Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente
Gerichtliche Nachprüfung der Ermessensentscheidung im Hinblick auf die Aufforderung zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige
Inanspruchnahme einer Altersrente
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung
Ermessensfehlgebrauch oder -ausfall
Fehlen einer ordnungsgemäßen Ermittlung der notwendigen Tatsachengrundlagen
Anforderungen an die Ermessensausübung im Hinblick auf die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente
Gründe:
I.
Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage der Antragstellerin
und Beschwerdegegnerin. Streitig ist die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente nach § 12a Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Die am ... 1952 geborene Antragstellerin bezieht laufende Leistungen nach dem SGB II. Sie bewohnt mit ihrem Ehemann eine Mietwohnung, für die seit Mai 2015 eine Gesamtmiete von 397,53 EUR/Monat zu entrichten
ist. Der Ehemann bezieht eine Altersrente i.H.v. 666,72 EUR/Monat einschließlich eines Zuschusses zur freiwilligen Krankenversicherung.
Die Antragstellerin übt seit 2009 eine geringfügige Beschäftigung für 3 Stunden/Woche mit einem Einkommen von jeweils unter
100 EUR/Monat aus. Der Antragsgegner hat ihr mit Bescheid vom 4. Februar 2015 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 26.
Februar und 23. Juni 2015 Leistungen bis September 2015 i.H.v. 551,27 EUR/Monat (Regelleistung 360 EUR, Bedarfe für Unterkunft
und Heizung 198,77 EUR) bewilligt.
Ausweislich einer in der Verwaltungsakte enthaltenen Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland vom
20. Februar 2014 würde die ab 1. April 2018 gezahlte Regelaltersrente 699,73 EUR betragen. Sollten bis zum Rentenbeginn durchschnittlich
die Beiträge der letzten fünf Kalenderjahre gezahlt werden, betrüge die monatliche Rente 752,92 EUR. Je nach dem künftigen
jährlichen Anpassungssatz könne die Rente zwischen 780 und 810 EUR betragen. Die ab dem 1. Oktober 2015 vorzeitig in Anspruch
zu nehmende Altersrente würde zu einer Minderung der Rente um 9% führen.
Mit Bescheid vom 14. April 2015 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, bis spätestens 30. Juni 2015 eine Altersrente
zu beantragen. Sie sei verpflichtet, einen Antrag beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen, da sie eine geminderte
Altersrente mit Abschlägen beziehen könne und das 63. Lebensjahr vollendet habe. Diese vorrangige Sozialleistung könne den
Anspruch nach dem SGB II verringern oder ganz ausschließen.
In ihrem dagegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie werde finanzielle Einbußen erleiden und müsste vom
Sozialamt ergänzende Leistungen erhalten.
In der Verwaltungsakte findet sich unter den 13. Mai 2015 der Vermerk, der angefochtene Bescheid enthalte keine Ermessenserwägungen
und solle aus formalen Gründen aufgehoben werden. Nach dem weiteren Vermerk vom 26. Mai 2015 komme eine Bescheidrücknahme
nicht in Betracht. Denn die Antragstellerin sei nach § 12a SGB II verpflichtet, die vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, und es liege auch keine Unbilligkeit vor. Unter den 10. Juni
2015 wurde die Antragstellerin telefonisch informiert, dass eine Abhilfe aus formalen Gründen beabsichtigt sei. Diese erklärte
dabei, am 11. Juni 2015 einen Termin zur Rentenantragstellung zu haben. In dem letzten Vermerk vom 16. Juni 2015 wiederum
ist festgehalten, eine Rücknahme aus formalen Gründen komme - wie bereits im Vermerk vom 26. Mai 2015 ausgeführt - nicht in
Betracht.
Der Antragsgegner wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2015 als unbegründet zurück. Die Antragstellerin
habe keinen Bestandsschutz und es liege kein Fall der Unbilligkeit vor. Zudem habe die Prüfung ergeben, dass sowohl bei der
vorgezogenen Altersrente als auch bei der regulären Rentenantragstellung ein Anspruch auf Leistung nach dem SGB XII bestehen würde. Dabei sei berücksichtigt worden, dass einer Rentenanpassung immer auch eine Erhöhung des Regelbedarfs und
der Aufwendungen für die Unterkunft gegenüber stehen würden. Die vorgezogene Altersrente würde insofern nicht zu einer wirtschaftlichen
Schlechterstellung führen.
