Tatbestand
Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren die Rückerstattung eines gezahlten Betrages und den Erlass der zugrundeliegenden
Forderung.
Der am 00.00.1967 geborene, alleinstehende Kläger bezog seit dem 01.06.2006 vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Bei Erstantragstellung im Mai 2006 erklärte er, nicht über Vermögen zu verfügen, das den Wert von 4.850 € übersteigt. Mit
seiner Unterschrift bestätigte der Kläger, das Merkblatt "SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende" erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Tatsächlich verfügte der
Kläger durchgehend über ein Sparbuch bei der Sparkasse E, das im Mai 2006 ein Guthaben iHv 10.061,88 € und im Oktober 2013
ein Guthaben iHv 10.344,81 € aufwies. Insgesamt verfügte der Kläger zwischen Mai 2006 und Oktober 2013 über Vermögen iHv 12.693
€ (Mai 2006) bis 18.893 € (Februar 2013). Zum Ende des Leistungsbezugs im Oktober 2013 belief sich das Vermögen auf 18.491
€, was dem Beklagten im August 2013 durch einen Datenabgleich mit dem Bundeszentralamt für Steuern bekannt wurde.
In seiner Äußerung zur Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme der Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 01.06.2006 bis zum
31.10.2013 und zu einer Erstattung iHv 31.233,72 € führte der Kläger aus, er habe sein Vermögen aus Existenzängsten verschwiegen.
Er habe in den letzten Jahren immer aufstockend Leistungen nach dem SGB II beziehen müssen. In einer solchen Situation leihe ihm niemand Geld für ein neues Auto, das aber für seine Vermittlung auf
dem Arbeitsmarkt unabdingbare Voraussetzung sei. Zudem benötige er einen Pkw, um sich um seine an Demenz erkrankten Eltern
kümmern zu können. Überdies habe er aus dem Vermögen eine Verbindlichkeit bei der L Bankengruppe iHv 7.387,06 € getilgt sowie
Rückstände bei der Deutschen Rentenversicherung iHv 338,20 €, die während einer früheren selbstständigen Tätigkeit aufgelaufen
seien, bezahlt. Weitere 1.000 € habe er sich bar auszahlen lassen, um davon die Kfz-Steuer und die Hauptuntersuchung seines
PKW bezahlen zu können. Der Erstattungsbetrag sei viel zu hoch, er halte ihn für unverhältnismäßig.
Mit Bescheid vom 16.12.2013 nahm der Beklagte die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.06.2006 bis zum 31.10.2013
vollständig zurück und forderte eine Erstattung iHv 31.233,72 €. Das Vermögen habe seit der Antragstellung bis einschließlich
Oktober 2013 über der Vermögensfreigrenze gelegen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid
vom 14.03.2014 zurück. Der Kläger sei im gesamten streitbefangenen Zeitraum nicht hilfebedürftig gewesen. Das vorhandene Vermögen
stehe Monat für Monat einem Leistungsanspruch entgegen.
Die hiergegen erhobene Klage blieb im Berufungsverfahren erfolglos (Senatsurteil vom 29.06.2017 - L 7 AS 395/16). Mit Urteil vom 25.04.2018 (B 4 AS 29/17 R) wies das BSG die Revision des Klägers gegen das Senatsurteil vom 29.06.2017 zurück. Ob das Vermögen zur Deckung der Bedarfe des Klägers
über den Rücknahmezeitraum ausgereicht hätte, sei unbeachtlich. Vermögen sei zu berücksichtigen, solange es tatsächlich vorhanden
ist. Da die Bewilligungen auf zumindest grob fahrlässig unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Klägers beruht hätten,
sei bei der Entscheidung über die Rücknahme Ermessen nicht auszuüben. Raum für eine Abwägung zwischen öffentlichen und privaten
Interessen unter Berücksichtigung der Rücknahmefolgen biete erst ein Erlassverfahren.
