Zurechnung einer Gesundheitsstörung zu einem Arbeitsunfall in der gesetzlichen Unfallversicherung; Kausalität bei einem Vorschaden
Tatbestand:
Streitig ist, ob ein Arbeitsunfall einen zusätzlichen (Gesundheitserst-)Schaden umfasst.
Der 1965 geborene Kläger rutschte am 10. Juni 2008 um 10.15 Uhr bei versicherter Tätigkeit (Demontage von Hilfseisen an der
Anschlussbewehrung einer Bodenplatte) mit einem Fuß ab, stürzte nach vorn und prallte dabei u.a. mit dem Mund auf nach oben
stehende Bewehrungsstangen. Dabei zog er sich Prellungen und Abschürfungen am rechten Unterarm sowie im Bereich des Mundes
zu und schlug sich zwei Zähne aus (Unfallanzeige vom 20. Juni 2008 sowie undatierte Unfallschilderung). Die am selben Tag
um 13.00 Uhr aufgesuchte Zahnärztin Dr. G. replantierte die Zähne 21 und 22 nach einer außerhalb der Mundhöhle durchgeführten
Wurzelbehandlung. Vor dem Unfall fehlten beim Kläger die Zähne 12 (eingeengter Lückenschluss), 16, 17, 24, 27, 28 sowie 38
und 48. Die Zähne 11 und 21 waren überkront. Nach dem der Beklagten vorgelegten Heil- und Kostenplan sollte der Zahn 21 im
Rahmen einer Brückenversorgung unter Einbeziehung der Zähne 11, 13, 23, 24 und 26 ersetzt werden.
In seinen beratenden Stellungnahmen vom 16. April und 30. August 2009 verwies der Zahnarzt S. darauf, dass die Zähne 21 und
22 bereits wurzelbehandelt gewesen seien. Ferner ergebe sich aus der vorgelegten Röntgenaufnahme vom 10. Juni 2008 ein horizontaler
Knochenabbau mit vertikalen Einbrüchen im gesamten Gebiss. Sämtliche Oberkieferzähne seien nur noch mit dem oberen Wurzeldrittel
im Knochen verankert. Dies entspreche einer fortgeschrittenen Parodontitis. Insbesondere die unfallbedingt betroffenen Zähne
21 und 22 stünden praktisch nur noch mit der Wurzelspitze im Knochen. Es sei davon auszugehen, dass diese Zähne zum Unfallzeitpunkt
nur noch bedingt erhaltungswürdig gewesen seien und bereits einen Lockerungsgrad II bis III aufgewiesen hätten, so dass der
Unfall nur als Gelegenheitsursache zu werten sei. Im Übrigen sei die geplante Brückenversorgung angesichts des parodontalen
Gebisszustandes kontraindiziert, da die Zähne für eine festsitzende Versorgung ungeeignet erschienen und in nächster Zeit
mit weiteren Zahnverlusten zu rechnen sei.
Mit Bescheid vom 23. April 2009 erkannte die Beklagte den Unfall vom 10. Juni 2008 in der Sache als Arbeitsunfall an und lehnte
eine Kostenübernahme für zahnärztliche sowie prothetische Leistungen ab, da die Schädigung der Zähne nicht wesentlich ursächlich
auf diesen zurückzuführen sei. Vielmehr hätten die vom Unfall betroffenen Zähne zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vorschädigung
in so erheblichem Ausmaß aufgewiesen, dass sie allein deshalb nicht mehr als erhaltungswürdig einzustufen gewesen seien.
Zur Begründung seines hiergegen am 18. Mai 2009 erhobenen Widerspruchs erklärte der Kläger, er nehme an einem Prophylaxeprogramm
teil. Die letzte Vorsorgeuntersuchung habe am 13. Mai und die letzte prophylaktische Zahnreinigung am 3. Juni 2008 stattgefunden.
Zahn 21 sei am 13. Oktober 2008 endgültig verloren gegangen; Zahn 22 sei nach der durchgeführten zahnärztlichen Behandlung
klinisch wieder fest. Dr. G. gab unter dem 27. Mai 2009 an, die Zähne 21 und 22 seien vor dem Unfall fest gewesen und es habe
eine stabile okklusale Abstützung bestanden. Nur anhand einer Röntgenaufnahme lasse sich der klinische Zustand nicht beurteilen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und vertiefte ihre
Ausführungen aus dem Ausgangsbescheid.