Dagegen hat die Antragstellerin am 14. Juli 2015 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben und am 5. August 2015 einen Antrag
auf einstweilen Rechtsschutz gestellt. Sie würde monatlich ca. 70 EUR Altersrente einbüßen. Nach Mitteilung des Sozialamts
würde sie monatlich ca. 20 EUR zusätzlich erhalten. Die Antragstellerin hat auszugsweise weitere Rentenauskünfte der Deutschen
Rentenversicherung Mitteldeutschland vom 10. Dezember 2014 und 11. Juni 2015 vorgelegt. Bei einem Rentenbeginn am 1. Oktober
2015 würde die Altersrente danach monatlich 676,69 EUR betragen; davon seien 71,39 EUR für die Sozialversicherungsbeiträge
abzuziehen (= 605,30 EUR).
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 21. August 2015 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 14. April
2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Juni 2015 angeordnet. Es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
der Verwaltungsentscheidung. Es müsse Ermessen ausgeübt werden hinsichtlich der Aufforderung nach § 12a SGB II, eine vorrangige Leistung zu beanspruchen, sowie hinsichtlich einer ersatzweisen Antragstellung nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Die vorzunehmende Ermessensbetätigung stehe neben der Prüfung der - hier nicht vorliegenden - Unbilligkeit. Der Bescheid
sei nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil die Antragstellerin ggf. ergänzende Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) in Anspruch nehmen müsste. Die angefochtene Entscheidung sei jedoch nach summarischer Prüfung wegen eines Ermessensfehlers
(Ermessensunterschreitung, wenn nicht sogar vollständiger Ermessensauswahl) rechtswidrig. Ein Ermessensfehlgebrauch oder -ausfall
könne nur bis zum Ende des Widerspruchsverfahrens geheilt werden. Die Antragsgegnerin habe das ihr eingeräumte Ermessen offensichtlich
nicht erkannt und auch nicht ausgeübt. Nach dem Wortlaut sei im Bescheid vom 14. April 2015 von einer gebundenen Entscheidung
ausgegangen worden. Im Widerspruchsbescheid sei erstmals eine Unbilligkeit geprüft und zugleich dargelegt worden, wie sich
die vorzeitige Rentenantragstellung wirtschaftlich auf die Lage der Antragstellerin auswirken werde. Ausreichend sei die bloße
Feststellung ohne eine umfassende Inzidenzprüfung hinsichtlich der Höhe künftiger Sozialleistungen. Hierin könne der Ansatz
einer Ermessensausübung gesehen werden, obwohl dies vor dem Hintergrund der Aktenvermerke in der Verwaltungsakte zweifelhaft
erscheine. Dort sei nicht auf Ermessenserwägungen eingegangen worden. Somit seien sachwidrig nicht alle relevanten Tatsachen
berücksichtigt worden. Es sei auch nicht ersichtlich, worauf der Antragsgegner die Prüfung der wirtschaftlichen Folgen der
Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gestützt habe, denn konkrete Angaben über die zu erwartende Rentenhöhe ließen
sich weder dem Inhalt der Akten noch dem Widerspruchsbescheid entnehmen. Es sei zweifelhaft, ob der Antragsgegner überhaupt
Kenntnis über die Höhe der Altersrente gehabt bzw. Auskünfte bei dem vorrangigen Leistungsträger eingeholt habe. Die Kenntnis
über die voraussichtliche Höhe der jeweiligen Renten sei allerdings Voraussetzung für eine die Besonderheiten des Einzelfalls
beachtende Ermessensentscheidung. Eine Ermessensreduzierung auf Null, wonach sich die Aufforderung zur Antragstellung einer
geminderten Rente als einzige rechtmäßige Handlungsalternative darstellen würde, könne nicht angenommen werden.
Gegen den ihm am 28. August 2015 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 17. September 2015 Beschwerde eingelegt.
