Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Überprüfung des Leistungsausschlusses für Ausländer im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes im sozialgerichtlichen Verfahren
Gründe:
I.
Die Antragsteller begehren in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vom Antragsgegner die vorläufige Gewährung
von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).
Die am ... 1970 geborene Antragstellerin zu 1) und ihre Kinder, die Antragsteller zu 2) bis 4) sind estnische Staatsangehörige.
Die Antragstellerin zu 1) zog am 5. November 2011 nach D. Die Antragsteller zu 2) bis 4) folgten später nach. Der Ausländerbehörde
gegenüber gab die Antragstellerin zu 1) an, der Aufenthalt diene der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit. Dem Jobcenter
D. teilte sie in einem persönlichen Gespräch am 6. März 2012 mit, sie sei mit dem Zweck der Arbeitsuche eingereist. Sie lebte
zunächst mit ihrem Lebensgefährten zusammen, bevor sie wegen häuslicher Gewalt in ein Frauenhaus in D. floh.
Das Jobcenter D. bewilligte den Antragstellern in Ausführung eines Beschlusses des Sozialgerichts Duisburg vom 6. Juli 2012
in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorläufig Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 11. Juli bis 30. September 2012.
Am 13. August 2012 zog sie zusammen mit ihren Kindern nach B. in das dortige Frauen- und Kinderschutzhaus um. Das teilte sie
mit Schreiben vom 15. August 2012 dem Jobcenter D. mit. Am 14. August 2012 stellte sie beim Antragsgegner einen Antrag auf
Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für sich und ihre Kinder, den der Antragsgegner mit Bescheid vom 11. September 2012 mit der Begründung ablehnte, es greife
der Leistungsausschuss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller fristgerecht Widerspruch. Die Antragstellerin zu 1) bezieht für ihre Kinder
Kindergeld. Über ihren Antrag auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss liegt, soweit ersichtlich, noch keine Entscheidung vor.
Am 18. September 2012 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Magdeburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
gestellt mit dem Begehren, den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab Oktober 2012 bis März 2013, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache, nach Maßgabe der gesetzlichen
Vorschriften zu bewilligen.
Das Sozialgericht hat diesem Antrag mit Beschluss vom 28. September 2012 in vollem Umfang stattgegeben. Im Wesentlichen hat
es zur Begründung ausgeführt: Seit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Oktober 2010 (B 14 AS 23/10 R) sei klargestellt, dass der Leistungsschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf Ausländer nicht anwendbar sei, deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Die Antragsteller könnten
sich mithin auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des europäischen Fürsorgeabkommens (EFA), das sowohl die Bundesrepublik
Deutschland als auch Estland unterzeichnet hätten, berufen. Allerdings werde die Anwendbarkeit des EFA dadurch infrage gestellt,
dass die Bundesregierung beim Europarat einen Vorbehalt bezüglich der Anwendung des Abkommens auf die Leistung der Grundsicherung
für Arbeitssuchende erklärt habe. Gemäß Art. 2 Abs. b EFA seien die Rechtsvorschriften, die in den Gebieten der Vertragschließenden,
auf die dieses Abkommen Anwendung finde, in Kraft seien sowie die von den Vertragschließenden formulierten Vorbehalte im Anhang
I und II aufgeführt. Gemäß Art. 16 Abs. a EFA hätten die Vertragschließenden den Generalsekretär des Europarats über jede
Änderung ihrer Gesetzgebung zu unterrichten, die den Inhalt von Anhang I und III berühre. Gleichzeitig mit der Mitteilung
könne der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen
der anderen Mitgliedstaaten machen. Am 19. Dezember 2011 habe die Bundesrepublik Deutschland einen Vorbehalt beim Europarat
dahingehend erklärt, sie übernehme keine Verpflichtung, den Staatsangehörigen der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise
und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen die im SGB II in der jeweils geltenden Fassung vorgesehene Leistung zu gewähren. In der sozialgerichtlichen und landessozialgerichtlichen
Rechtsprechung sei umstritten, ob dieser Vorbehalt die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. b Satz 2 EFA erfülle. Insbesondere
werde die Frage, ob es sich bei den Regelungen des SGB II deswegen um "neue" Vorschriften in diesem Sinne handele, weil sie zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten seien, als das EFA
bereits gegolten habe, kontrovers diskutiert. Da die Kammer zudem Bedenken gegen die Wirksamkeit des Vorbehaltes habe, sei
im Wege der Folgenabwägung dem Antrag stattzugeben gewesen. Da eine längerfristige Herausnahme der Antragsteller zu 3) und
4) aus dem Haushalt der Antragstellerin zu 1) nicht ersichtlich sei, gehe die Kammer davon aus, dass die Antragsteller weiterhin
zusammen in einem Haushalt lebten.