Am 17. November 2009 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und sein Anliegen weiter verfolgt. Dieses hat von Dr. G. neben weiteren Röntgenaufnahmen den Befundbericht
vom 5. März 2010 beigezogen. Die Ärztin hat ausgeführt, an den Zähnen 21 und 22 habe vor dem Unfall bei optimaler klinischer
Prognose nur ein leichter Knochenschaden bestanden. Die Zähne seien fest gewesen; es habe kein Zahnersatz vorgelegen. Zahn
21 sei überkront gewesen; eine Parodontitis habe nicht bestanden.
Ferner hat das SG von dem Direktor der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Magdeburg Prof. Dr. Dr. G. das zusammen
mit der Oberärztin Dr. K. erstellte Gutachten vom 3. Dezember 2010 nach ambulanter Untersuchung am 3. November 2010 eingeholt.
Die Sachverständigen haben ergänzend mitgeteilt, Zahn 22 sei wegen zunehmender Lockerung im September 2010 extrahiert worden.
Sie haben eine generalisierte chronische Parodontitis diagnostiziert, die im Oberkiefer deutlicher ausgeprägt sei als im Unterkiefer.
Die Zähne 15, 14, 13, 26, 37, 36, 44, 45 und 47 wiesen eine beginnende parodontale Lockerung auf. Dem Röntgenbild vom 26.
Juni 2003 sei ein horizontaler Knochenabbau mit ausgeprägten vertikalen Einbrüchen im Bereich der Zähne 17, 16, 26, 27, 36,
45 und 46 zu entnehmen. Die Wurzeln der Zähne 21 und 22 seien zu zwei Dritteln im Knochen verankert. Die Aufnahme vom 10.
Juni 2008 zeige im Oberkiefer ein Fehlen der Zähne 17, 16, 12, 24, 27 und 28. Zahn 21 sei überkront; Zahn 22 sei wurzelgefüllt.
Die Zähne 15, 11, 23 und 25 seien im Oberkiefer noch mit einem Wurzeldrittel knöchern verankert. Die Wurzeln der Zähne 21
und 22 wiesen dagegen nur noch eine minimale knöcherne Verankerung auf. Allerdings zeige das Orthopantomogramm vom Unfalltag
apikal (zur Wurzelspitze hin) dieser Zähne dreieckige Aufhellungen, die belegten, dass beide Zähne vor dem Unfall zumindest
mit dem Wurzeldrittel im Knochen fixiert gewesen seien. Im Vergleich zur Voraufnahme zeige sich damit eine gravierende Verschlechterung
der parodontalen Situation. Auf der Aufnahme vom 27. Mai 2010 weise nur die zum Zahn 23 liegende Wurzelseite von Zahn 22 eine
geringfügige knöcherne Verankerung auf. Im Ergebnis sei der Verlust der Zähne 21 und 22 als unfallbedingt anzusehen und die
damit verbundenen zahnärztlichen Behandlungen folglich auf den Unfall zurückzuführen. Nach der Röntgenaufnahme vom 26. März
2003 seien beide Zähne zu dieser Zeit noch zu zwei Dritteln im knöchernen Zahnfach verankert gewesen. Zu ihrem Lockerungsgrad
im Unfallzeitpunkt lasse sich keine Aussage treffen. Trotz der lege artis durchgeführten primären zahnärztlichen Behandlung
seien vom Unfallzeitpunkt bis zur Replantation zwei Stunden und 45 Minuten vergangen. Nach wissenschaftlichem Kenntnisstand
bestehe bei einer Zahnluxation (zur Gewährleistung optimaler Erfolgschancen) die Notwendigkeit der sofortigen Reposition in
das zugehörige Zahnfach und der Ruhigstellung über einen Schienenverband. Denn durch die rasche Ausbildung eines Hämatoms
in der Alveole werde die anatomische Reposition mit zunehmender Zeit erschwert. Angesichts der parodontalen Situation sei
anstatt einer festsitzenden Brückenkonstruktion eine teleskopierende Modellgussprothese anzuraten.
Die Beklagte hat hierzu die ergänzende Stellungnahme Herrn S. vom 14. Februar 2011 vorgelegt. Dieser hat darin eingeschätzt,
beim vorliegenden Ausgangsbefund habe auch ein bestimmungsgemäßer Gebrauch der Struktur jederzeit eine Zahnlockerung bewirken
können, die im weiteren Verlauf den Verlust der Zähne bedingt haben würde. Auch ohne das Unfallereignis sei die gleiche zahnärztliche
Behandlung wie geschehen indiziert gewesen.
Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. haben hierzu unter dem 5. Mai 2011 darauf verwiesen, dass nach den Mitteilungen Dr. G. keine prothetischen
Maßnahmen geplant, der hygienische Zustand der Zähne einwandfrei und die Zähne 21 und 22 im Mai und Anfang Juni 2008 klinisch
fest gewesen seien. Auch nur noch zu einem Drittel knöchern verankerte Zähne könnten der Kaudruckbelastung im physiologisch
tolerierbaren Bereich standhalten. Ob und wann der Verlust der Zähne 21 und 22 ohne traumatisches Ereignis eingetreten wäre,
lasse sich nicht einschätzen.
Mit Urteil vom 29. November 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Der Verlust der Zähne 21 und 22 sei angesichts der vor dem Arbeitsunfall
bestehenden Situation nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diesen zurückzuführen. So hätten vor dem Unfall von den
16 Zähnen des Oberkiefers sechs gefehlt (17, 16, 24, 27, 28 und 12). Zwei weitere Zähne (11 und 21) seien überkront und die
Wurzeln der Zähne 15, 11, 23 und 25 nur zu einem Drittel im Knochen verankert gewesen. Auch die Sachverständigen hätten nur
vier Oberkieferzähne (18, 14, 22 und 26) als nicht auffällig beschrieben. Wie sich aus den Röntgenbildern ergebe, sei bis
zum Jahre 2008 eine gravierende Verschlechterung der parodontalen Situation eingetreten, womit die Angaben Dr. G. widerlegt
seien.
Gegen das ihm am 7. Dezember 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Januar 2012 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt
Berufung eingelegt und sich auf die Mitteilungen und Bewertungen von Dr. G. sowie Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. gestützt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. November 2011 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 23. April 2009 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 aufzuheben und festzustellen, dass der Arbeitsunfall vom 10. Juni
2008 als Schaden auch den Verlust der Zähne 21 und 22 umfasst.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des SG. Dieses habe zutreffend herausgearbeitet, dass das Unfallereignis unter Berücksichtigung des massiven Vorschadens nur eine
rechtlich unwesentliche Gelegenheitsursache für den Verlust der Zähne gewesen sei.
Der Senat hat den Zahnarzt Dr. E. nach Aktenlage mit der Erstellung des Gutachtens vom 21. Februar 2013 beauftragt. Dieser
ist zu dem Ergebnis gelangt, der Arbeitsunfall habe den Verlust der Zähne 21 und 22 nicht mit Wahrscheinlichkeit wesentlich
verursacht. Vielmehr sei er mit absoluter Sicherheit als Gelegenheitsursache anzusehen. Denn die Vorschädigung sei so massiv
gewesen, dass auch eine ganz gewöhnliche Kaubelastung des täglichen Lebens für den Verlust ausgereicht habe. Darin, dass beim
Kläger bereits zum Unfallzeitpunkt eine ausgeprägte schicksalhafte Parodontalerkrankung bestanden habe, seien sich alle eingeschalteten
Gutachter und Sachverständigen einig. Unter Bezugnahme auf von ihm beigefügte Literatur hat der Dr. E. erläutert, dass Zähne
nicht im knöchernen Zahnbett zementiert, sondern hierin durch den Zahnhalteapparat (Bindegewebsstruktur mit Sharpey´schen
Fasern) elastisch befestigt seien und so eine begrenzte physiologische Beweglichkeit aufwiesen. Da eine Parodontalerkrankung
auch ohne entzündliche Prozesse und klinische Symptome ablaufen könne, werde sie vom Betroffenen oft überhaupt nicht bemerkt
und könne dann nur röntgenologisch nachgewiesen werden. Der Röntgenaufnahme vom 26. Juni 2003 sei das Vorliegen einer generalisierten
Parodontalerkrankung deutlich zu entnehmen. Auf den Folgeaufnahmen vom 10. Juni 2008 und 27. Mai 2010 komme dann ihr volles
Ausmaß zur Darstellung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung
und der Entscheidungsfindung des Senats.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger kann sein Anliegen zulässigerweise als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach den §§
