Angemessenheit einer richterlichen Frist; Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs; Anwendung von § 159 Abs 1 Nr 2 SGG im Beschwerdeverfahren; einstweilige Anordnung; Sozialgerichtliches Verfahren
Gründe:
I. Die Beschwerde des Antragstellers vom 18. Juni 2014, die gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 12. Juni 2014 gerichtet
ist, mit dem der Antrag auf vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung wegen fehlender Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs abgelehnt
wurde, ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung an das Sozialgericht in analoger Anwendung von §
159 Abs.
1 Nr.
2 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) begründet.
Nach §
159 Abs.
1 Satz 2
SGG kann die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen
werden, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige
Beweisaufnahme notwendig ist. Diese im Berufungsverfahren angesiedelte Regelung ist im Beschwerdeverfahren analog anwendbar
(vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 23. Februar 2009 - L 3 B 740/08 AS-PKH - JURIS-Dokument Rdnr. 2 m. w. N.). Eine derartige Zurückverweisung ist auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
grundsätzlich zulässig (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. November 2006 - L 18 B 1037/06 AS ER - JURIS-Dokument Rdnr. 2; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 25. März 2009 - L 3 AS 148/09 B ER - JURIS-Dokument Rdnr. 14; Schlesw.-Holst. LSG, Beschluss vom 18. November 2011 - L 5 KR 202/11 B ER - JURIS-Dokument Rndr. 6; Bay. LSG, Beschluss vom 16. Mai 2013 - L 10 AL 129/13 B ER - JURIS-Dokument Rndr. 10; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, [10. Aufl., 2012], §
159 Rdnr. 1).
Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Denn dem Antragsteller wurde vor dem Erlass
des Beschluss vom 12. Juni 2014 nicht ordnungsgemäß rechtliches Gehör gewährt.
Gemäß §
62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch
geschehen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, der in Artikel
103 Abs.
1 des
Grundgesetzes (
GG) verankert ist, garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten,
sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch
die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 153/02 - NVwZ 2003, 859 = JURIS-Dokument Rdnr. 28, m. w. N.). Der Anspruch besteht aus drei Elementen: dem Recht auf Information, dem Recht auf Äußerung
und dem Recht auf Berücksichtigung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, [10. Aufl., 2012], §
62 Rdnr. 6, m. w. N.). Das Recht auf Information beinhaltet den Anspruch, über die entscheidungserheblichen Tatsachen, gegebenenfalls
auch zu rechtlichen Gesichtspunkten (vgl. hierzu: Keller, aaO., Rdnr. 8 ff.) unterrichtet zu werden. Denn der Beteiligte kann
sein rechtliches Gehör nur in Anspruch nehmen, wenn er die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte kennt (vgl. Keller, aaO.,
Rdnr. 9). Das Recht auf Äußerung gebietet, dass der Beteiligte ausreichend Zeit erhalten muss, um sich zu den Punkten, zu
denen rechtliches Gehör zu gewähren ist, äußern zu können. Eine vom Gericht gesetzte Frist muss ausreichend sein. Welche Maßstäbe
hierbei zu beachten sind, hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem im Beschluss vom 5. Februar 2003 ausgeführt. Danach
wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn die vor Erlass der Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung
objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zu erbringen (vgl. BVerfG, Beschluss vom
5. Februar 2003, aaO., m. w. N.). Richterlich gesetzte Fristen müssen so bemessen sein, dass das rechtliche Gehör nicht in
unzumutbarer Weise erschwert wird (vgl. BVerfG, aaO., m. w. N.). Ob die Dauer einer richterlich gesetzten Frist objektiv ausreichend
ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, aaO., Rdnr. 29, m. w. N.). Bei
eilbedürftigen Verfahren oder einfach gelagerten Sachverhalten ist eine kürzere Frist ausreichend (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 5. Februar 2003, aaO., Rdnr. 30). Stets müssen aber richterliche Fristen im Gegensatz zu gesetzlichen Fristbestimmungen,
die typisieren dürfen, den genannten Maßstäben in stärkerem Maße individualisierend gerecht werden (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 5. Februar 2003, aaO., m. w. N.).