Am 03.08.2017 beantragte der Kläger, den Erstattungsbetrag zu erlassen, soweit dieser 6.093 € übersteigt. Unter Berücksichtigung
des ab dem 01.08.2006 geltenden Freibetrags iHv 6.600 € habe er nur 6.093 € für seinen Lebensunterhalt einsetzen müssen. Er
verfüge lediglich über Nettoeinkünfte iHv ca. 1.500 € monatlich. Er sei mit einem GdB von 70 schwerbehindert und habe seine
Ersparnisse für die Tilgung von Verbindlichkeiten verwendet. Er sei nicht in der Lage gewesen, erneut Vermögen zu bilden und
könne im Fall einer vollständigen Realisierung des Erstattungsbetrages keine Rücklagen für die Altersvorsorge bilden. Im Erlassverfahren
legte der Kläger am 10.07.2018 eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor, wonach er über
einen Betrag iHv 19.564 € auf seinem Girokonto, 1.619 € auf einem Sparbuch und 136 € auf seinem Bausparvertrag verfüge und
Nettoeinkünfte in den vorausgegangenen drei Monaten zwischen 1.794 € und 2.034 € gehabt habe. Seine Unterkunftskosten beliefen
sich auf 430 € monatlich, seine monatlichen Ausgaben für Versicherungen auf 49 €. Der Kläger trug vor, er müsse über Jahre
mit Einkünften in Höhe des Pfändungsfreibetrages zurechtkommen, wenn er den vollen Betrag zurückzuerstatten hätte.
Im Dezember 2017 hatten der Beklagte und die Agentur für Arbeit C eine "Zusatzverwaltungsvereinbarung nach § 44b Abs. 4 SGB II" zum Forderungseinzug abgeschlossen. Die Durchführung des Forderungseinzuges sowie die Bearbeitung von Widersprüchen und
Klagen wurde bis zum 31.12.2020 nach § 44b Abs. 4 SGB II auf die Bundesagentur für Arbeit übertragen (§ 2 Abs. 1 der Vereinbarung). Gem. § 1 Abs. 2 der Vereinbarung führt die Bundesagentur für Arbeit den Forderungseinzug im Auftrag und
im Namen des Beklagten durch. Auch in § 2 Abs. 2 der Vereinbarung ist ausdrücklich bestimmt, dass die zuständige Dienststelle
der Bundesagentur für Arbeit im Namen der Beklagten handelt. Insoweit wurde sie zum Erlass von Stundungs- und Erlassbescheiden
und entsprechenden Widerspruchsbescheiden sowie zur Vertretung im Klageverfahren jeweils im Namen des Beklagten ermächtigt
(§ 2 Abs. 2 der Vereinbarung). Im Dezember 2020 ist die Vereinbarung bis zum 31.12.2023 unter Beibehaltung der genannten Bestimmungen
verlängert worden. Der Beklagte sichert jeweils zu, dass ein wirksamer Beschluss seiner Trägerversammlung iSd § 44c Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB II vorlag.
Mit Bescheid vom 20.07.2018 lehnte die Bundesagentur für Arbeit - Agentur für Arbeit S - den Erlassantrag "namens und im Auftrag"
des Beklagten ab. Forderungen dürften gemäß § 59 Abs. 1 Nr. 3 BHO nur erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig sei. Unbilligkeit liege vor, wenn die wirtschaftliche
Existenz durch die Einziehung vernichtet oder ernsthaft gefährdet werde. Die Forderung sei entstanden, weil der Kläger Vermögen
verschwiegen habe. Eine erhebliche Härte sei nicht erkennbar.
Der Kläger erhob am 26.07.2018 Widerspruch, den die Bundesagentur für Arbeit mit Widerspruchsbescheid vom 30.08.2018 unter
Hinweis auf ihre Beauftragung mit der Wahrnehmung des Forderungseinzugs durch den Beklagten zurückwies. Es liege weder Unbilligkeit
aus persönlichen noch aus sachlichen Gründen vor. Unbilligkeit aus persönlichen Gründen sei nicht zu erkennen, weil der Kläger
durch die Forderung nicht in seiner Existenz gefährdet werde. Dieser verfüge über ausreichende Mittel, um eine Ratenzahlung
zu bedienen. Sofern zwischenzeitlich ein finanzieller Engpass entstehe, komme eine Stundung in Betracht. Sachliche Unbilligkeit
sei zu verneinen, denn die Überzahlung sei entstanden, weil der Kläger vorsätzlich Vermögen verschwiegen habe. Nach Abwägung
aller Umstände scheide ein endgültiger Erlass der Forderung aus. Der Widerspruchsbescheid weist keinen Ab-Vermerk auf und
ist nach dem Eingangsstempel am 03.09.2018 bei dem Bevollmächtigten des Klägers eingegangen.
