Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (
OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Gewalt und sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der 1962 geborenen Klägerin.
Am 16.09.1999 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung beim damals zuständigen Versorgungsamt C nach dem
OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen rührten von Gewalttaten/Missbrauch im Elternhaus sowie vom sexuellen Missbrauch durch
einen Fremden in der vierten Klasse her. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis
1980 zugetragen.
Das Versorgungsamt zog im Rahmen seiner Amtsermittlung eine Vielzahl von Arztberichten insbesondere über psychiatrische Behandlungen
der Klägerin bei und holte eine schriftliche Aussage ihrer Tante G ein. Zudem hörte es die Klägerin an.
Mit Gutachten vom 26.09.2001 stellte die Fachärztin für Neurologie und psychotherapeutische Medizin Dr. X für das Versorgungsamt
zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen
und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik
sei nicht zu entscheiden, ob die psychische. Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne oder mindestens gleichwertig
auf Gewalttaten im Sinne des
OEG zurückzuführen sei.
Mit Bescheid vom 15.10.2001 lehnte das Versorgungsamt C daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung ab. Die
psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen,
Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem
diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich.
Den am 25.10.2001 eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 14.5.2002
zurück. Es sei nicht feststellbar, dass das Krankheitsbild der Klägerin gleichwertig oder überwiegend auf reale Misshandlungen
und sexuellen Missbrauch zurückzuführen sei.
Am 14.06.2002 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Gewährung von Opferentschädigung weiterverfolgt
und ihre beim Versorgungsamt gemachten Angaben wiederholt hat.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klägerin, ihre Tante G sowie die Eltern und die Brüder U. und T1. der Klägerin als Zeugen vernommen bzw. in Amtshilfe
vernehmen lassen. Auf die Protokolle der Zeugenaussagen wird im Einzelnen verwiesen.
Das Sozialgericht hat des Weiteren ein Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische
Medizin sowie Sozialmedizin Dr. T sowie ein Zusatzgutachten auf aussagepsychologischem Gebiet der Diplom-Psychologin I eingeholt.
Die psychologische Sachverständige ist bei der Begutachtung und Darstellung der Ergebnisse laut ihrem Gutachten nach den Standards
wissenschaftlich fundierter Glaubhaftigkeitsbegutachtung vorgegangen, wie sie im Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs in
Strafsachen vom 30.07.1999 (BGHSt 45, 164-182) dargelegt seien. Danach könnten die Angaben der Klägerin zu körperlichen Misshandlungen durch den Vater, körperlichen
Misshandlungen durch die Mutter im Kindesalter und sexuellen Übergriffen des Vaters nicht mit ausreichender Sicherheit als
glaubhaft bewertet werden. Es sei anzunehmen, dass manche der berichteten Erinnerungen an Misshandlungen wahr und manche eine
Mischung aus Fakten und Imagination und andere falsch sein könnten. Eine Abgrenzung originärer Erinnerungen von gänzlich vorstellungsbasierten
oder mit Vorstellungen vermischten Gedächtnisinhalten sei mit aussagepsychologischen Mitteln nicht gelungen.
Gestützt auf das aussagepsychologische Gutachten ist die psychiatrische Sachverständige Dr. T mit Gutachten vom 23.06.2005
zu dem Ergebnis gelangt, die Gesundheitsstörungen der Klägerin seit 1999 seien wahrscheinlich nicht auf reale Misshandlungen
und realen Missbrauch zurückzuführen, sondern auf ein Zusammenwirken ungünstiger familiärer und sozialer Bedingungen in Kindheit
und Jugend, welche die Persönlichkeitsentwicklung gestört hätten. Die psychische Störung der Klägerin sei auf einen Milieuschaden
im weitesten Sinne zurückzuführen und nicht mindestens gleichwertig auf Gewalttaten i.S.d. Gesetzes. Als Auslöser für die
zunächst als Angststörung in Erscheinung getretenen Gesundheitsstörungen seien übereinstimmend und plausibel zerebrale Krampfanfälle
mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit angegeben worden. Des Weiteren seien als aktuelle Auslöser problematische
Situationen in der Ehe und später im Zusammenhang mit dem Studium dargestellt werden.