Es dürfte schon das Rechtsschutzinteresse fehlen, da die Antragstellerin einen Antrag auf vorzeitige Altersrente gestellt
habe. Die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente ab dem 1. Oktober 2015 sei erforderlich i.S.v. § 12a SGB II. Eine Ausnahmeregelung oder eine unbillige Härte lägen bei der Antragstellerin nicht vor. Das Ermessen sei nicht fehlerhaft
ausgeübt worden. Er habe im Widerspruchsbescheid zu erkennen gegeben, dass er Ermessen ausgeübt habe. Er habe die Interessen
der Antragstellerin mit denen der öffentlichen Hand an einer wirtschaftlichen Verwendung von Leistungen nach dem SGB II gegenüber gestellt. Ein Ermessen sei ihm nur eingeräumt hinsichtlich der Frage, ob er die Pflicht zur Inanspruchnahme der
Altersrente auch zwangsweise durchsetzen werde (§ 5 Abs. 3 SGB II), nicht hingegen, ob andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen seien. Es habe auch kein atypischer Fall vorgelegen, da
unerheblich sei, ob die Antragstellerin mit der vorgezogenen Altersrente den Grundsicherungsbedarf decken könne.
Der Antragsgegner beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. August 2015 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hält eine zwangsweise Frühverrentung für sittenwidrig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Verwaltungsverfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akten
und Beiakten Bezug genommen. Die Verwaltungsakte des Antragsgegners hat vorgelegen und Gegenstand der Entscheidungsfindung
gewesen.
II.
1.
Die Beschwerde des Antragsgegners ist form- und fristgerecht eingelegt gemäß §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG). Sie ist auch statthaft nach §
172 Abs.
3 SGG. Sie unterfällt nicht der Berufungsbeschränkung des §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG, da die Antragstellerin sich vorliegend gegen die Aufforderung wendet, vorzeitig Altersrente in Anspruch nehmen zu müssen.
2.
Die Beschwerde ist unbegründet, da das Sozialgericht zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 14.
April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Juni 2015 angeordnet hat.
Nach §
86b Abs.
1 Nr.
2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben,
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ist der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen
oder befolgt worden, kann das Gericht gemäß §
86b Abs.
1 Satz 2
SGG die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Rechtsfolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ist es,
den Vollzug eines Verwaltungsaktes zu verhindern.
Die Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 18. Juni 2015 hat gemäß §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung. In dem Bescheid ist die Antragstellerin zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert
worden.
Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage
sieht §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 11. Aufl., §
86b, Rn. 12). Nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs u.a. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Das vom Gesetzgeber
in § 39 SGB II angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bedeutung, dass der
Antragsgegner von der ihm nach §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen. Das
Gesetz unterstellt aber den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern als nur im Regelfall geboten und verlagert somit die
konkrete Interessenbewertung auf Antrag des Antragstellers hin in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
(vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 17. September 2001, 4 VR 19/01, NZV 2002, 51, 52 unter Bezug auf BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1994, 4 VR 1/94, BVerwGE 96, 239 ff, jeweils zu §
80 Abs.
2 Nr.
3 Verwaltungsgerichtsordnung (
VwGO) in der bis 31. Dezember 1996 gültigen Fassung, der wortgleich zu §
86a Abs.
2 Nr.
4 SGG ist).
Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin gegen die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ab Vollendung
des 63. Lebensjahrs ist begründet. Im vorliegenden Fall überwiegt ihr Interesse am Nichtvollzug gegenüber dem Interesse des
Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung. Denn der streitige Bescheid ist nach summarischer Prüfung nicht rechtmäßig.
Die angefochtene Entscheidung des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.
Gemäß § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen
Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich
ist. Abweichend von Satz 1 sind Leistungsberechtigte gemäß § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Gemäß
§ 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II können die Leistungsträger, wenn die Leistungsberechtigten trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen
eines anderen Trägers nicht stellen, den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Hieraus schließen die
Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers als auch
die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers stehen (so auch ständige Rechtsprechung
des erkennenden Senats - vgl. Beschluss vom 29. April 2015, L 5 AS 131/15 B ER, LSG Sachsen, Beschluss vom 28. August 2014, L 7 AS 836/14 B ER; zur Aufforderung zur Antragstellung auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, nur als Terminsbericht Nr. 38/15 vorliegend).
Insoweit geht der Antragsgegner in der Beschwerdebegründung zu Unrecht davon aus, dass ihm nur ein Ermessen eingeräumt sei
hinsichtlich einer zwangsweisen Durchsetzung der Inanspruchnahme der vorzeitigen Rente (§ 5 Abs. 3 SGB II), nicht hingegen, ob andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen sind.
