 7 SGB II weitere, mit dem Bildungspaket zusammenhängende tatsächliche Aufwendungen berücksichtigt. Zwar ist die Norm lediglich als
Ermessensvorschrift ausgestaltet und die Gesetzesbegründung zielt vorrangig auf die Finanzierung der nötigen Ausrüstung (Musikinstrumente,
Schutzkleidung bei bestimmten Sportarten ). Die Vorschrift ist jedoch einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, womit
die Sozialgerichte sicherstellen können, dass ein Anspruch auf Fahrtkosten zur derartigen Angeboten besteht."
Gemäß § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte
und Behörden. In der zitierten Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich festgestellt, dass die Bildungs-
und Teilhaberegelung im SGB II nur dann verfassungsgemäß ist, wenn die als Ermessensvorschrift ausgestaltete Norm des § 28 Abs. 7 Satz 2 SGB II tatsächlich als Anspruchsnorm verstanden wird, so dass eben "ein Anspruch auf Fahrtkosten zu derartigen Angeboten besteht"
(siehe gerade oben). Einschränkungen hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgenommen.
Besteht aber kein Ermessen, so besteht dementsprechend auch nicht die Möglichkeit, die Auswahl der Sportart zu beschränken:
Wie sollte dies auch praktisch vor sich gehen? Wie wenig praktikabel dies wäre, zeigt sich an der Argumentation des Beklagten,
wenn dieser zunächst darlegt, es seien nur die zwingend erforderlichen Fahrtkosten zu übernehmen, was nur dann der Fall sein
könne,
"um überhaupt in den Genuss von Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes zu kommen. Insoweit könnte beispielhaft an einen
Fall gedacht werden, wo ein Kind auf dem Lande wohnt und der/die nächste Sportverein/ Musikschule mit öffentlichem Nahverkehr
nicht oder mit ganz erheblichem Aufwand zu erreichen ist".
Der Beklagte bleibt - ungeachtet der rechtlichen Problematik, dass sich eine solche Einschränkung nicht mit dem Gesetzeswortlaut/
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Einklang bringen lässt - bereits die Antwort schuldig, welche finanzielle
und zeitliche Grenze er denn ziehen will: Ab welchem zeitlichen Aufwand ist das Erreichen unzumutbar? Worauf bezieht sich
der zeitliche Aufwand? Die Kammer versteht schon nicht, ob der Beklagte davon ausgeht, dass, wenn kein Sportangebot, dafür
aber ein Musikangebot in der Nähe wäre, dann dieses in Anspruch genommen werden sollte. Falls zumindest zwischen Sport und
Musik unterschieden würde, müsste geklärt werden, ob einem Kind beispielsweise nur das Ausüben irgendeiner Sportart, also
egal ob Ballsport, Kampfsport, Leichtathletik etc. ermöglicht werden soll. Oder werden Gruppen gebildet, so dass beispielsweise
jedenfalls das Ausüben einer Ballsportart ermöglicht werden soll? Was sind dann Ballsportarten? Gibt es weitere Untergruppen,
so dass vermittels eines Schlägers ausgeübte Ballsportarten wie Golf, Hockey, Tennis von Basketball, Fußball, Handball, Volleyball
etc. zu trennen sind? Die Kammer war nicht in der Lage, diese Fragen zu beantworten, hält es aber auch für unwahrscheinlich,
dass der Beklagte in seiner Verwaltungspraxis hierzu in der Lage sein könnte.
Der Beklagte führt weiter in seinem Schriftsatz vom 16.9.2015 über eineinhalb Seiten zu der Frage aus, ob Taekwondo wesensverwandt
mit Jiu Jitsu sei. Es bleibt auch in diesem Zusammenhang unklar, ob das Ergebnis (Wesensverwandtschaft wird bejaht) bedeutet,
dass für den Fall eines fehlenden ortsnahen Taekwondoangebots oder sonstigen Kampfsportangebotes (der Beklagte erwähnt noch
Pointfighting, Leichtkontakt Kickboxen und Shaolin-Kempo) die geltend gemachten Kosten übernommen werden könnten oder ob der
Kläger dann auf irgendeinen Sport verwiesen werden könnte.
Es ist nicht Aufgabe des Beklagten oder des Gerichts, zu beurteilen, welcher Sport in welcher Form auch für ein Kind geeignet
sein könnte. Begabungen ergeben sich durch die und während der Ausübung des Sportes oder des Spielens eines Instrumentes.
Der Beklagte bringt im genannten Schriftsatz zur Illustration seiner Auffassung das Beispiel des Musikinstrumentes Harfe auf.
Er bleibt aber die Antwort schuldig - was nicht überraschend ist, da es keine Antwort geben dürfte - was er meint, wenn er
ausführt, eine Fahrtkostenerstattung zum Harfenunterricht dann ablehnen zu wollen, wenn "in akzeptabler Nähe zum Wohnort"
(was ist denn akzeptabel?) eine Musikschule existierte, "die eine "gängige" Unterrichtung anbietet" (die Kammer hat keine
Vorstellung, was eine gängige Unterrichtung sein soll: Geige? Fagott? Oboe?).
Weil die Verpflichtung zur Fahrtkostenübernahme einerseits und das Recht zur freien Auswahl der Sportart/ des Sportvereins
andererseits bestehen, sind die Fahrtkosten zu übernehmen, wobei die Kammer die unbestrittene Anzahl der Fahrten und die vom
Kläger genannte Entfernung zugrunde legen konnte und eine Anwendung der in § 6 Abs.1 Nr.3b ALG II-V genannten Entfernungskilometerpauschale für sachgerecht hält.
Die Kammer hat auf den ausdrücklichen Wunsch der Beteiligten die Berufung gem. §
144 Abs.2 Nr.1
SGG zugelassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
183,
193 SGG.