Gründe
I.
Im Streit steht die Übernahme der Kosten für die Behandlung der an einem Glioblastom leidenden Antragstellerin mit dem Arzneimittel
Avastin (Bevacizumab).
Die am 00.00.1983 geborene Antragstellerin befindet sich seit dem 26.04.2020 wegen eines Glioblastoms in Behandlung der Klinischen
Neuroonkologie des Klinikums Essen. Es handelt sich um ein Rezidiv mit Vorbehandlung durch Operation, Radiotherapie und Chemotherapie.
Unter dem 31.03.2021 beantragte die Antragstellerin, vertreten durch das Klinikum Essen, die Kostenübernahme für die Behandlung
des Rezidivs mit Avastin (Bevacizumab). Zur Begründung wurde angeführt, dass keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen
mehr bestünden und aufgrund des raschen Wachstums des Tumors und der Notwendigkeit einer wirksamen Therapie die Antragstellung
erfolgt sei. Aufgrund der aktuellen Ausdehnung des Tumors werde ärztlicherseits eine Therapie mit dem ebenfalls nicht zugelassenen
Arzneimittel Regorafenib nicht als optimal angesehen. Es sei zu erwarten, dass sich der noch gute klinische Zustand der Antragstellerin
ohne weitere Therapie deutlich und schnell verschlechtern werde. Es lägen drei unabhängige randomisierte Studien zum Einsatz
von Bevacizumab bei einem Glioblastom vor, welche ergeben hätten, dass das progressionsfreie Überleben signifikant verlängert
worden sei. Dies seien die folgenden Studien: 1. RTOG0825-Studie (Gilbert et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten
PFS-Verlängerung von 7,3 auf 10,7 Monate, 2. AVAglio Studie (Chinot et al., NEJM 2014) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung
von 6,2 auf 10,6 Monate, 3.GLARIUS- Studie (Herrlinger etal., JCO 2016) mit Nachweis einer signifikanten PFS-Verlängerung
von 5,9 auf 9,7 Monate. Aufgrund dieser Studienergebnisse zum Einsatz von Bevacizumab seien zunächst sechs Gaben geplant,
danach sei eine erneute MRT-Schädel-Untersuchung zur Evaluation der Behandlung vorgesehen. Bei dem Rezidiv handele es sich
um eine lebensbedrohliche Erkrankung, die innerhalb von Wochen bis Monaten zu einer Verschlechterung führen könne, wobei man
innerhalb kurzer Zeit mit dem Tode rechnen müsse. Die Antragstellerin befinde sich noch in einem guten klinischen Zustand
und habe einen ausgeprägten Therapiewunsch. Auch im Rezidiv könne noch ein Ansprechen des Tumors auf eine Therapie erwartet
werden. Ohne weiterführende medikamentöse Behandlung sei mit höchster Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Tumorwachstum
und einer klinischen Verschlechterung bis hin zum Tode der Antragstellerin zu rechnen. Die Avastin-Therapie sei im Übrigen
in den USA als Rezidivtherapie bei Glioblastom zugelassen.
Mit Bescheid vom 31.03.2021 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin vom selben Tage ab. Zur Begründung führte
sie aus, dass der Hersteller für das beantragte Arzneimittel einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für ihre Erkrankung
gestellt habe, diesen allerdings zurückgezogen habe. Die Rücknahme des Antrags entspreche wertungsmäßig eine Ablehnung der
Zulassung. Danach könne gemäß dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 - eine Kostenübernahme nicht erfolgen, da derzeit nicht davon auszugehen sei, dass die Therapie
mehr nütze als schade.
Mit Schreiben vom 08.04.2021 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 31.03.2021 Widerspruch.
Zur Begründung führte der behandelnde Arzt des Klinikums Dr. A ergänzend aus, dass die Therapie mit Bevacizumab im Falle der
Antragstellerin nicht primär der Lebenszeitverlängerung diene, sondern dass es um die Erhaltung der Lebensqualität gehe. Es
sei aufgrund der bereits benannten Studien unstrittig, dass durch die begehrte Therapie die Zeit bis zum Wachstum des Tumors
verlängert werden könne.