Am 04.10.2018 hat der Kläger beim Sozialgericht Düsseldorf Klage erhoben. Der Beklagte sei verpflichtet, eine Ermessensentscheidung
zu treffen, bei der Billigkeitserwägungen zu berücksichtigen seien. Dies sei nicht erfolgt. Es sei zutreffend, dass persönliche
Gründe nicht vorlägen. Die sachlichen Gründe für die Unbilligkeit der Forderung seien zu Unrecht verneint worden. Es sei zu
berücksichtigen, dass das den Freibetrag übersteigende Vermögen unter Berücksichtigung des vom Beklagten zugrunde gelegten
Bedarfs im Oktober 2006 aufgebraucht gewesen wäre. Der Beklagte habe ihm für die Zeit von Juni 2006 bis Oktober 2006 nur 6.093
€ bewilligt, so dass der Rückforderungsbetrag diesen Betrag um 25.140,72 € übersteige. Der Beklagte würde im Fall einer Realisierung
der Forderung damit deutlich besser gestellt, als im Fall einer ordnungsgemäßen Angabe des Vermögens.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 20.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
30.08.2018 die Forderung des Jobcenters aus dem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16.12.2013 in Höhe eines Teilbetrages
von 25.140,72 € zu erlassen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Während des erstinstanzlichen Verfahrens ist die Gesamtforderung iHv 31.441,28 € durch Konten- und Lohnpfändungen getilgt
worden.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.05.2020 abgewiesen. Voraussetzung
für einen Erlass sei der Fortbestand der Forderung. Diese sei aber im Wege der Vollstreckung erloschen. Eine Änderung der
Klage auf Rückzahlung der gezahlten Beträge iSv §
76 Abs.
2 Nr.
3 Alt. 2
SGB IV sei nicht erfolgt. Die Einziehung sei nicht unbillig iSd §
76 Abs.
2 Nr.
3 Alt. 1
SGB IV gewesen. Ein Erlass bzw. die Rückerstattung von bereits beglichenen Forderungen komme nur in Ausnahmefällen in Betracht.
Die Einziehung der Forderung sei weder aus persönlichen noch aus sachlichen Gründen unbillig gewesen. Der Kläger habe in betrügerischer
Absicht über Jahre falsche Angaben gemacht, um Leistungen zu erhalten. Er könne nicht verlangen, im Wege des Erlasses so gestellt
zu werden, als ob er wahrheitsgemäße Angaben gemacht hätte, weil ein fiktiver Vermögensverbrauch nicht der Rechtslage entspreche.
Zudem stehe nicht fest, dass der Kläger nicht über weiteres Einkommen oder Vermögen verfügt habe. Die Vermögensverhältnisse
des Klägers seien undurchsichtig, weil die Erstattungsforderung iHv 31.000 € binnen zwei Jahren durch Vollstreckung erloschen
sei.
Am 10.06.2020 hat der Kläger Berufung eingelegt. Es sei zu berücksichtigen, dass er im streitgegenständlichen Zeitraum nur
aufstockend Leistungen bezogen habe. Durch den Einsatz seiner Arbeitskraft habe er den entstandenen Schaden gemindert. Auch
die schnelle Tilgung der Forderung sei nur durch seine Erwerbstätigkeit möglich gewesen. Im Wege der Lohnpfändung seien Beträge
zwischen 550 € und 800 € monatlich in Abzug gebracht worden. Der Einsatz seiner Arbeitskraft zur schnelleren Tilgung der Forderung
sei zu honorieren.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.05.2020 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides
vom 20.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 zu verpflichten, die im Wege der Zwangsvollstreckung
getilgte Forderung des Jobcenters aus dem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16.12.2013 in Höhe eines Teilbetrages von
25.140,72 € an ihn zurückzuzahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Bei Bezug höherer Leistungen wäre auch der Erstattungsbetrag höher
ausgefallen, weshalb dem Kläger der Umstand, dass er nur aufstockend Leistungen bezogen hat, bereits zugutekomme. Der Verweis
des Klägers auf die Tilgung der Forderung aufgrund des Einsatzes seiner Arbeitskraft greife nicht, weil die Beitreibung lediglich
zwangsweise erfolgt sei.
