Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren
Anforderungen an die hinreichenden Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits über die Anerkennung einer Verschlimmerung von Schädigungsfolgen
bei der Bemessung von Leistungsansprüchen nach dem OEG
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von
Rechtsanwalt L für das Klageverfahren zu Recht abgelehnt.
Nach §
73a SGG i.V.m. §§
114,
115 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht
aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet
und nicht mutwillig erscheint (vgl. hierzu im Einzelnen Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
73a Rn. 7a ff.).
Die Klage hat sich nicht durch eine fiktive Klagerücknahme nach §
102 Abs.
2 Satz 1
SGG erledigt, weswegen das Sozialgericht das Verfahren auch zutreffend weiterführt. Nachdem eine erste Betreibensaufforderung
am 19.03.2020 abgesandt worden, jedoch wieder an das Gericht zurückgegangen ist, wurde die Betreibensaufforderung erneut,
und zwar am 31.03.2020, zugestellt. Dies ergibt sich auch aus der vom Bevollmächtigten übersandten und mit Eingangsstempel
vom 31.03.2020 versehenen Kopie der bei ihm eingegangenen Betreibensaufforderung. Die mit der Betreibensaufforderung angemahnte
Klagebegründung ging am 30.06.2020 und damit innerhalb von drei Monaten ein. Zwar findet sich in der Akte auch eine Zustellungsurkunde,
in der eine Zustellung der Betreibensaufforderung am 21.03.2020 angegeben wird. Angesichts der (ggf. erneuten) Zustellung
am 31.03.2020 lief die 3-Monats-Frist aber jedenfalls erst ab diesem Zeitpunkt.
Die Klage hat jedoch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Die 1982 geborene Klägerin begehrt "Versorgung" nach dem
OEG i.V.m. dem BVG nach einem GdS von mindestens 50 im Rahmen eines im März 2017 gestellten Verschlimmerungsantrags wegen der Folgen einer Vergewaltigung
in ihrem zwölften Lebensjahr (1994), wegen der der Beklagte mit Bescheid vom 25.07.2012 eine PTBS als Schädigungsfolge anerkannt
hat und rückwirkend ab 2010 Rentenleistungen nach einem GdS von 30 gewährt.
Ein allgemein auf "Versorgung" gerichteter Antrag ist unzulässig (vgl. BSG, Urteil vom 27.09.2018 - B 9 V 2/17 R, juris Rn. 15). Die Klägerin hat ihren Antrag trotz eines entsprechenden Hinweises des Sozialgerichts nicht geändert.
Die Klage hat auch in der Sache keinen Erfolg, weil eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 SGB X dergestalt, dass nunmehr Rentenleistungen nach einem höheren GdS als 30 zu gewähren wären, nicht nachgewiesen und eine weitere
Sachaufklärung nicht erforderlich, insbesondere nicht erfolgversprechend ist.
Zu diesem Ergebnis gelangt der Senat insbesondere auf Grundlage des im Wege des Urkundsbeweises (vgl. hierzu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt,
SGG, 13. Aufl. 2020, §
128 Rn. 7f) verwerteten Gutachtens der Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Neurologie, Sozialmedizin Dr. C aus 2019
sowie der versorgungsärztlichen Stellungnahmen insbesondere der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie L1. Die gegenteiligen
Ausführungen der behandelnden Psychotherapeutin Dipl.-Psych. I überzeugen dagegen nicht.
Bei der Klägerin bestehen auf psychiatrischem Gebiet eine PTBS, die zum Teil als komplexe PTBS beschrieben wird, eine rezidivierende
depressive Störung, eine Abhängigkeitserkrankung und jedenfalls nach den insofern übereinstimmenden Gutachten der Ärztin für
Kinderheilkunde, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Ärztin für Psychiatrie sowie Ärztin für Psychotherapeutische Medizin
Dr. K aus 2012 und von Dr. C eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Soweit die Klägerin zum Teil
Selbstverletzungen in Form von Kratzen vornimmt und sich Hinweise auf (weitere) Somatisierungen finden, sind diese als Symptome
der vorgenannten Störungen anzusehen.