Am 26.05.2021 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweilen Anordnung bei dem Sozialgericht gestellt und
zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass sie einen Anspruch auf Gewährung der Therapie mittels sechs Gaben Avastin
zur Verlängerung des progressionsfreien Überlebens habe. Dieser ergebe sich zwar nicht aus §
27 Abs.
1 S. 2 Nr.
3 Fall 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (
SGB V) i.V.m. §
31 Abs.
1 S. 1
SGB V und auch nicht aus den Grundsätzen des Off-Label-Use. Ein Anspruch ergebe sich jedoch nach §
2 Abs.
1a SGB V im Rahmen der grundrechtsorientierten Auslegung. Auch ein Anordnungsgrund liege vor. Denn es handele sich um eine lebensbedrohliche
Erkrankung, welche innerhalb kürzester Zeit zum Tode führen könne. Dabei sei ein Zeitraum von Wochen bis Monaten zu nennen.
Pro Dosis entstünden Kosten von etwa 3000 €, sodass mit Behandlungskosten von etwa 18.000 € zu rechnen sei. Sie könne diesen
Betrag nicht aus eigenen Mitteln vorfinanzieren (eidesstattliche Versicherung vom 28.05.2021 nebst Belegen).
Die Antragstellerin hat beantragt,
der Antragsgegnerin im Wege der einzelnen Anordnung nach §
86b Abs.
3 Sozialgesetzbuch (
SGG) aufzuerlegen, die Kosten für die Behandlung der Antragstellerin mit sechs Gaben des Arzneimittels Avastin (Bevacizumab)
zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der hinzugezogene Medizinische Dienst (MD) in seinem Gutachten vom 19.04.2021 zur
weiteren Behandlung das Medikament Regorafenib empfohlen habe, für dass es Daten einer randomisierten Studie gebe, die auf
eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf hinweisen würden. Das BSG habe in seinem Urteil vom 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R ausgeführt, dass die gesetzlich geregelten Mechanismen zum Schutz von Patienten nicht unterwandert werden dürften, was auch
im Hinblick auf §
2 Abs.
1a SGB V gelte. Insoweit seien inakzeptable und unkalkulierbare Risiken von Gesundheitsschäden für die betroffenen Versicherten zu
vermeiden.
Ein Anordnungsgrund bestehe zudem nicht, da es der Antragstellerin auch zumutbar sei, ein Darlehen zur Vorfinanzierung aufzunehmen.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht der behandelnden Ärzte Prof. Dr. V K/Dr. A eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen
wird.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.06.2021 hat die Antragsgegnerin den Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Diesen Bescheid
hat die Antragstellerin am 29.06.2021 mit Klage angegriffen (S 23 KR 1213/21 SG Köln).
Mit Beschluss vom 17.06.2021 hat das Sozialgericht die Antragsgegnerin vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der
Hauptsache verpflichtet, der Antragstellerin die Kosten für die Behandlung mit sechs Gaben des Arzneimittels Avastin (Bevacizumab)
als Sachleistung zu gewähren.
Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, dass der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch auf die Gewährung einer Sachleistung
in Form von sechs Gaben Avastin zustehe. Die Erfolgsaussichten der Hauptsache seien offen. Die damit im Rahmen der Prüfung
nach §
86b Abs.
2 Satz 2
SGG gebotene Folgenabwägung falle bei glaubhaft gemachtem Anordnungsgrund zugunsten der Antragstellerin aus. Der Anordnungsanspruch
könne weder auf §
27 Abs.
1 S. 1 Nr.
3 Fall 1
SGB V i.V.m. §
31 Abs.
1 SGB V noch auf die Grundsätze des Off-Label-Use gestützt werden. Er ergebe sich aber aus §
2 Abs.
1a SGB V nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung. Das Sozialgericht hat insoweit ausgeführt:
"[...] Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest
wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
nicht zur Verfügung steht, auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt
liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Die Krankenkasse
erteilt für Leistungen nach Satz 1 vor Beginn der Behandlung eine Kostenübernahmeerklärung, wenn Versicherte oder behandelnde
Leistungserbringer dies beantragen. Mit der Kostenübernahmeerklärung wird die Abrechnungsmöglichkeit der Leistung nach Satz
1 festgestellt.