Mit dem angefochtenen Urteil vom 29.08.2008 hat das SG Detmold die auf Gewährung von Versorgung unter Aufhebung der angefochtenen
Bescheide gerichtete Klage abgewiesen. Eine posttraumatische Belastungsstörung bestehe bei der Klägerin nicht. Die bei ihr
vorliegende Gesundheitsstörung, Angst und depressive Störung gemischt, sei nicht mindestens annähernd gleichwertig auf körperliche
Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch der Klägerin zurückzuführen. Für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung
fehle es an einem traumaauslösenden Ereignis. Von den Angaben der Klägerin könne aufgrund der aussagepsychologischen Begutachtung
nur eine Ohrfeige der Mutter als glaubhaft zugrundegelegt werden. Im Übrigen seien die Angaben zu körperlichen Misshandlungen
durch die Eltern und zu sexuellen Übergriffen des Vaters nach den überzeugenden Ausführungen der aussagepsychologischen Sachverständigen
unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstands nicht mit hinreichender Sicherheit als glaubhaft zu
bewerten. Die bei der Klägerin auftretenden wiederkehrenden Gesundheitsstörungen seien nach den überzeugenden Ausführungen
der Sachverständigen Dr. T auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen zurückzuführen, die schon
früh zu einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung geführt und die Klägerin später daran gehindert hätten, Belastungsmomente
adäquat zu verarbeiten.
Mit ihrer am 31.10.2008 gegen das am 02.10.2008 zugestellte Urteil eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren
weiter und kritisiert das Ergebnis der erstinstanzlichen Begutachtung. Die das Gutachten des von ihr benannten Sachverständigen
T1 habe nunmehr ergeben, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, weil sie in ihrer Kindheit körperlich
misshandelt und sexuell missbraucht worden sei.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29.8.2008 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 15.10.2001
in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. 5. 2002 zu verurteilen, ihr Versorgung nach dem
OEG nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil und die erstinstanzlichen Beweiserhebung.
Auf Antrag der Klägerin ist ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie T1 eingeholt worden.
Der Sachverständige hat die von der Sachverständigen I angewandte aussagepsychologische Methode kritisiert. Die Aussagepsychologie
könne ebenso wenig wie der psychiatrisch-diagnostische Zugang im Einzelfall klären, ob eine Handlung tatsächlich real stattgefunden
habe oder nicht. Nach dem Verfahren der Aussagepsychologie, bei dem der gesamte Untersuchungsablauf dazu diene, eine spezifische
Unwahrannahme zu widerlegen, sei die Wahrscheinlichkeit eine wahre Aussage als unwahr zu klassifizieren, aber höher als umgekehrt.
Der Sachverständige hat bei der Klägerin unter anderem eine chronifizierte komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
mit dissoziativen Symptomen diagnostiziert, die im Sinne der Entstehung auf die von der Klägerin geschilderten Misshandlungen
und den sexuellen Missbrauch zurückzuführen und mit einem Grad der Schädigung (GdS) von 60 zu bewerten sei. Bei der Klägerin
könnten Hilfskriterien eine PTBS und die zugrunde liegenden schädigenden Ereignisse wahrscheinlich machen, auch wenn sie krankheitsbedingt
nicht zu deren ausdrücklichen Schilderung in der Lage sei.
Mit ergänzender Stellungnahme vom 20.04.2011 hat die Sachverständige Dr. T darauf hingewiesen, der Sachverständige T1 habe
selber ausgeführt, er könne nicht die Wahrhaftigkeit der Angaben der Klägerin prüfen, sondern nur eine Diagnose stellen und
abwägen. Aus der von ihm gestellten Diagnose komplexe PTBS könne jedoch nicht rückwirkend auf das Vorliegen schwerer körperlicher
und sexueller Gewalt i.S.d.
OEG geschlossen werden.
Die Mutter der Klägerin und ihr Bruder T1. haben gegenüber dem Senat schriftlich angekündigt, sich im Fall einer Zeugenvernehmung
wie in der ersten Instanz auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen zu wollen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten und die Streitakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne die Klägerin und ihre Prozessbevollmächtigte verhandeln und aufgrund einseitiger mündlicher Verhandlung
entscheiden, weil ihre ordnungsgemäße Ladung sie auf diese Möglichkeit hingewiesen und Anlass zur Vertagung nicht bestanden
hat, vergleiche §§
110 Abs.
1 S. 2, 126
Sozialgerichtsgesetz (
SGG).