Soweit eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, kann diese nicht durch ein einzelnes Ereignis wie die hier zugrunde liegende
Vergewaltigung erklärt werden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 159;
vgl. auch Teil C Nr. 72 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertenrecht 2008).
Die PTBS ist bereits als Schädigungsfolge anerkannt. Soweit eine komplexe PTBS angenommen wird, handelt es sich um eine Diagnose
für mehrfache bzw. langandauernde Traumatisierungen (sog. Typ-II-Traumata, vgl. Hecker/Maercker, Psychotherapeut 6/2015, S.
547 ff.), so dass auch das diesbezügliche Beschwerdebild (im Wesentlichen) nicht auf die Vergewaltigung zurückgeführt werden
kann.
Die Abhängigkeitserkrankung, die rezidivierende depressive Störung und die Selbstverletzungen/Somatisierungen lagen ausweislich
des Gutachtens von Dr. K sämtlich bereits zum Zeitpunkt des Bescheides vom 25.07.2012 vor. Sie sind also nicht im Sinne einer
wesentlichen Änderung hinzugetreten. Wollte die Klägerin geltend machen, diese Erkrankungen seien bislang zu Unrecht nicht
als Schädigungsfolgen anerkannt worden, stellte dies in der Sache ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X dar, das schon mangels entsprechender Bescheide des Beklagten im vorliegenden Verfahren nicht überprüft werden könnte.
Unabhängig davon kann auch nicht festgestellt werden, dass diese Erkrankungen - bis auf die PTBS - wahrscheinlich wesentlich
durch die Vergewaltigung verursacht worden sind. Das Leben der Klägerin ist von Kindheit an durch erhebliche Belastungsfaktoren
geprägt gewesen. Sie wuchs zunächst ohne den heroinabhängigen Vater auf, der 1993 verstarb, als die Klägerin ihn gerade kennengelernt
und Kontakt zu ihm gefunden hatte. Die Mutter war und ist alkoholkrank und hat die Klägerin von klein auf erheblich vernachlässigt.
Noch vor der Vergewaltigung hatte die Klägerin angefangen, Alkohol zu konsumieren. Nicht lange nach der Vergewaltigung starb
die für sie wichtige Großmutter. Die Mutter der Klägerin gab dieser die Schuld dafür, dass der Großmutter nicht rechtzeitig
geholfen worden sei. 1994 hatte die Klägerin einen schweren Verkehrsunfall. Es kam zu weitergehendem Suchtmittelmissbrauch,
Schulproblemen, Heimaufenthalten/betreutem Wohnen und im Erwachsenenalter zu mehreren gewaltbehafteten Partnerschaften im
Drogenmilieu, finanziellen Problemen, einer Fehlgeburt und einer erheblichen medizinischen Komplikation bei der späteren Geburt
ihres Sohnes. Seit 2005 lebt der Sohn der Klägerin beim Kindesvater. Das Verhältnis zu bzw. der Umgang mit dem Sohn war und
ist für die Klägerin immer wieder belastend. Trotz zahlreicher Entgiftungsbehandlungen konsumiert die Klägerin bis heute Cannabis.
Angesichts der Vielzahl der Belastungsfaktoren erscheint es nicht selbstverständlich, dass die behandelnden Ärzte und Gutachter
überhaupt zur Diagnose einer PTBS kommen, die wesentlich ursächlich auf die Vergewaltigung zurückgeht, zumal medizinische
Befunde, die die erforderliche und im Vollbeweis festzustellende primäre Gesundheitsstörung im Sinne von Teil C Nr. 2.1 lit.
b, 2.3 VMG belegen, fehlen und nicht mehr zu erlangen sind. Jedenfalls ist es angesichts der beschriebenen Belastungsfaktoren
nicht wahrscheinlich, dass die Vergewaltigung wesentlich ursächlich für die ansonsten bestehenden Erkrankungen ist, zumal
die Bedingungen in ihrem Elternhaus bereits deutlich früher und über einen viel längeren Zeitraum auf die Klägerin einwirkten.