Nach der Rechtsprechung des BSG begründet zwar §
2 Abs.
1a SGB V keinen Anspruch auf Fertigarzneimittel für eine Indikation, für die eine Genehmigung in einem Zulassungsverfahren nach VO
(EG) Nr. 726/2004 abzulehnen war. Das BSG führt dazu aus, dass es genügt, dass der Ständige Ausschuss für Humanarzneimittel der European Medicines Agency - wie im
Falle von Avastin für die Indikation des rezidivierenden Glioblastoms - ein im Ergebnis ablehnendes Gutachten erstellte, ohne
dass der Antragsteller das Verfahren weiterverfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.2016, B 1 KR 10/16 R). Dies folge aus Entwicklungsgeschichte, Regelungssystem von Arzneimittelzulassungsrecht und
SGB V sowie dem Regelungszweck, ohne dass der Wortlaut des §
2 Abs.
1a SGB V entgegenstehe. Das allgemein geltende, dem Gesundheitsschutz dienende innerstaatliche arzneimittelrechtliche Zulassungserfordernis
dürfe durch eine vermeintlich "großzügige", im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung
von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel nicht faktisch systematisch unterlaufen und umgangen werden.
Ein solches Vorgehen wäre sowohl mit einem inakzeptablen unkalkulierbaren Risiko etwaiger Gesundheitsschäden für den betroffenen
Versicherten behaftet als auch mit einer nicht gerechtfertigten Ausweitung der Leistungspflicht zu Lasten der übrigen Versicherten
verbunden. Solche Auswirkungen dürften einer Versichertengemeinschaft nicht aufgebürdet werden, die die Behandlung - typischerweise
unter Anwendung des Instruments der Versicherungspflicht, also zwangsweise - finanziere. Eine Ausweitung der Ansprüche der
Versicherten der GKV auf Arzneimittel, die deutschen arzneimittelrechtlichen Zulassungsstandards nicht genügen, müsse auf
eng umgrenzte Sachverhalte mit notstandsähnlichem Charakter begrenzt bleiben (BSG, a.a.O. sowie Urteil vom 11.09.2018, B 1 KR 36/17 R).
Jedenfalls - ohne dass es weiterer Ausführungen der Kammer zu der oben dargelegten Argumentation des Bundessozialgerichts
zu §
2 Abs.
1a SGB V Bedarf - liegt nach der Rechtsauffassung der Kammer nach derzeitiger Einschätzung eine Situation mit notstandsähnlichem Charakter
vor. Die grundrechtsorientierte Auslegung gebietet es insoweit, der Antragstellerin den begehrten Therapieversuch als Sachleistung
zu gewähren. Wie die behandelnden Ärzte der Antragstellerin auf Nachfrage des Gerichts und auch im Rahmen des Antrags auf
Kostenübernahme darlegen, bestehen im Falle der Antragstellerin keine zugelassenen systemischen Therapieoptionen mehr. Bei
der zuletzt erfolgten Chemotherapie mit CCNU kam es vielmehr zu einem Progress des Tumors. Auch eine Therapie mit Regorafenib
wird seitens der behandelnden Ärzte des Universitätsklinikums Essen nicht für zielführend erachtet. Insoweit handele es sich
nämlich um ein Medikament, das viele Nebenwirkungen bereite und von den wenigsten Patienten in der Zieldosis von 160 mg an
21 von 28 Tagen vertragen werde und ebenfalls nicht für das Glioblastom zugelassen sei. Die behandelnden Ärzte favorisieren
die begehrte Therapie mit Avastin im Falle der palliativen Therapiesituation der Antragstellerin, da bei einem weiteren Progress
des Tumors bevorzugt ein Medikament angewendet werden sollte, dass Symptome lindert ist und möglichst lange neurologische
Defizite vermeidet was bei Bevacizumab, aber nicht bei Regorafenib, der Fall sei.