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Die Berufung ist zutreffend gegen den beklagten Landschaftsverband gerichtet, obwohl den angefochtenen Ausgangsbescheid noch
das Versorgungsamt Münster erlassen hatte. Durch die Übertragung der den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen
Entschädigungsrechts mit Wirkung vom 1. 1. 2008 auf die Landschaftsverbände ist es zu einem Beklagtenwechsel kraft Gesetzes
gekommen (BSG, Urt. v. 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R, Juris Rn. 20).
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Versorgung nach §
1 OEG in Verbindung mit § 31 BVG, weil sich vorsätzliche, rechtswidrige, tätliche Angriffe auf die Klägerin im Sinne von §
1 Abs.
1 S. 1
OEG, der jedenfalls in einem Umfang zur Verursachung der heute bei ihr bestehenden Gesundheitsschäden geeignet wäre, nicht haben
feststellen lassen.
Nach §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG erhält Versorgung nach den Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs gegen seine Person
eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen für eine soziale Entschädigung nach
dem
OEG, zu denen das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs im Sinne von §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG zählt, müssen grundsätzlich nachgewiesen, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad
der Wahrscheinlichkeit festgestellt worden sein, dass kein vernünftiger Zweifel mehr besteht (Landessozialgericht Nordrhein
- Westfalen - LSG NRW - , Urt. v. 29.09.2010 - L 6 (7) VG 16/05, Juris Rn. 23 m.w.Nw.).
Unter Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hält der Senat es nicht in einem die volle richterliche Überzeugung begründenden
Maß für wahrscheinlich, dass die Klägerin in ihrer Kindheit und Jugend Opfer der von ihr behaupteten körperlichen und sexuellen
Misshandlungen und damit von Angriffen im Sinne von §
1 Abs.
1 S. 1
OEG geworden ist. Zur Begründung verweist der Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des SG, denen er folgt, und sieht von einer weiteren Darstellung in den Entscheidungsgründen ab, §
153 Abs.
2 SGG.
Wie das SG zu Recht dargelegt hat, hat keiner der von ihm vernommenen Zeugen die von der Klägerin behaupteten anhaltenden und wiederholten
Gewalttätigkeiten durch ihren Vater und ihre Mutter und erst recht nicht den von ihrem Vater angeblich verübten sexuellen
Missbrauch bestätigt. Der jüngere Bruder U. der Klägerin hat die von ihr beschriebenen Gewalttätigkeiten weitgehend verneint
bzw. sie als Teil einer seltenen, jeweils anlassbezogenen Züchtigung geschildert. Über sexuelle Misshandlungen durch den Vater
wusste er nichts. Der Vater der Klägerin hat ihre Vorwürfe energisch und entschieden bestritten und als reine Erfindungen
dargestellt. Seine Tochter sei "pflegeleicht" gewesen und es habe keinen Anlass zu Gewalttätigkeiten gegeben. Die Zeugen G
hat zwar eine von Gewalt geprägte Atmosphäre der Familie der Klägerin beschrieben. Aus eigener Anschauung konnte sie aber
mit wenigen Ausnahmen konkrete Gewalttätigkeiten gegen die Klägerin nicht wiedergeben. Der von ihr beobachtete heftige Schlag
durch den Vater der Klägerin, selbst wenn man ihn mit dem SG als wahr unterstellt, obwohl der Vater der Klägerin ihn bestritten hat, genügte für sich genommen nach den überzeugenden
Einschätzung der Sachverständigen Dr. T nicht, um die gravierenden seelischen Erkrankungen der Klägerin zu verursachen. Dasselbe
gilt für zwei von der Zeugin beobachtete Schläge, die die Mutter der Klägerin ihr mit der Hand versetzt hat. Ebenso wenig
wie das SG hat der Senat auf der Grundlage der protokollierten Zeugenaussagen ausreichende Anhaltspunkte, um deren Inhalt grundsätzlich
infrage zu stellen. Warum der Senat insbesondere ihrem Bruder U. keinen Glauben schenken sollte, hat die Klägerin nicht stichhaltig
begründet. Der Senat folgt daher der Beweiswürdigung des SG, das keine generellen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugen dargelegt hat. Der Senat hat daher nach §