Es spricht daher viel dafür, dass diese Bedingungen sie deutlich intensiver geprägt haben.
Die demnach alleinige Schädigungsfolge PTBS bedingt keinen höheren GdS als 30. Eine PTBS im Vollbild rechtfertigt allerdings
regelmäßig die Annahme einer stärker behindernden Störung im Sinne von Teil B Nr. 3.7 VMG und damit jedenfalls einen GdS von
30 (vgl. Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales
vom 06./07.11.2008, PTBS - Klinik und Begutachtung, S. 3; krit. zu dieser Mindestvorgabe allerdings LSG Baden-Württemberg,
Urteil vom 23.06.2016 - L 6 VH 4633/14, juris Rn. 96; Urteil vom 12.01.2017 - L 6 VH 2746/15, juris Rn. 56; Urteil vom 07.12.2017 - L 6 VG 4996/15, juris Rn. 98). Ein höherer GdS lässt sich weiterhin nicht feststellen. Ob die von Frau L1 vorgebrachten Zweifel am Fortbestehen
einer schädigungsbedingten PTBS zutreffend sind, kann dann dahinstehen.
Eine Verschlimmerung der schädigungsbedingten PTBS lässt sich nicht nachweisen. Zunächst bestehen bei der Beurteilung des
Verlaufs der PTBS - sonderlich, wenn es sich um eine komplexe PTBS handeln sollte -, dieselben Abgrenzungsschwierigkeiten
wie bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs der übrigen Störungen. So wie bei der Vielzahl der Belastungen im Leben der
Klägerin die kausale Zuordnung ihrer Erkrankungen schwierig bis unmöglich ist, ist bei der Vielzahl der Erkrankungen die Zuordnung
der Symptome zu den verschiedenen Erkrankungen, insbesondere zu einer schädigungsbedingten Erkrankung, schwierig bis unmöglich.
Frau L1 weist zutreffend darauf hin, dass die von Dr. C zur Begründung der PTBS herangezogenen Symptome - die im Übrigen weitgehend
aus dem Beschwerdevortrag der Klägerin übernommen worden sind - keinesfalls zwingend gerade der PTBS zuzuordnen sind. Hinzu
kommt, dass in der Mehrzahl der Fälle bei einer PTBS eine Heilung zu erwarten ist (vgl. ICD-10-GM-2021, F43.1, Info) und im
Zeitpunkt des Änderungsantrags seit der Vergewaltigung bereits 23 Jahre vergangen waren. Gegen eine Verschlimmerung speziell
der für die Beurteilung des GdS relevanten funktionellen Einschränkungen spricht der Verlaufsbericht der Eingliederungshilfe,
der den immerhin dreijährigen Zeitraum April 2014 bis April 2017 abdeckt und eine Besserung, nicht aber eine Verschlechterung
der Alltagsbewältigung dokumentiert. Soweit die Klägerin und ihre Therapeutin Dipl.-Psych. I zuletzt eine Verschlimmerung
der Leiden im Zusammenhang mit dem von der Klägerin (!) gestellten Verschlimmerungsantrag sehen, wäre eine dadurch bedingte
Verschlimmerung - so diese überhaupt speziell der PTBS zuzuordnen ist - nicht mehr wesentlich (!) ursächlich auf die Vergewaltigung
zurückzuführen.
Nicht überzeugend ist die von der Klägerin und Dipl.-Psych. I zuletzt vorgenommene Rückführung praktisch sämtlicher Erkrankungen
und Symptome auf die Folgen der Vergewaltigung. Schon angesichts der dargestellten Komplexität der Erkrankungen und der langjährigen
und zahlreichen Belastungsfaktoren ist diese monokausale Zuordnung nicht haltbar. Frau L1 weist überzeugend darauf hin, dass
Dipl.-Psych. I etwa in ihrem Erstantrag für Verhaltenstherapie Ende 2014 noch ein deutlich differenzierteres Bild zeichnete.