§ 12a Satz 1 SGB II enthält eine Konkretisierung des § 3 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Danach dürfen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig
beseitigt werden kann. Nach § 2 Abs. 1, 2 SGB II müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit im
Sinne des SGB II ausschöpfen. Sie haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und
Kräften zu bestreiten. Dazu gehört die Inanspruchnahme von im Laufe des Erwerbslebens erarbeiteten Rentenversicherungsleistungen
der Deutschen Rentenversicherung, wenn die Leistungsberechtigten nicht mehr in den Genuss der sog. "58er-Regelung" kommen
können. Das ist gemäß § 65 Abs. 4 SGB II der Fall, wenn die Leistungsberechtigten - wie bei der Antragstellerin - nach dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet
haben. Die Pflicht zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters besteht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres
nicht. Danach muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit"
gemäß § 13 Abs. 2 SGB II in Zusammenhang mit der ab dem 1. Januar 2008 geltenden UnbilligkeitsV darstellt. Das in der Verordnungsermächtigung zum
Ausdruck gebrachte Regel-Ausnahme-Verhältnis verdeutlicht, dass die Verordnung lediglich eng umgrenzte Fälle bestimmen soll,
in denen die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, unbillig wäre (vgl. zu letzterem BT-Drs. 16/7460
S. 12 zu § 13).
§ 12a SGB II findet Anwendung auf die Antragstellerin. Diese hat am ... 2015 das 63. Lebensjahr vollendet.
Es kann dahin stehen, ob es zulässig war, die Antragstellerin bereits am 14. April 2015 und "mit Fristsetzung" zum 30. Juni
2015 zur umgehenden Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufzufordern.
Ob die Inanspruchnahme der Rente bei der Antragstellerin unbillig i.S.d. UnbilligkeitsV wäre, kann hier ebenfalls offen bleiben.
Der Antragsgegner hat nämlich nach summarischer Prüfung das erforderliche Ermessen nicht in genügender Weise ausgeübt. Der
streitige Bescheid dürfte somit schon aus formellen Gründen rechtswidrig und aufzuheben sein.
Die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen beschränkt sich gemäß §
54 Abs.
2 Satz 2
SGG auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und die Ermessensausübung in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden
Weise.
Hat die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente zur Folge, dass ab Beginn des Rentenbezugs ergänzende Leistungen nach
dem SGB XII durch die Antragstellerin und ihren Partner in Anspruch genommen werden müssen, ist dies im Rahmen der Ermessensausübung
zu würdigen. Dies führt jedoch nicht automatisch zu einer gebundenen Entscheidung i.S. einer Ermessensreduzierung auf Null
zu Gunsten der Antragstellerin (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Juni 2015, L 19 AS 909/15 B ER). Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die vorzeitige Altersrente grundsätzlich auch dann in Anspruch zu nehmen ist,
wenn die Hilfebedürftigkeit dadurch nur verringert wird. Ein Absehen von der Antragstellung kann aber im Einzelfall ggf. dann
geboten sein, wenn sich aufgrund besonderer Umstände nach Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente ein Hilfebedarf nach
dem SGB XII ergibt, der nur geringfügig unter dem Hilfebedarf nach dem SGB II vor Inanspruchnahme der Rente liegt. Auf jeden Fall ist im Rahmen der Ermessensausübung die richtige Höhe der vorzeitigen
Altersrente aufgrund einer aktuellen Auskunft des Rentenversicherungsträgers zugrunde zu legen. Eine Ermessenausübung auf
fehlerhafter Tatsachenbasis ist in der Regel ermessenfehlerhaft (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. Juni 2015, L 4 AS 237/15 B ER).
Im Bescheid vom 14. April 2015 sind keinerlei Ermessenserwägungen angestellt worden. Vielmehr ist der Antragsgegner von einer
gebundenen Entscheidung ausgegangen, wie sich aus dem Aktenvermerk vom 13. Mai 2015 ergibt.
Der Antragsgegner konnte die unterbliebene Ermessensausübung bis zur Abschluss des Vorverfahrens nachholen. Der Senat hat
aber - wie das Sozialgericht - ernsthafte Zweifel, ob der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2015 das ihm auferlegte
Ermessen überhaupt ausgeübt hat. Denn ausweislich des letzten Aktenvermerks vom 16. Juni 2015 vor der Abgabe an die Widerspruchsstelle
war die entscheidungsbefugte Sachbearbeiterin der Auffassung, eine Rücknahme des Bescheids aus formellen Gründen komme nicht
in Betracht. Sie bezog sich ausdrücklich auf ihren vorangegangenen Vermerk vom 26. Mai 2015, der die Bedenken anderer Mitarbeiter
des Antragsgegners hinsichtlich der fehlenden Ermessensausübung im Ausgangsbescheid verneint hatte.