Die notstandsähnliche Situation ergibt sich auch daraus, dass die Antragstellerin an einem bösartigen Hirntumor leidet, der
innerhalb kürzester Zeit massiv wachsen und zu allen denkbaren neurologischen und kognitiven Defiziten führen kann. Im Falle
der Antragstellerin ist nach Einschätzung der behandelnden Ärzte zu erwarten, dass sich dennoch gute klinische Zustand ohne
weitere Therapie deutlich und schnell verschlechtern wird. Die Antragstellerin leidet derzeit an leichten Wortfindungsstörungen
und hat eine Quadrantenanopsie nach rechts oben. Im Falle eines Progresses des Tumors kann es jedoch schnell zu weiteren Ausfällen
kommen. Insbesondere Lähmungen, weitere Gesichtsfeldausfälle, Hirndrucksymptomatik wie Übelkeit, Erbrechen oder Störungen
der Wachheit und epileptische Anfälle sind möglich. Das begehrte Medikament Avastin (Bevacizumab) hat einen antiödematösen
Effekt und kann relativ lange Zeit eine solche neurologische Ausfallsymptomatik lindern, was im Falle der Antragstellerin
das Ziel ist.
Insofern liegen hinreichende Indizien für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im Sinne von §
2 Abs.
1a S. 1
SGB V vor.
Die behandelnden Fachärzte der Antragstellerin empfehlen die begehrte Therapie nach Abwägung der jeder ärztlichen Entscheidung
zugrunde liegenden Nutzen-Risiko-Analyse.
Ein Anordnungsgrund und damit die Notwendigkeit einer Entscheidung im einzelnen Rechtsschutz ist aufgrund der besonderen Eilbedürftigkeit
der Rechtssache glaubhaft gemacht.
Die Antragstellerin hat mit eidesstattlicher Versicherung dargelegt, dass sie die Behandlungskosten von insgesamt 18.000 €
nicht aus eigenen Mitteln vorfinanzieren kann. Dies bezieht sich auch auf die Möglichkeit der Erlangung eines Darlehens. Ferner
hat sie durch ihre Prozessbevollmächtigten in Ergänzung der übersandten eidesstattlichen Versicherung eine Erklärung über
die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin, mit welcher ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
nicht verbunden war, dargelegt, dass sie über keine ausreichenden Mittel zur Finanzierung der Kosten verfügt. Ferner liegt
eine lebensbedrohliche Erkrankung vor, die ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache als unzumutbar erscheinen lässt.
Insoweit ist zur Sicherstellung einer zeitnahen und effektiven Behandlung mit Avastin über die Therapie bereits jetzt zu entscheiden.
Insoweit kommt die Kammer im Rahmen der Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die Antragstellerin
vorläufig mit dem begehrten Arzneimittel zu versorgen. Das finanzielle Interesse der Antragsgegnerin und der Gemeinschaft
der Beitragszahler hat ihr gegenüber der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 1 zurückzustehen."
Gegen den ihr am 17.06.2021 per Fax übermittelten Beschluss hat die Antragsgegnerin am 05.07.2021 Beschwerde erhoben. Zur
Begründung hat sie erneut auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use von Bevacizumab (Urteile vom 13.12.2016
- B 1 KR 10/16 R und vom 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R) verwiesen. Vor diesem Hintergrund eine Leistungsgewährung auch unter Berücksichtigung von §