Die Bundesagentur für Arbeit hat auf Nachfrage des Senats ausgeführt, den Widerspruchsbescheid vom 30.08.2018 am selben Tag
zur Post gegeben und per einfacher Briefpost übersandt zu haben.
Der Senat hat die Beteiligten zu einer Umstellung des Passivrubrums von der Bundesagentur für Arbeit auf den Beklagten angehört.
Die Beteiligten haben ihr diesbezügliches Einverständnis und ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten
verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 20.07.2018
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Verpflichtung
des Beklagten zum Teilerlass der Forderung aus dem Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16.12.2013 iHv 25.140,72 € und auf
Rückzahlung dieses Betrages.
Klagegegner ist das Jobcenter M, vertreten durch die Bundesagentur für Arbeit. Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten
das Passivrubrum entsprechend geändert. Der angefochtene Bescheid über die Ablehnung des Forderungserlasses vom 20.07.2018
wurde von der Bundesagentur für Arbeit ausdrücklich namens und im Auftrag des Beklagten erlassen. Auch der Widerspruchsbescheid
vom 30.08.2018 macht hinreichend deutlich, dass die Bundesagentur für Arbeit allein im Rahmen dieses Auftrags und damit nicht
in eigenem Namen handelte. Dies entspricht sowohl der zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidungen geltenden "Zusatzverwaltungsvereinbarung
nach § 44b Abs. 4 SGB II" aus Dezember 2017 als auch der nunmehr geltenden Zusatzverwaltungsvereinbarung aus Dezember 2020. Es ist davon auszugehen,
dass der Kläger von Beginn an eine Entscheidung des Beklagten herbeiführen wollte, da der angefochtene Bescheid ein Bescheid
des Beklagten ist und die Bundesagentur für Arbeit nur im Namen des Beklagten gehandelt hat. Der Umstand, dass die Bundesagentur
für Arbeit zunächst als Beklagte aufgeführt war, stellt eine unbeachtliche beiderseitige Falschbezeichnung dar. Auf die Einhaltung
der Klagefrist hat die Änderung des Passivrubrums keine Auswirkungen (BSG Urteil vom 10.03.2011 - B 3 P 1/10 R).
Streitgegenstand des Verfahrens sind ein Anspruch des Klägers auf (teilweisen) Forderungserlass unter entsprechender Aufhebung
des Bescheides vom 20.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 und ein Anspruch auf entsprechende
Erstattung der gezahlten Beträge. Der Kläger hat den erstinstanzlich noch als Verpflichtungsklage (§
54 Abs.
1 Satz 1
SGG) auf Forderungserlass gerichteten Klageantrag wegen der zwischenzeitlichen Begleichung der Forderung im Berufungsverfahren
zulässig um eine unechte Leistungsklage (§
54 Abs.
4 SGG) ergänzt. Die Voraussetzungen einer zulässigen Klageerweiterung gem. §
99 Abs.
1 SGG liegen vor, da die Klageänderung sowohl sachdienlich ist als auch der Beklagte dem geänderten Klageantrag durch rügelose
Einlassung (§
99 Abs.
2 SGG) zugestimmt hat. Voraussetzung für den Zahlungsanspruch ist eine Verpflichtung des Beklagten, die Forderung in Höhe des geltend
gemachten Zahlungsanspruchs zu erlassen, weshalb der Kläger zutreffend auch weiterhin den Ablehnungsbescheid vom 20.07.2018
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.08.2018 angreift. Eine Bestandkraft dieses Bescheides würde dem geltend gemachten
Zahlungsanspruch entgegenstehen.
