Entscheidung über den Antrag eines Leistungsträgers auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem zur Leistungszahlung verpflichtenden
Beschluss des SG
Anspruch auf Sozialgeld nach SGB II
Einschlägigkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II bei Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts gem. § 4a FreizügG/EU
Analoge Anwendung des Leistungsausschlusses auf vom Wortlaut nicht erfasste Personengruppen
Gründe
Die Entscheidung beruht auf §
199 Abs.
2 SGG. Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige
Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.
Der Aussetzungsantrag ist zulässig. Der vom Antragsteller mit der Beschwerde angefochtene Beschluss des Sozialgerichts vom
15.12.2014 ist ein vollstreckbarer Titel (§
199 Abs.
1 Nr.
2 SGG). Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (§
175 Satz 1 und
2 SGG).
Der Antrag ist unbegründet. Die Anordnung, die Vollstreckung einstweilen auszusetzen, ist eine Ermessensentscheidung (BSG, Beschluss vom 08.12.2009 - B 8 SO 17/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 03.12.2014 - L 19 SF 801/14 ER und vom 16.07.2014 - L 6 SF 556/14 ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.01.2006 - L 8 AS 403/06 ER; abweichend BSG, Beschluss vom 06.08.1999 - B 4 RA 25/98 B). Sie erfordert (auch wenn die Entscheidung als gebundene Entscheidung ergeht; hierzu Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte,
SGG, 2 Aufl. §
199 Rn. 13) regelmäßig eine Abwägung des Interesses des Gläubigers an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht
vor der Beendigung des Instanzenzugs leisten zu müssen.
Die Interessenabwägung fällt zulasten des Antragstellers aus. Denn das Sozialgericht hat zu Recht den Antragsteller (als Antragsgegner
des Eilverfahrens) zur Leistungszahlung verpflichtet. Die Antragsgegner haben sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen
Anordnungsgrund (Mittellosigkeit) glaubhaft gemacht:
Die Antragsgegner sind nach unwidersprochener Aktenlage hilfebedürftig iSd § 7 Abs. 1 Nr. 3, 9 SGB II, da Ihnen nach Aktenlage und summarischer Prüfung, die erst in einem Hauptsacheverfahren durch abschließende Ermittlungen
zu ersetzen ist, mit Ausnahme des Kindergeldes, das das Sozialgericht vom Leistungsanspruch bereits abgezogen hat, keine weiteren
Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen.
Auch die übrigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Sozialgeld nach §§ 19 Abs. 1 Satz 2, 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind glaubhaft gemacht. Insbesondere haben die Antragsgegner ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland
(§§
7 Abs.
1 Satz 1 Nr.
4; 30
SGB I). Hiernach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass
er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die 2012, 2013 und 2014 geborenen Antragsgegner sind
die Kinder einer kroatischen Staatsangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU innehat. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Aufenthalt der Kinder bei ihrer Mutter in Deutschland nicht dauerhaft
ist, zumal sich auch der Vater in Deutschland aufhält und die Antragsgegner im Besitz von bis Dezember 2015 gültigen Aufenthaltstiteln
bzw. Fiktionsbescheinigungen sind.
Die Antragsgegner unterliegen nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Hiernach sind ausgenommen von einem Leistungsanspruch Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus
dem Zweck der Arbeitsuche ergibt und ihre Familienangehörigen. Das Aufenthaltsrecht der Mutter der Antragsgegner ergibt sich
nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche, sondern besteht gem. § 4a FreizügG/EU als Daueraufenthaltsrecht. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist damit tatbestandlich nicht einschlägig.
Eine analoge Anwendung des Leistungsausschlusses auf vom Wortlaut nicht erfasste Personengruppen scheidet bereits aus rechtsmethodischen
Gründen aus (hierzu ausführlich LSG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 10.10.201 - L 19 AS 129/13, vom 05.05.2014 - L 19 AS 430/14 und vom 01.06.2015 - L 19 AS 1923/14; Beschluss des Senats vom 27.08.2015 - L 7 AS 1161/149). Aus der vom Antragsteller zitierten Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 03.12.2014 (L 2 AS 1623/14 B ER) ergibt sich für den vorliegenden Fall nichts anderes. Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt war dadurch
gekennzeichnet, dass dem dortigen Antragsteller weder ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche noch ein sonstiges Aufenthaltsrecht
nach dem FreizügG/EU zur Seite stand. Für diese Fallgestaltung hatte der 2. Senat des LSG Nordrhein-Westfalen eine Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für geboten erachtet, um eine Besserstellung von Personen ohne Aufenthaltsrecht gegenüber Personen mit einem Aufenthaltsrecht
zur Arbeitsuche zu vermeiden (Rn. 6 der Entscheidung). Im vorliegenden Fall besteht indes unstreitig ein Daueraufenthaltsrecht
der Mutter der Antragsgegner nach § 4a FreizügG/EU.
Der Anordnungsanspruch scheitert nicht an der Bestandkraft des Bescheides vom 04.02.2015. Zwar steht ein bestandkräftiger
Ablehnungsbescheid grundsätzlich einem Leistungsanspruch entgegen. Jedoch haben die Antragsgegner im Mai 2015 einen Überprüfungsantrag
nach § 44 SGB X gestellt, der bei interessengerechter Auslegung zugleich einen Leistungsfortzahlungsantrag iSd § 37 SGB II für die Zeit ab September 2015 darstellt. In einem Verfahren nach § 44 SGB X, das gerichtet ist auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines bindend gewordenen Bescheides, sind grundsätzlich erhöhte
Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund zu stellen. Im Zugunstenverfahren ist der
Anordnungsgrund nur zu bejahen, wenn massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen
auf die Lebensverhältnisse dargelegt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.04.2013 - L 19 AS 529/13 B ER). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der verfassungsrechtliche Kern des SGB II ist das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art.
1 Abs.
1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art.
20 Abs.
1 GG. Aufgrund dessen ist, wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel
fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind,
der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages
verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als
Menschenrecht steht dieses Grundrecht Deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik aufhalten,
gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 unter Hinweis auf BVerfG, Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua; jüngst BSG, Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 17/14 R). Dieser verfassungsrechtliche Anspruch würde durch eine Verweigerung der Leistungen an die Antragsgegner verletzt, was
einen massiven Eingriff in die soziale und wirtschaftliche Existenz der minderjährigen, nicht zur Selbsthilfe fähigen Antragsgegner
darstellen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§
177 SGG).