Anspruch auf Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren
Anforderungen an die hinreichende Erfolgsaussicht einer Klage
Rüge der fehlerhaften Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheids während des erstinstanzlichen Verfahrens
Gründe
Die Beschwerde ist begründet. Die Klägerin hat für die Zeit ab 15.01.2018 Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
für das vor dem Sozialgericht Dortmund geführte Klageverfahren.
Nach §
73a SGG i.V.m. §§
114,
115 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht
aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet
und nicht mutwillig erscheint. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers
zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung ausgeht. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt
ist der der Entscheidung des Beschwerdegerichts (vgl. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
73a Rn 7a ff.).
1. Die hinreichende Erfolgsaussicht der am 04.12.2017 bei dem SG Dortmund erhobenen Klage kann nicht mit der Begründung verneint
werden, dass diese nicht fristgerecht erhoben und damit unzulässig sei.
a) Die Klägerin hat unwidersprochen geltend gemacht, erstmalig und ausschließlich durch das Fax der Beklagten vom 26.09.2017
Kenntnis von dem Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Münster vom 19.09.2017 erhalten zu haben. Unter Zugrundelegung
der in §
87 Abs.
1 Satz 1
SGG geregelten Klagefrist wäre die Klage verspätet erhoben. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Klägerin lediglich ein "Entwurf"
des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2017 übermittelt wurde, wobei die Bekanntgabe nicht durch die Widerspruchsbehörde, sondern
durch die Beklagte vorgenommen wurde und zudem nicht bekannt ist, ob die Bekanntgabe durch die Beklagte mit Wissen und Wollen
der Widerspruchsbehörde erfolgt ist (vgl. Littmann, in: Hauck/Noftz, § 37 SGB X Rn. 8 m.w.N. aus der Rspr.).
Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine fehlerhafte Bekanntgabe durch rügelose Klageerhebung geheilt werden kann (vgl. Senat,
Urteil v. 31.08.2018 - L 13 SB 276/17; OVG NRW, Beschluss v. 26.10.1994 - 22 B 997/94; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
84 Rn. 4a m.w.N.), hat die Klägerin immer noch die Möglichkeit, die hier vorgenommene fehlerhafte Bekanntgabe während des erstinstanzlichen
Verfahrens zu rügen. Ein gewisses Unbehagen im Hinblick auf Bekanntgabe und Form des Widerspruchsbescheides hat sie bereits
in der Klageschrift vom 29.11.2017 zum Ausdruck gebracht, indem sie auf "einen als Entwurf überschriebenen Widerspruchsbescheid
der Bezirksregierung Münster vom 19.09.2017" abgestellt hat.
b) Geht man davon aus, dass mangels wirksam bekanntgegebenen Widerspruchsbescheides die Sachurteilsvoraussetzungen aktuell
nicht erfüllt sind, führt dies nicht zur Abweisung der Klage als unzulässig. Vielmehr ist in Konstellationen der vorliegenden
Art der Erlass des Widerspruchsbescheides abzuwarten (vgl. nur Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 12. Aufl. 2017, §
78 Rn 3a m.w.N.) und die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht nicht schlechterdings ausgeschlossen (vgl. aber LSG NRW,
Beschluss v. 24.07.2015 - L 20 AY 37/15 B zu einem Sachverhalt, dessen Gegenstand nicht Form- und Bekanntgabemängel eines
Widerspruchsbescheides war).
c) Keine Bedenken hat der Senat im Hinblick auf die von der Klägerin beanstandete Rechtsmittelbelehrung in dem Widerspruchsbescheid
vom 19.09.2017 (bzw. in dessen Entwurf). Insoweit nimmt der Senat gemäß §
142 Abs.
2 Satz 3
SGG Bezug auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses des SG Dortmund vom 01.03.2019.
2. Gleichermaßen besteht im Hinblick auf die mit Schriftsatz vom 23.08.2018 hilfsweise erhobene Untätigkeitsklage eine hinreichende
Erfolgsaussicht. Die Klägerin hat spätestens mit Klageerhebung am 04.12.2017 gegenüber der Beklagten - wenn auch hilfsweise
- einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 SGB X gestellt, den die Beklagte allerdings erst mit Bescheid vom 21.02.2019 beschieden hat. Wie sich den Daten entnehmen lässt,
hat die Klägerin ihre Untätigkeitsklage erst nach Ablauf der in §
88 Abs.
1 Satz 1
SGG geregelten Sperrfrist erhoben.
3. Auch in der Sache lässt sich eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht ausschließen. Nach den gutachtlichen Feststellungen
des im Verwaltungsverfahren gehörten Dr. T leidet die Klägerin unter einer Funktionseinschränkung des rechten Arms mit Verkürzung
und Verschmächtigung sowie einer Handgelenksversteifung rechts, einer Wirbelsäulenfehlstellung sowie unter einem Fehlverlauf
der Kniescheiben in ihren Gleitlagern (seinerzeit ohne Funktionseinschränkungen der Kniegelenke). Insgesamt hat Dr. T lediglich
für die Funktionseinschränkung des rechten Arms einen Einzel-GdB von 40 in Ansatz gebracht, im Hinblick auf die weiteren Befunde/Diagnosen
jedoch keine nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VMG) mit einem Einzel-GdB zu berücksichtigende Teilhabeeinschränkungen feststellen können. Es erscheint im gegenwärtigen
Verfahrensstadium gleichwohl nicht von vornherein ausgeschlossen, dass weitere Ermittlungen zu dem von der Klägerin geltend
gemachten GdB von 50 führen.
5. Die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen sind erfüllt; die Rechtsverfolgung ist auch nicht mutwillig.
6. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§
73a SGG i.V.m. §
127 Abs.
4 ZPO).
7. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§
177 SGG).