Die Klage ist innerhalb der Monatsfrist des §
87 Abs.
1 Satz 1, Abs.
2 SGG erhoben worden. Die Fiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X, wonach ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe
zur Post als bekanntgegeben gilt, greift nicht. Voraussetzung für die Fiktion ist der Beweis des Tages, an dem das Schriftstück
zur Post gegeben wurde. Ein Anscheinsbeweis für die Aufgabe eines Schriftstücks zur Post kann durch in den Verwaltungsvorgängen
dokumentierten Ab-Vermerk geführt werden, wenn dieser nicht nur die Aufgabe des Schriftstücks in das Postausgangsfach, sondern
die Übergabe an das Beförderungsunternehmen dokumentiert (OVG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 01.04.2003 - 15 A 2468/01; VG Berlin Urteil vom 18.05.2018 - 19 K 372.15). Aufgrund des Fehlens eines Ab-Vermerks ist die Aufgabe des Widerspruchsbescheides
zur Post am 30.08.2018 nicht dokumentiert. Für die Berechnung der Klagefrist ist damit nicht die Bekanntgabefiktion des §
37 Abs. 2 Satz 1 SGB X maßgeblich (so auch LSG Schleswig-Holstein Urteil vom 20.03.1998 - L 3 Ar 44/97), sondern abzustellen ist auf die Angabe
des Klägers, wann er den Bescheid erhalten hat (VG Göttingen Urteil vom 01.03.2018 - 2 A 165/16). Mit dem Eingangsstempel des Klägerbevollmächtigten ist damit von einem Eingang des Widerspruchsbescheides am 03.09.2018
auszugehen, so dass die Klageerhebung am 04.10.2018 (§
64 Abs.
3 SGG) rechtzeitig erfolgt ist.
Rechtsgrundlage für einen Forderungserlass ist § 44 SGB II. Hiernach dürfen die Träger von Leistungen nach dem SGB II Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. § 44 SGB II vermittelt nach dem Urteil des BSG im hier betroffenen Verfahren über den Bestand der Forderung (Urteil vom 25.04.2018 - B 4 AS 29/17 R) einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Forderungserlass.
Da § 44 SGB II nach der Gesetzesbegründung an §
76 Abs.
2 Nr.
3 SGB IV angelehnt ist und dieser wiederum an §
227 AO, wird vertreten, dass zur Auslegung die zu der Vorgängervorschrift von §
227 AO ergangene Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes aus dem Jahr 1971 (Gemeinsamer Senat
der obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschluss vom 19.10.1971 - GemS-OGB 3/70) heranzuziehen sei. Danach sei davon auszugehen, dass der Begriff der Unbilligkeit in den Ermessensbereich hineinreiche
und zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimme. Führe eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens
zu dem Ergebnis, dass die Einziehung des Anspruchs unbillig wäre, zwinge dies zur Gewährung des Erlasses; für weitere Ermessenserwägungen
sei kein Raum mehr. Umgekehrt führe eine Verneinung der Unbilligkeit im Rahmen der Ermessensausübung zwingend zur Ablehnung
des Erlasses. Die gerichtliche Überprüfung beschränke sich - neben der Prüfung der formalen Voraussetzungen des Bescheides
- somit auf die Frage, ob der Leistungsträger überhaupt von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und er sämtliche
relevanten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt habe sowie ob die von ihm erkennbar zugrunde gelegten Erwägungen zur Frage
der Unbilligkeit seine Entscheidung tragen (BSG Urteil vom 04.03.1999 - B 11/10 AL 5/98 R; Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl., § 44 Rn. 5 f; Burkiczak in JurisPK SGB II § 44 Rn. 19).
Demgegenüber ist der Senat der Auffassung, dass der Begriff der Unbilligkeit der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt.
Nach der grundlegenden Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist bei Kopplungsvorschriften,
in denen ein unbestimmter Rechtsbegriff mit der Ausübung von Ermessen verbunden wird, nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen
Vorschrift zu entscheiden, ob sie in den Bereich der Ermessensbetätigung oder der Rechtsanwendung führt (Gemeinsamer Senat
der obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschluss vom 19.10.1971 - GemS-OGB 3/70). Die Entscheidung über die Unbilligkeit eines Forderungseinzugs iSd § 44 SGB II weist einen deutlichen Grundrechtsbezug auf. Gründe, der Behörde gerade bei der Ausfüllung dieses Rechtsbegriffs einen Beurteilungsspielraum
einzuräumen, sind nicht ersichtlich. Daher ist es - auch im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes gem. Art.