118 Abs.
1 S. 1
SGG i.V.m. §
398 Abs.
1 Zivilprozessordnung (
ZPO) sein von diesen Vorschriften eingeräumtes Ermessen dahingehend ausgeübt, die genannten Zeugen nicht erneut zu vernehmen
(vgl. Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl., §
157 Rdn. 2 c m.w.N.). Angesichts des langen Zeitablaufs seit der Zeugenvernehmung durch das SG und mangels neuer Erkenntnisse zu den angeschuldigten Ereignissen, die noch wesentlich länger zurück liegen, geht der Senat
davon aus, dass eine erneute Zeugenvernehmung nicht ergiebig gewesen wäre und lediglich die Aussagen aus der ersten Instanz
bestätigt hätte. Insbesondere lagen dem Senat keine detaillierten und gesicherten Tatsachen vor, die er dem vermeintlichen
Täter hätte entgegen halten könnten. Die Mutter der Klägerin und ihr Bruder T1. haben gegenüber dem Senat schriftlich angekündigt,
im Fall einer Vernehmung durch den Senat erneut das Zeugnis nach §
118 Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung §
383 Abs.
1 Nr.
3 ZPO aus persönlichen Gründen zu verweigern. Der Senat hat deswegen nach §
118 Abs.
1 Satz 1
SGG in Verbindung mit §
386 Abs.
3 ZPO auf ihre erneute Ladung zur Vernehmung verzichtet.
Ebenso wenig vermag sich der Senat allein auf der Grundlage der Aussage der Klägerin die volle richterliche Überzeugung vom
Vorliegen der Voraussetzungen des §
1 Abs.
1 S. 1
OEG zu bilden. Zwar kann sich eine Entscheidung in freier Beweiswürdigung allein auf den Beteiligtenvortrag stützen, wenn dieser
glaubhaft ist, der Lebenserfahrung entspricht und nicht zu anderen festgestellten Tatsachen im Widerspruch steht (Meyer-Ladewig,
in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, §
128 Rdn. 4 m.w.N.). Der Senat betrachtet die Aussage der Klägerin in wesentlichen Teilen aber nicht als glaubhaft. Denn sie widerspricht
im Kern denjenigen ihres Vaters und ihres Bruders U ... Die dadurch begründeten ernstlichen Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen
des §
1 Abs.
1 Satz 1
OEG hat die aussagepsychologischen Begutachtung der Klägerin durch die vom SG beauftragte Sachverständige I nicht ausgeräumt, sondern sogar bestärkt. Zur Begründung verweist der Senat zunächst auf die
zutreffende Bewertung der Aussage der Klägerin durch das SG, der er folgt, und sieht von einer weiteren Darstellung in den Entscheidungsgründen ab, §
153 Abs.
2 SGG.
Die vom auf Antrag der Klägerin in der Berufungsinstanz gehörten Sachverständigen T1 geäußerte Kritik an der aussagepsychologischen
Begutachtung überzeugt den Senat nicht. Denn theoretischer Ansatz und methodische Vorgehensweise des vom SG eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens entsprechen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Das Gutachten
stützt sich insoweit zu Recht ausdrücklich auf die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Urt. v.
30.07.1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164-182) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte
seitdem in ständiger Rechtsprechung anwenden (vergleiche dazu Pfister, FPPK, 2008, S. 8 ff. m.w.Nw.). Danach ist für Inhalt
und methodischen Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung neben der Hypothese einer Erlebnisfundierung die Bildung relevanter
alternativer Hypothesen zur Erklärung der Aussageentstehung, also von Gegenannahmen zur Wahrannahme, von ausschlaggebender
Bedeutung. Diese Hypothesenbildung stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses
dar (vgl. BGH, Urt. v. 30.07.1999 - 1 StR 618/98, Juris Rn. 13). Sie soll vor allem einem bloßen Sammeln von bestätigenden Informationen entgegenwirken, bei dem ignoriert
wird, dass dieselben Informationen auch mit konkurrierenden Erklärungsmodellen vereinbar wären. Die Begutachtung muss stets
auch die Hypothese in Erwägung ziehen und prüfen, dass eine hypothetisch formulierte Behauptung wie insbesondere die Wahrannahme
unrichtig ist (so genannte Nullhypothese). Die Gesamtbewertung einer Aussage kann dabei stets nur vor dem Hintergrund der
einzelfallspezifischen Besonderheiten und der auf ihrer Grundlage gebildeten Alternativhypothesen zur Wahrannahme vorgenommen
werden (vgl. Greuel u.a., Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage, 1998, S. 203). Wie die vom SG beauftragte aussagepsychologische Sachverständige in Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen ausgeführt hat, sind für den
Einzelfall jeweils sinnvolle, zur Annahme der Erlebnisbasiertheit alternative Hypothesen zu bilden. Die Erlebnishypothese
kann erst dann als gültig betrachtet werden, wenn keine der möglichen Alternativhypothesen mit den erhobenen Daten vereinbar
ist.