Selbst wenn die Ausführungen im Widerspruchsbescheid als Ausdruck einer stattgefundenen Ermessensausübung angesehen werden
könnten, wäre diese nicht ordnungsgemäß erfolgt.
Es ist schon nicht feststellbar, dass der Antragsgegner die für eine Ermessensentscheidung notwendigen Tatsachengrundlagen
ordnungsgemäß ermittelt hat. Den Verwaltungsakten lässt sich nicht entnehmen, ob und wie er die im Widerspruchsbescheid genannte
Prüfung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB XII sowohl bei vorgezogener als auch bei regulärer Rentenantragstellung tatsächlich durchgeführt hat. Berechnungen zur Hilfebedürftigkeit
der Antragstellerin und ihres Ehemanns als Bedarfsgemeinschaft hinsichtlich von Leistungen der Grundsicherung im Alter nach
dem SGB XII liegen nicht vor. In der Verwaltungsakte findet sich auch lediglich eine Rentenauskunft vom 20. Februar 2014. Sollte diese
herangezogen worden sein, wäre sie nicht ausreichend aktuell gewesen, um eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII zum 1. Oktober 2015 festzustellen. Auch hat der Antragsgegner keine Nachfrage an den Rentenversicherungsträger hinsichtlich
der zu erwartenden Rentenhöhe gestellt. Das gleiche gilt für eine mögliche Kenntnis des Antragsgegners hinsichtlich der Altersrente
des Ehemanns der Antragstellerin, für die ihm lediglich der Zahlbetrag ab Juli 2014 bis Juni 2015 (650,56 EUR Monat) bekannt
sein konnte. Auch sind die vom Ehemann der Antragstellerin zu leistenden Beiträge für eine freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung
in der Verwaltungsakte nicht enthalten. Anhand der in der Verwaltungsakte enthaltenen Unterlagen konnte daher nicht sicher
festgestellt werden, dass die Antragstellerin auch bei Bezug einer regulären Altersrente sozialhilfebedürftig bliebe.
Soweit im Widerspruchsbescheid ausgeführt wird, dass "einer Rentenanpassung immer auch eine Erhöhung des Regelbedarfs und
der Aufwendungen für die Unterkunft gegenüberstehen würde", ist dieses Argument nicht schlüssig. Ein zwingender Zusammenhang
von Rentenanpassungen nach dem
SGB VI und Erhöhungen von Aufwendungen für die Unterkunftskosten lässt sich rechtlich nicht herstellen. Diese Überlegung ist daher
von vornherein geeignet zur Prüfung einer wirtschaftlichen Schlechterstellung durch eine vorgezogene Altersrente.
Soweit der Antragsgegner in der Beschwerdebegründung ausgeführt hat, er habe die Interessen der Antragstellerin mit denen
der öffentlichen Hand an einer wirtschaftlichen Verwendung von Leistungen nach dem SGB II gegenüber gestellt, lässt sich dies dem Widerspruchsbescheid gerade nicht entnehmen. Dort haben solche Überlegungen keinen
Eingang gefunden. Es findet sich gerade keine "Abwägung", die immer widerstreitende Interessen voraussetzt.
Es kann auch nicht im Rahmen einer Ermessensreduzierung auf Null davon ausgegangen werden, dass der Antragsgegner bei ordnungsgemäßer
Ermessensausübung nur zu einer einzigen rechtmäßigen Auffassung hätte kommen können. Vielmehr hätte dem Antragsgegner bei
der vorliegenden Konstellation auch die Option eines Verzichts zur Aufforderung einer vorzeitigen Altersrente offen gestanden.
Auch aus dem Umstand, dass die Antragstellerin mittlerweile einen Rentenantrag gestellt hat, ergibt sich keine andere Beurteilung.
Denn sie hat sich zwar der Forderung des Antragsgegners gebeugt, jedoch Rechtsmittel gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung
erhoben. Aus diesem Grund hat sie auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
ihrer Klage bis zur rechtskräftigen Entscheidung begehrt.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§
177 SGG).