Der Antragsgegner hat gegen den Beschluss am 2. Oktober 2012 Beschwerde eingelegt und die einstweilige Aussetzung der Vollziehung
beantragt. Er ist der Ansicht, der seitens der Bundesregierung erklärte Vorbehalt sei wirksam, so dass die Antragsteller von
den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien. Hinsichtlich der Einzelheiten der Begründung verweist der Senat auf Blatt 74 ff. der Gerichtsakte.
Eine Folgenabwägung gehe zu seinen Gunsten aus. Die Antragstellerin zu 1) sei aus D. vor ihrem Partner geflohen. Soziale Bindungen
im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners seien nicht bekannt. Dagegen bestünden weiterhin Bindungen zur Großmutter in Estland.
Eine Ausreise könne nicht ausgeschlossen werden, so dass eine mögliche Rückforderung der Leistungen ggf. nur erschwert möglich
sei.
Der Antragsgegner beantragt,
unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Magdeburg vom 2. Oktober 2012 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung abzulehnen.
Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen und ihnen zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer
Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
Sie sind der Ansicht, sie seien von den Leistungen nach dem SGB II nicht ausgeschlossen, da der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt nicht europarechtskonform sei.
Mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 hat der Vorsitzende des erkennenden Senats den Antrag des Antragsgegners auf Aussetzung
der Vollziehung des angegriffenen Beschlusses zurückgewiesen.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakte
des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Die nach §
173 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist insbesondere statthaft nach §
172 Abs.
3 Nr.
1 SGG. Die Verpflichtung des Antragsgegners, an die Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit von Oktober 2012 bis März 2013 zu zahlen, überschreitet allein durch die an die Antragstellerin
zu 1) zu zahlende Regelleistung den nach §
144 Abs.
1 Satz 1 Nr.
1 SGG heranzuziehenden Berufungswert i.H.v. 750 EUR.
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Antragsgegner wie oben beschrieben zur vorläufigen Leistung
verpflichtet.
Das Gericht kann nach §
86b Abs.
2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung
des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige
Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn
eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung
ist gemäß §
86b Abs.
2 Satz 4
SGG i.V.m. §
920 Abs.
2 Zivilprozessordnung (
ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsgrunds (also die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile), als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen
materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige
Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden.
Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das
Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses
Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen
zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens
getroffen werden, die das Gericht in der Hauptsache nicht bindet.
Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich
sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 10. Aufl. §
86b, Rn. 16b).
Ein Anordnungsgrund ist vorliegend gegeben. Die Antragsteller verfügen nach ihren glaubhaft gemachten Angaben über keine bereiten
Mittel, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Der Senat kann nach der in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen nur summarischen Prüfung allerdings abschließend
nicht klären, ob die Antragsteller auch einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, insbesondere ob der von der Bundesrepublik Deutschland erklärte Vorbehalt rechtswirksam ist. Diese Rechtsfrage ist
umstritten und kann grundsätzlich in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund der Komplexität der Rechtslage
nicht abschließend entschieden werden. Insoweit macht sich der Senat die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts nach
eigener Prüfung zu Eigen und verweist auf diese.
Es ist deswegen im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. In Anbetracht ihrer wirtschaftlichen Situation muss das Risiko
des Antragsgegners im Falle seines Obsiegens im Hauptsacheverfahren, die vorläufig zu gewährenden Leistungen nur unter Schwierigkeiten
zurückerhalten zu können, hinter dem Begehren der Antragsteller auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zurücktreten.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner einen Anspruch auf Ersatz der gewährten Leistungen nach § 36a SGB II gegen das Jobcenter D. als örtlich zuständigem Leistungsträger hat. Sucht danach eine Person in einem Frauenhaus Zuflucht,
ist der kommunale Träger am bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort verpflichtet, dem durch die Aufnahme im Frauenhaus zuständigen
kommunalen Träger am Ort des Frauenhauses die Kosten für die Zeit des Aufenthaltes zu erstatten. (vgl. dazu näher BSG, Urteil vom 23. Mai 2012, B 14 AS 156/11 R).
Den Antragstellern war unabhängig von den Erfolgsaussichten nach §
119 Abs.
1 ZPO Prozesskostenhilfe zur Durchführung des Beschwerdeverfahrens zu bewilligen. Sie sind nach §
73 a SGG, §
114 ZPO wirtschaftlich nicht in der Lage die Prozesskosten, auch nicht teilweise, zu tragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des §
193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§
177 SGG).