Diese aussagepsychologischen Grundsätze hält der Senat für auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar (ebenso LSG NRW, Urt.
v 29.09.2010 - L 6 (7) VG 16/05; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urt. v. 09.09.2008 - L 11 VG 33/08; SG Braunschweig, Urt. v. 10.12.2008 - S 38 VG 40/04, Juris Rn. 38 ff. m.w.Nw.; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 08.07.2010 - L 13 VG 25/07, Juris Rn. 36). Dabei kann dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gelten als Sozialgerichtsprozess.
Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchen Allgemeingültigkeit und entsprechen
dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung ist der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen
Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen kann, vorgelagert und lässt sich davon trennen.
Die nach diesen Grundsätzen von der Sachverständigen gebildete Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen der
Klägerin um irrtümliche, d.h. auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handelt, lässt sich nach den überzeugenden Ausführungen
der Sachverständigen nicht widerlegen, sondern gut mit den vorliegenden Daten vereinbaren. Damit verstärkt die aussagepsychologische
Begutachtung die Zweifel an den Angaben der Klägerin, die bereits durch die Aussage ihres Vaters und ihres Bruders U. begründet
wurden.
Für die von der Sachverständigen aufgestellte Irrtumshypothese spricht schon die Angabe der Klägerin, über lange Jahre praktisch
keinerlei Erinnerungen an die behaupteten Gewalttätigkeiten und den angeblichen sexuellen Missbrauch gehabt zu haben und sich
erst im Laufe ihrer psychiatrischen Behandlungen sowie teilweise erst im Verfahren über ihren Entschädigungsanspruch wieder
an die lange zurückliegenden Vorkommnisse erinnert zu haben. Noch bei ihrer Aussage vor dem Versorgungsamt hat die Klägerin
selber angegeben, sie habe starke Erinnerungslücken hinsichtlich ihrer frühen Kindheit. Wie häufig die Schläge ihrer Eltern
waren, konnte sie nicht mehr sagen. Dass auch ihre Mutter sie geschlagen habe, wisse sie nur aus Erzählungen ihrer Tante.
Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs hat die Klägerin zunächst angegeben, sich daran fast überhaupt nicht erinnern zu können.
Dieses unsichere Fundament der Erinnerungen der Klägerin bestätigt das von der aussagepsychologischen Sachverständigen vorgelegte
Wortprotokoll ihrer Befragung der Klägerin. Diese gibt darin etwa an, wenn sie an so "alte Sachen" denke, seien das ganz viel
auch Emotionen, die eben nicht so mit Worten behaftet seien. Sie habe "so viele Lücken" vor ihrem 12. Geburtstag.
Ohnehin ist in der aussagepsychologischen Forschung umstritten, ob es überhaupt aktuell nicht abrufbare, aber trotzdem zuverlässig
gespeicherte Erinnerungen an lange zurückliegende Ereignisse gibt (vgl. Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata, S.