19 Abs.
4 GG - naheliegender, eine volle gerichtliche Kontrolle über den unbestimmten Rechtsbegriff anzunehmen und nicht lediglich eine
Kontrolle iSd §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG hinsichtlich der Frage, ob Ermessenfehler iSd § 39 Abs. 1 SGB vorliegen, durchzuführen (wie hier Conradis in Münder/Geiger, SGB II, 7. Aufl., § 44 Rn. 9; im Ergebnis ebenso zu einer Kopplung des Rechtsbegriffs der Unbilligkeit mit einer Ermesseneinräumung im Leistungsrecht
BSG Urteil vom 24.04.1975 - 8 RU 36/74). Der Umstand, dass nach der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 25.04.2018 - B 4 AS 29/17 R im Rahmen der Entscheidung über den Erlass die fehlende Ermessenbetätigung bei der Entscheidung über die Aufhebung des
Bewilligungsbescheides ausgeglichen werden soll, spricht nicht gegen die Annahme einer vollen gerichtlichen Überprüfung der
Unbilligkeitsvoraussetzungen. Käme die Behörde bei der Entscheidung über die Aufhebung eines Verwaltungsakts zu dem Ergebnis,
dass diese (teilweise) unbillig wäre, wäre das Ermessen auf Null reduziert, denn eine unbillige Entscheidung kann nicht rechtmäßig
sein.
Der Beklagte war befugt, die Bescheiderteilung durch die Bundesagentur für Arbeit in seinem Namen durchführen zu lassen. Zwar
ist der Beklagte als gemeinsame Einrichtung nach § 44b Abs. 1 SGB II originär für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständig. Die Möglichkeit, die Bundesagentur für Arbeit
zu einer Bescheiderteilung im Namen des Beklagten zu ermächtigen, ergibt sich aus § 44b Abs. 4 SGB II. Hiernach kann das Jobcenter als gemeinsame Einrichtung einzelne Aufgaben auch durch die Träger (hierzu gehört gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II die Bundesagentur für Arbeit) wahrnehmen lassen. Voraussetzung ist gem. § 44c Abs. 2 Nr. 4 SGB II ein Beschluss der Trägerversammlung, der hier vorliegt. Mit den "Zusatzverwaltungsvereinbarungen" haben der Beklagte und
die Bundesagentur für Arbeit öffentlich-rechtliche Verträge iSv § 53 SGB X abgeschlossen, die die Bundesagentur für Arbeit wirksam zur Entscheidung über den Erlassantrag im Namen des Beklagten ermächtigt
haben.
Die Einziehung der Forderung war nicht unbillig iSd § 44 SGB II.
Nach dem im vorliegenden Rechtszug zur Feststellung der Forderung ergangenen Urteil des BSG vom 25.04.2018 - B 4 AS 29/17 R eröffnet § 44 SGB II nicht nur die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen besonderen persönlichen Umständen Rechnung zu tragen (Erlass wegen persönlicher
Unbilligkeit). Vielmehr kann eine Billigkeitsmaßnahme auch angezeigt sein, wenn die Anwendung einer in ihren generalisierenden
Wirkungen verfassungsmäßigen Regelung im Einzelfall zu Grundrechtsverstößen führt, solange nicht die Geltung des Gesetzes
unterlaufen wird. Davon ist vor allem auszugehen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs im Einzelfall zwar dem Wortlaut
einer Vorschrift entspricht, sie aber nach dem Zweck des zugrunde liegenden Gesetzes nicht zu rechtfertigen ist und dessen
Wertungen zuwiderläuft. Zu berücksichtigen ist danach hier, dass die eine Ermessensbetätigung in den Fällen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ausschließende Vorschrift des §
330 Abs.
2 SGB III nach Entstehungsgeschichte und Systematik allein der Verfahrensökonomie dient, nicht aber jeden Übermaßeinwand bei der Rücknahme
anfänglich rechtswidriger begünstigender Leistungsbewilligungen ausschließen soll. Durch den Ausschluss der Ermessensausübung
soll die Berücksichtigung atypischer Besonderheiten, denen ansonsten im Rahmen der Ermessensbetätigung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X auch bei fehlendem Vertrauensschutz Rechnung zu tragen sein kann, nicht ausgeschlossen sein.