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst über das bloße Äußerungsrecht hinaus auch das Recht, Lücken im Sachverhalt
schließen oder Schwächen in Bezug auf Tatsachen ausräumen zu dürfen und hierfür die erforderlichen Unterlagen oder Belege
vorlegen zu können. Wenn das Gericht sich veranlasst sieht, auf Grund von §
103 Satz 1 Halbsatz 1
SGG Ermittlungen von Amts wegen anzustellen, und es als sachdienlich erachtet, dabei gemäß §
103 Satz 1 Halbsatz 2
SGG einen Beteiligten heranzuziehen, ist diesem ausreichend Zeit in dem beschriebenen Sinne zu geben, seiner prozessualen Mitwirkungspflicht
(vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 87/12 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 73 = JURIS-Dokument, jeweils Rdnr. 24) nachkommen zu können.
Gemessen hieran wurde dem Antragsteller vom Sozialgericht nicht ausreichend Gelegenheit gegeben, seinen Anordnungsanspruch
glaubhaft zu machen. Die vom Sozialgericht gesetzten Fristen waren zu kurz bemessen, um dem Antragsteller die tatsächliche
Möglichkeit zu geben, die notwendigen Unterlagen einzureichen und die vom Gericht aufgeworfenen Fragen zu beantworten.
Der anwaltlich nicht vertretene Antragsteller suchte mit seinem am 4. Juni 2014 eingereichten Eilantrag unter Behauptung einer
existentiellen Notlage um einstweilige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach. Mit Verfügung vom gleichen Tag setzte das Sozialgericht dem Antragsteller eine Äußerungsfrist bis zum 10. Juni 2014,
12.00 Uhr (Eingang bei Gericht) und forderte ihn zur Vorlage diverser Unterlagen auf. Das Gericht könne das vom Antragsteller
geltend gemachte Begehren nicht erkennen. Nach Eingang der Stellungnahme der Antragsgegnerin wurde der Antragsteller mit weiterem
gerichtlichem Schreiben vom 6. Juni 2014 (Freitag vor Pfingsten) aufgefordert, Fragen innerhalb der bereits zum 10. Juni 2014
(Dienstag nach Pfingsten) gesetzten Frist weitere Unterlagen vorzulegen und zu verschiedene Fragen Stellung zu nehmen. Sämtliche
Schreiben wurden auf dem Postweg an den Antragsteller übersandt. Unter Berücksichtigung dessen, dass der Postausgang der Schreiben
in der Gerichtsakte nicht dokumentiert ist, und unter Berücksichtigung der Übermittlungszeiten durch den Postdienstleister
sind die Angaben des Antragstellers glaubhaft, er habe die Post vom 6. Juni 2014 erst nach den Pfingstfeiertagen am Dienstag,
dem 10. Juni 2014, erhalten. Zudem musste das Sozialgericht bei seiner Fristsetzung neben den üblichen Postlaufzeiten in Rechnung
stellen, dass der Antragsteller am Pfingstwochenende nicht erreichbar sein könnte. Zwar war der Antragsteller wegen des von
ihm angestrengten gerichtlichen Eilverfahrens grundsätzlich gehalten, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass ihn eingehende Post
erreichen konnte. Er musste aber nicht damit rechnen, dass das Sozialgericht am Freitag vor Pfingsten ein Mitwirkungsschreiben
fertigen würde, das er bis zum Dienstag nach Pfingsten beantworten müsste. Die äußerst knapp bemessene Frist war auf Grund
dieser Umstände auch im Hinblick darauf, dass dem Antragsteller Gelegenheit gegeben werden sollte, in einem Verfahren auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung den Anordnungsanspruch geltend zu machen, nicht mehr angemessen im Sinne von Artikel
103 Abs.
1 GG, §
62 SGG.
Eine abschließende Entscheidung bereits am zweiten Tag nach Ablauf der vorgenannten Frist durch Beschluss vom 12. Juni 2014
war bei der gegebenen Sachlage verfahrensfehlerhaft.
Die Zurückverweisung ist ermessensgerecht, weil nicht auszuschließen ist, dass die vorgelegten Unterlagen des Antragstellers
Auswirkungen auf die Entscheidung des Sozialgerichts über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes haben können. Sofern diese aus Sicht des Sozialgerichts zur Beurteilung eines Anordnungsanspruchs
noch nicht ausreichend sein sollten, obläge es ihm, bei einem anwaltliche nicht vertretenen Beteiligten im Rahmen der ihm
nach §
103 Satz 1
SGG obliegenden Aufklärungspflicht vor einer abschließenden Entscheidung gegebenenfalls den Antragsteller um ergänzenden Sachvortrag
zu ersuchen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Leitherer, aaO., § 193 Rdnr 2a).
III. Dieser Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.