90 ff.). Nach dem von der aussagepsychologischen Sachverständigen referierten aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand können
implizite Erinnerungen nicht nachträglich in explizite Erinnerungen umgewandelt werden. Der Übersetzungsprozess in eine narrative
Erinnerung ist eine - fehleranfällige - Konstruktion. Viel spricht vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund dafür, dass es
sich bei nach langer Zeit "wiedergefundenen" Erinnerungen wie bei der Klägerin in Wirklichkeit zumindest teilweise um nachträgliche
Konstruktionen handelt, die nicht zwingend tatsächliche Ereignisse widerspiegeln, sondern zumindest auch auf Ängsten, Mutmaßungen
über oder Interpretationen der Vergangenheit beruhen. Das gilt besonders für die von der Klägerin geschilderten "Flash-Backs"
über den angeblichen sexuellen Missbrauch durch ihren Vater. Sie stellen zumeist keine genauen Erinnerungen an tatsächliche
Ereignisse dar, sondern bestehen häufig aus einer komplexen Mischung realer und befürchteter oder vorgestellter Ereignisse.
Ihr Wahrheitsgehalt bedarf stets besonders gründlicher Überprüfung (vgl. Volbert, Beurteilung von Aussagen über Traumata,
S. 39 ff.). Ob sich das Gericht daher bei der Beurteilung solcher "wiedergefundenen" Erinnerungen sachverständiger Hilfe nicht
nur bedienen kann, sondern immer auch muss, obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen sowie Beteiligten, und der
Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen grundsätzlich richterliche Aufgabe ist, kann der Senat dahinstehen lassen (vgl. für den Strafprozess
BGH, Urt. v 16.05.2002 - 1 StR 40/02, juris Rn. 22.). Die Entscheidung des SG für eine aussagepsychologische Begutachtung ist angesichts der Besonderheiten der Aussageentstehung bei der Klägerin im Rahmen
seiner Amtsermittlungspflicht jedenfalls ermessensgerecht.
Vor dem geschilderten wissenschaftlichen Hintergrund hat die Sachverständige I in ihrem Gutachten für das SG überzeugend darauf hingewiesen, dass durch die jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung der
Klägerin mit den fraglichen Gewalterlebnissen die ursprüngliche Wahrnehmung durch nachträgliche Bewertungen überlagert und
damit unzugänglich geworden sein kann. Die Sachverständige leitet aus dieser durch den Entstehungsprozess der Erinnerungen
begründeten Unsicherheit die berechtigte Forderung ab, die Angaben der Klägerin hätten, um als erlebnisbegründet angesehen
zu werden, wegen der Gefahr einer möglichen Verwechslung von Gedächtnisquellen besonders handlungs- und wahrnehmungsnahe,
raum - zeitlich vernetzte Situationsschilderungen enthalten müssen, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet
und konstant wieder gegeben würden (vgl. zu diesem gesteigerten Qualitätsanforderungen angesichts möglicher Fehlerquellen
allgemein Greuel, a.a.O., S. 203 m.w.Nw.). Diese Qualitätsanforderungen, die - wenn auch nicht immer im hier erforderlichen
gesteigerten Ausmaß - ohnehin an jede Aussage von Beteiligten und Zeugen zu stellen sind, erfüllen die Schilderungen der Klägerin
nicht. Denn sie weisen nicht das erforderliche Maß an Detailreichtum, Konkretheit und Konstanz auf und sind nicht ausreichend
situativ eingebettet. Das hat die Sachverständige in ihrer ausführlichen Analyse der von der Klägerin geschilderten Ereignisse,
auf die insoweit im Einzelnen verwiesen wird, überzeugend dargelegt.
Das auf Antrag der Klägerin eingeholte Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie T1 vom 25.09.2009 vermag dieses
überzeugende Ergebnis der aussagepsychologischen Begutachtung nicht zu entkräften. Obwohl unter anderem nach der Glaubhaftigkeit
der Aussagen der Klägerin befragt, hat der Sachverständiger keine hypothesengeleitete Analyse dieser Aussagen nach den oben
genannten wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommen. Ein Wortprotokoll seiner Exploration konnte er dem Senat nicht zur Verfügung
stellen. Dies schränkt die objektive Überprüfbarkeit seiner Untersuchungsergebnisse stark ein. Die Behauptung des Sachverständigen,
die Klägerin sei krankheitsbedingt nicht zu einer expliziten Schilderung der schädigenden Ereignisse in der Lage, widerspricht
dem Ergebnis der Exploration durch die aussagepsychologische Sachverständige. Sie konnte durchaus konkrete Erinnerungen der
Klägerin erheben, allerdings, wie ausgeführt, nicht von der gesteigerten Qualität, die zur Widerlegung der Irrtumshypothese
erforderlich gewesen wäre. Die Kritik des Sachverständigen T1 an der methodisch und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen
Begutachtung der Klägerin überzeugt den Senat nicht. Der Sachverständige räumt selber ein, als Psychiater die aussagepsychologischen
Begutachtung nicht überprüfen und bewerten zu können und seinerseits durch seinen klinisch - psychiatrischen Zugang nicht
zur Wahrheitsfindung in der Lage zu sein. Sein Vorwurf, nach dem Verfahren der Aussagepsychologie sei die Wahrscheinlichkeit
eine wahre Aussage als unwahr zu klassifizieren höher als umgekehrt, verfängt jedenfalls im vorliegenden Fall nicht. Vielmehr
hat die psychologische Sachverständige bei der von ihr gebildeten Reihe von Hypothesen diejenige der Erlebnisfundierung gleichberechtigt
neben andere Hypothesen gestellt und geprüft.