2 Abs.
1a SGB V nicht möglich.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 abzuändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung hat sie darauf verwiesen, dass sich der bei ihr bestehende Hirntumor zwischenzeitlich vergrößert habe. Sie
hat einen aktuellen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr. A vom 26.07.2011 eingereicht. Dieser führt aus, dass im MRT
vom 21.06.2021 unter der vorherigen Therapie mit CCNU und Temozolomid ein Progress des Tumors nachgewiesen worden ist. Die
Antragstellerin habe sich allerdings aufgrund einer Wundheilungsstörung nach der Operation aus März 2021 einer operativen
Wundrevision unterziehen müssen, die einen Behandlungsbeginn mit Bevacizumab zunächst verhindert habe. Nunmehr sei die Wunde
gut verheilt. Im MRT vom 20.07.2021 sei ein weiterer Progress mit massivem Tumorwachstum festzustellen gewesen. Der Tumor
habe ein ausgeprägtes Ödem und nehme viel MRT-Kontrastmittel auf. Auf beide Eigenschaften wirke Bevacizumab sehr gut. Es reduziere
durch seinen Wirkmechanismus das Tumorödem und die Kontrastmittelaufnahme. Durch diesen Effekt blieben neurologische Defizite
oft stabil. Bevacizumab solle als palliative Therapie angewandt werden, um den neurologischen Zustand der Antragstellerin
möglichst lange stabil zu halten. Der Tumor bilde aufgrund seines Wachstum-Musters mit Tumorödem und viel Kontrastmittelaufnahme
die optimale Grundlage für eine bestmögliche palliative Therapie mit Bevacizumab.
Die Antragstellerin hat zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen vorgetragen, dass sie derzeit ohne Einkünfte sei. Sie sei
zum 01.06.2021 ausgesteuert. Sie habe die Gewährung von Arbeitslosengeld und Erwerbsminderungsrente beantragt. Bislang seien
diese Leistungen aber noch nicht bewilligt worden. Sie verbrauche derzeit das auf dem Geldmarktkonto befindliche Guthaben.
Ihre Ersparnisse würden allenfalls noch für zwei Monate reichen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 17.06.2021 ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat dem Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung des Inhalts, ihr bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache (nunmehr: Klageverfahren S 23 KR 1213/21 SG Köln) sechs Gaben des Arzneimittels Bevacizumab (Avastin) zur Behandlung des Glioblastomsrezidivs nach jeweiliger ärztlicher
Verordnung als Sachleistung zu gewähren, zu Recht stattgegeben. Der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung war jedoch klarzustellen.
Wegen der Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung, denen
er sich nach eigener Prüfung anschließt (§
142 Abs.
2 Satz 3
Sozialgerichtsgesetz (
SGG)).
Ergänzend ist zunächst auszuführen, dass der Senat erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der von der Antragsgegnerin zitierten
Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - und 11.09.2018 - B 1 KR 36/17 R) hinsichtlich der Anwendung des §
2 Abs.
1a SGB V hat. Die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - (sog. "Nikolausbeschluss") aus dem Grundrechtschutz des Einzelnen abgeleiteten Vorgaben zum Einsatz neuer Behandlungsmethoden
bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankungen sind in §
2 Abs.
1a SGB V ohne Veränderungen kodifiziert worden. Der vom BSG demgegenüber in der Entscheidung vom 13.12.2016 formulierte Vorrang des Arzneimittelzulassungsrechts ist hiermit jedenfalls
in seiner Allgemeinheit nicht zu vereinbaren. Durch die Anwendung der Vorschrift wird gerade nicht der institutionelle Schutz
der Gesundheit der Versicherten durch das Arzneimittelzulassungsverfahren "durch eine vermeintlich <<großzügige>>, im Interesse
des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel
... faktisch systematisch unterlaufen und umgangen" (so aber BSG in der vorgenannten Entscheidung - Rn. 25 nach juris). Abgesehen davon, dass es sich nach der Schaffung des §
2 Abs.
1a SGB V zum 01.01.2012 durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz nicht mehr um bloßes Richterrecht handelt, verkennt diese Sichtweise
die Qualität der Grundrechte, namentlich des Art.
2 Abs.
2 GG, als individuelle Schutzrechte. Hierauf hat zuletzt das Sozialgericht München in seinem Urteil vom 19.11.2020 - S 15 KR 293/18 - zutreffend hingewiesen und unter Bezug auf den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 11.04.2017 - 1 BvR 452/17 - überzeugend weiter ausgeführt, dass sich eine Unterscheidung zwischen einer Arzneimitteltherapie und einer sonstigen Therapie
in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht finde. Sobald die "Ultima ratio"-Situation gegeben sei, bestehe ein verfassungsunmittelbarer
- subjektiv-rechtlicher - Leistungsanspruch. Dieser könne nicht mit Hinweis auf den institutionalisierten (objektiv-rechtlichen)
Gesundheits- und damit Grundrechtsschutz, wie ihn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährleistet, ausgehebelt werden. Die objektiv-rechtlichen
Schutzpflichten des Staates und die Grundrechtsberechtigung des Leistungsempfängers seien vielmehr zwei Ausprägungen des verfassungsrechtlich
gewährten Grundrechtsschutzes, die nicht gegeneinander ausgespielt werden könnten. Dem hat der Senat nichts hinzuzufügen.