Zudem liegt ein erhebliches Eigeninteresse der Klägerin, aber auch von Dipl.-Psych. I nahe. Immerhin geht es beiden, wie aus
der Akte ersichtlich, mit dem Änderungsantrag nicht zuletzt um die Fortführung der laufenden Psychotherapie.
Gegen die Aussagekraft der Ausführungen von Dipl.-Psych. I sprechen noch weitere Aspekte. Zum einen ist nicht ersichtlich,
dass Dipl.-Psych. I - anders als die vom Beklagten gehörte Gutachterin Dr. C, die auch die Zusatzbezeichnung Sozialmedizin
führt - über eine besondere Expertise in versorgungsrechtlichen Kausalitätsbeurteilungen verfügt. Zum anderen ist zu berücksichtigen,
dass zwischen behandelndem Arzt bzw. Therapeuten und Patient ein Vertrauensverhältnis besteht, dass die Gefahr der unkritischen
Übernahme von Angaben des Patienten birgt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13.03.2020 - L 13 SB 115/18, juris Rn. 56 a.E. m.w.N.). Schließlich hat Dipl.-Psych. I sich hier in einem Maße für die Klägerin eingesetzt, das, wie
Frau L1 nachvollziehbar ausführt, Zweifel an der professionellen Distanz von Dipl.-Psych. I aufkommen lässt. So ist diese
etwa bei der Begutachtung der Klägerin durch Dr. C anwesend gewesen, und sie hat sich im Verwaltungsverfahren an den Beklagten
mit der Bitte um Übersendung des Gutachtens gewandt, womit sie sich wie ein Verfahrensbevollmächtigter verhalten hat.
Der GdS ist auch nicht wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG zu erhöhen. Abgesehen von § 29 BVG kann nicht festgestellt werden, dass die anerkannte Schädigungsfolge wesentlich (vgl. hierzu Dau, in: Knickrehm, Gesamtes
Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 30 Rn. 16) für ein solches besonderes berufliches Betroffensein ist. Die Überlegungen
zur Schwierigkeit der kausalen Zuordnung der aktuellen Erkrankungen und funktionellen Einschränkungen zum schädigenden Ereignis
gelten hier entsprechend. Gegen eine wesentliche Verursachung eines besonderen beruflichen Betroffenseins spricht das Verhältnis
des für die anerkannte Schädigungsfolge anzusetzenden GdS von 30 zu dem von Dr. K und Dr. C übereinstimmend mit 70 angesetzten
GdB für die Gesamtheit der psychischen Störungen.
Eine weitere Sachaufklärung ist nicht geboten. Das vorliegende Gutachten von Dr. C und die aktuellen versorgungsärztlichen
Stellungnahmen sind überzeugend, insbesondere in Abgleich mit den aktenkundigen Befunden und dem Gutachten von Dr. K. Eine
erneute Exploration der Klägerin verspricht keinen Erfolg, nachdem diese - aus ihrem jedenfalls zuletzt zielgerichteten Vortrag
erkennbar - unter dem Eindruck der Relevanz entsprechender Angaben und mit Unterstützung ihrer Therapeutin die Überzeugung
entwickelt hat, dass ihr Leiden insgesamt maßgeblich auf die Vergewaltigung zurückgeht. Diese aktuelle Überzeugung zeigt sich
etwa in der Bemerkung gegenüber Dr. C, die Vergewaltigung sei für sie das belastendste, schlimmste und entwürdigendste Ereignis,
der Leidensdruck sei maximal (10 von 10) und alle sonstigen erlebten Belastungen spielten keine Rolle mehr. In ihrer polizeilichen
Vernehmung am 19.01.2009 hatte die Klägerin noch angegeben, sie "habe das lange Zeit nicht als Gewalttat empfunden".
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig, §
73a SGG i.V.m. §
127 Abs.
4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.