Besondere persönliche Umstände, die gegen eine Einziehung der Forderung sprachen, lagen nicht vor und werden vom Kläger auch
nicht geltend gemacht. Vielmehr konnte die Forderung zwischen 2018 und 2020 durch die von der Beklagten veranlasste Konten-
und Lohnpfändung innerhalb relativ kurzer Zeit beglichen werden, so dass der ursprüngliche Vortrag des Klägers, er habe eine
dauerhafte Existenz an der Pfändungsfreigrenze zu befürchten, nicht zutreffend ist. Der Kläger steht in einem Beschäftigungsverhältnis,
in dem er ein monatliches Nettoeinkommen ca. zwischen 1.800 € und 2.100 € erzielt, das sein Existenzminimum deutlich übersteigt.
Die Anwendung der Erstattungspflicht gem. § 50 Abs. 1 SGB X führt vorliegend nicht zu einem Grundrechtsverstoß. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs ist nach dem Zweck des zugrundeliegenden
Gesetzes zu rechtfertigen und läuft dessen Wertungen nicht zuwider. Die Entstehung der Erstattungsforderung beruht nicht auf
atypischen Besonderheiten, die - wäre eine Ermessensausübung nicht gem. §§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II, 330 Abs.
2 SGB III ausgeschlossen - schon bei der Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligungsbescheide hätten berücksichtigt werden müssen.
Das Übermaßverbot gebietet eine Reduzierung der Forderung nicht:
Die Regelungen der §§ 45, 48 und 50 SGB X sollen sicherstellen, dass grundsätzlich nur rechtmäßig zustehende Leistungen behalten werden dürfen, wenn der Leistungsempfänger
- wie hier - keinen Vertrauensschutz genießt. Eine volle, nicht reduzierte Erstattungspflicht entspricht diesem Gesetzeszweck.
Die Höhe der Erstattungsforderung und insbesondere der Umstand, dass diese den Betrag des anzurechnenden oder auch nur vorhandenen
Vermögens deutlich übersteigt, sind eine typische Folge der Rechtslage, wonach bei verschwiegenem Vermögen der Leistungsanspruch
dauerhaft nicht besteht. Es liegt auch nicht evtl. deshalb ein atypischer Sachverhalt vor, weil das Vermögen des Klägers den
maßgeblichen Freibetrag etwa nur ganz geringfügig überschritten hätte (hierzu Becker in SGb 2018, 133). Auch das Übermaßverbot ist nicht betroffen. Denn die Rückforderung der gesamten zu Unrecht bezogenen Leistungen trägt dem
Umstand Rechnung, dass - wie der Senat bereits in dem Urteil vom 29.07.2019 (L 7 AS 395/16) ausgeführt hat - anderenfalls ein redlicher Antragsteller, der sein Vermögen ordnungsgemäß angibt, sich aber einer Verwertung
verweigert und deshalb dauerhaft keine Grundsicherungsleistungen erhält oder eine Person, die wegen vorhandenen Vermögens
erst gar keinen Leistungsantrag stellt, schlechter gestellt würden als derjenige, der sein Vermögen vorsätzlich verschweigt,
Leistungen erhält und dessen Erstattungsbetrag später auf den die Freibeträge übersteigenden Vermögensanteil beschränkt wird.
Eine die Gleichbehandlung mit redlichen Personen herstellende Rechtsfolge kann indes nicht übermäßig hart und damit verfassungswidrig
sein. Der Einwand des Klägers, bei ordnungsgemäßer Angabe seines Vermögens wäre er gezwungen gewesen, dieses zu verbrauchen,
ist überdies hypothetisch und nicht zwingend. Ebenso gut ist es möglich, dass der Kläger sich dann veranlasst gesehen hätte,
seinen Bedarf zu vermindern oder anderweitig zu decken, um sein Vermögen zu schonen.
Auch im Übrigen sind Gesichtspunkte für einen Grundrechtsverstoß nicht ersichtlich.
Da der Kläger keinen Anspruch auf Erlass der Forderung hat, besteht auch kein Rückerstattungsanspruch in entsprechender Anwendung
von §
76 Abs.
2 Nr.
3 Hs. 2
SGB IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus 193
SGG.
Der Senat hat die Revision gemäß §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.