Unabhängig von diesen Erwägungen ist jedenfalls nunmehr auch eine Notstandssituation im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung
des BSG glaubhaft gemacht. Während in dem Bericht des Dr. A vom 11.06.2021 die Behandlung mit Bevacizumab unter den Vorbehalt eines
künftigen Tumorprogresses bei Fortführung der Therapie mit TMZ und CCNU gestellt war, hat sich nunmehr gerade diese Verschlechterung
des Gesundheitszustandes der Antragstellerin realisiert. Dies ergibt sich aus dem aktuellen Bericht des Dr. A vom 26.07.2021,
der den MRT-gestützten Nachweis eines Tumorprogresses am 21.06.2016 und insbesondere am 20.07.2021 beschreibt. Der Tumor weist
eine erhebliche Ödembildung auf. Hieraus drohen unmittelbar schwerwiegende neurologische Beeinträchtigungen. Gerade auf die
Reduzierung dieser Ödembildung und die damit verbundene Wahrung der Lebensqualität ist die - palliative - Behandlung mit Becacizumab
gerichtet. Zur Überzeugung des Senats liegen insoweit hinreichende Indizien für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
im Sinne von §
2 Abs.
1a S. 1
SGB V vor. Diese Einschätzung stützt der Senat nicht nur auf die Darstellung der behandelnden Ärzte. Vielmehr ist auch der MD in
seinem Gutachten vom 19.04.2021 bereits der ersten entsprechenden Einschätzung der behandelnden Ärzte nicht entgegen getreten,
sondern hat eine positive sozialmedizinische Empfehlung lediglich unter Hinweis auf die ablehnende Rechtsprechung des BSG verneint. Auch aus Sicht des MD stand der Antragstellerin schon im April 2021 keine dem medizinischen Standard entsprechende
Therapie mehr zur Verfügung. Der MD bestätigt auch, dass die bisherige Studienlage zur Behandlung des rezidivierten Glioblastoms
mit Bevacizumab das Gesamtüberleben im Blick hatte, das progressionsfreie Überleben (PFS) hingegen nur ein sekundärer Endpunkt
war. Der bei dem PFS gefundene Unterschied sei nur exploratorisch zu verstehen und bedürfe noch der Verifizierung durch eine
Studie mit diesem Endpunkt. Eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf
hat der MD damit gerade nicht verneint.
Die Antragstellerin ist grundsätzlich auch nicht auf die Behandlung durch ein anderes, ebenfalls nicht zugelassenes Medikament
(hier: Regorafenib) zu verweisen. Anhaltspunkte für einen deutlich höheren Nutzen von Regorafenib sind im vorliegenden Fall
nicht erkennbar. Vielmehr gehen die behandelnden Ärzte von deutlich schwerwiegenderen Nebenwirkungen bei Einsatz dieses Medikaments
im Falle der Antragstellerin aus.
Die Antragstellerin hat schließlich auch glaubhaft gemacht, dass sie die Behandlungskosten nicht vorfinanzieren kann. Die
Klägerin ist derzeit ohne Einkünfte. Wann über ihre Anträge auf Rente wegen Erwerbsminderung bzw. Arbeitslosengeld entschieden
wird, ist nicht absehbar. Das zum Zeitpunkt der Antragstellung vorhandene Vermögen auf dem Geldmarktkonto verbraucht die Antragstellerin
derzeit für ihre Lebenshaltungskosten. Der Verweis der Antragsgegnerin auf eine Kreditaufnahme ist angesichts der vorliegenden
Einkommensverhältnisse und der bestehenden Prognose ad vitam fernliegend.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, §
177 SGG.