Der vom Sachverständigen T1 vorgenommene Rückschluss von psychiatrischen Krankheitsanzeichen der Klägerin schließlich, konkret
dem Vorliegen einer von ihm festgestellten PTBS, auf konkrete schädigende Ereignisse im Sinne des §
1 OEG in der Kindheit der Klägerin, ist methodisch nicht haltbar. Der Senat schließt sich insoweit den Ausführungen der von Amts
wegen gehörten psychiatrischen Sachverständigen Dr. T in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20.4.2011 an. Selbst die Diagnose
einer PTBS vorausgesetzt, kann daraus wegen der Vielzahl möglicher Ursachen einer Traumatisierung nicht auf bestimmte juristisch
relevante Taten zurückgeschlossen werden.
Dass somit die anspruchsbegründenden Tatsachen, insbesondere wiederholte Angriffe im Sinne von §
1 Abs.
1 S. 1
OEG durch körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch, nicht bewiesen werden konnten, geht nach dem Grundsatz der objektiven
Beweislast zu Lasten der Klägerin (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Auflage, §
103 Rn. 19 a m.w.Nw.).
Der abgesenkte Beweismaßstab des §
6 Abs.
3 OEG i.V.m. § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) kommt der Klägerin nicht zugute. Nach S. 1 dieser Vorschrift sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf der Schädigung
im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zu Grunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht
zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind und die Angaben
glaubhaft erscheinen.
Diese Vorschrift, die auch im gerichtlichen Verfahren anzuwenden ist, greift nicht nur beim Verlust von Unterlagen, sondern
in analoger Anwendung ebenfalls dann ein, wenn andere Beweismittel wie zum Beispiel Zeugen nicht vorhanden sind. Sie soll
so auch die Beweisnot von Verbrechensopfern lindern, wenn die Tat ohne Zeugen geschieht und sich der Täter seiner Feststellung
entzieht (BSG, Urt. v. 31.05.1989 - 9 RVg 3/89, Juris Rz. 11 ff.).
Liegen dagegen - wie hier - Beweismittel vor und stützen diese das Begehren des Anspruchstellers nicht, kann die Beweiserleichterung
des § 15 KOVVfG nicht angewendet werden, weil diese Norm gerade das Fehlen von Beweismitteln voraussetzt (vgl. LSG NRW, Urt. v. 29.09.2010
- L 6 (7) VG 16/05, Juris Rn. 24).
Selbst wenn man dies anders sehen und trotz des Vorliegens widersprechender Zeugenaussagen den genannten Maßstab der Glaubhaftigkeit
genügen lassen wollte, würde das der Berufung der Klägerin nicht zum Erfolg verhelfen. Denn aufgrund des methodisch einwandfreien
und inhaltlich überzeugenden aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen I steht für den Senat, wie ausgeführt,
fest, dass die Aussagen der Klägerin nicht als ausreichend glaubhaft angesehen werden können, weil zu viele Zweifel an der
Zuverlässigkeit ihrer Erinnerungen verbleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache
Die Revision hat der Senat nach §
160 Abs.
2 Nr.
1 SGG zugelassen, weil die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Anforderungen an aussagepsychologischen Begutachtungen im
Sozialgerichtsverfahren bislang noch nicht grundsätzlich geklärt hat.