54 Abs.
1,
55 Abs.
1 Nr.
1 SGG verfolgen (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 24/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 18). Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte - anknüpfend an den ihr vorgelegten Heil- und
Kostenplan - zwar zunächst eine Kostenübernahme abgelehnt. Hierin erschöpft sich der Verwaltungsakt vom 23. April 2009 indessen
nicht. Vielmehr enthält er darüber hinaus auch dahin Regelungen im Sinne des § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch, dass
der Unfall vom 10. Juni 2008 als Arbeitsunfall anerkannt wird und die Schädigung der Zähne auf diesen nicht ursächlich zurückzuführen
sei. Dass sich diese Verfügungen im Begründungsteil des Bescheides finden, ist vorliegend unschädlich. Denn nach seinem "Empfängerhorizont"
konnte der Kläger ihn nur so verstehen, dass der Wille der Beklagten (vgl. §
133 Bürgerliches Gesetzbuch) gerade darauf abzielte, nicht lediglich die Kosten einer aktuell geplanten Versorgung abzulehnen, sondern eine durch den
Arbeitsunfall bedingte Schädigung der Zähne ganz generell auszuschließen (vgl. zur Auslegung von Verwaltungsakten BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 36/03 R - juris). Ebenso steht der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses ein endgültiger Verlust "nur" bei Zahn 21 aufgetreten
war, der Antragsfassung nicht entgegen. Sie ist auf die Anerkennung gerichtet, dass der Arbeitsunfall vor allem auch eine
Schädigung der Zähne 21 und 22 umfasst, die sich nachfolgend im Hinblick auf den letztgenannten Zahn ebenfalls im Sinne eines
endgültigen Verlustes konkretisiert hat. Genau darüber ist von der Beklagten im angefochtenen Bescheid entschieden worden.
Dass der Kläger mit dieser Feststellungsklage von seiner im Klageverfahren zunächst noch begehrten Übernahme der Kosten für
zahnärztliche und prothetische Leistungen abgerückt ist, beinhaltet eine Klageänderung, in die die Beklagte eingewilligt hat.
Darüber hinaus ist sie angesichts der zahnärztlich übereinstimmend als kontraindiziert bewerteten ursprünglichen Versorgung
sachdienlich, womit Zulässigkeit im Sinne von §
99 Abs.
1 SGG vorliegt.
Die Feststellungsklage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 29. Oktober 2009 beschwert den Kläger deshalb im Sinne der §§
157,
54 Abs.
2 Satz 1
SGG, weil der Verlust der Zähne 21 und 22 als weiterer (Gesundheitserst-)Schaden des Arbeitsunfalls vom 10. Juni 2008 anzuerkennen
ist.
Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind einem Arbeitsunfall (als zusätzliche Schäden/Folgen) zuzurechnen, wenn zwischen dem
Unfallereignis und ihnen - entweder direkt oder vermittelt durch einen beim Arbeitsunfall eingetretenen Gesundheitserstschaden
- ein Ursachenzusammenhang im Sinne von §
8 Abs.
1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - besteht. Dabei gilt der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Sie liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung
aller Umstände mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, sodass darauf die richterliche
Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt dagegen nicht. Dabei setzt die im Recht
der gesetzlichen Unfallversicherung geltende "Theorie der wesentlichen Bedingung" in Eingrenzung der naturwissenschaftlich-philosophischen
Bedingungstheorie, nach der jede nicht hinwegzudenkende Bedingung (conditio-sine-qua-non) kausal ist, voraus, dass das versicherte
Geschehen wegen seiner besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich beteiligt war. Welche Ursache wesentlich
ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt
des Erfolgs (Gesundheitsschaden) wertend abgeleitet werden. Gesichtspunkte hierfür können insbesondere die Art und das Ausmaß
der versicherten Einwirkung und das Gewicht gegebenenfalls vorhandener konkurrierender Ursachen sein. Erst wenn feststeht,
dass ein bestimmtes Ereignis eine naturwissenschaftliche Ursache für einen Erfolg ist, stellt sich in einem zweiten Schritt
die Frage nach einer wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 15; Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17; Urteil vom 15. Mai 2012 - B 2 U 31/11 R - NZS 2012, 909).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es hinreichend wahrscheinlich, dass der Verlust der Zähne 21 und 22 durch den Arbeitsunfall
vom 10. Juni 2008 wesentlich (mit-)verursacht worden ist.
Zunächst liegen Zweifel daran fern, dass das Unfallgeschehen vom 10. Juni 2008 als eine naturwissenschaftliche Bedingung des
Zahnverlustes wirksam geworden ist. Denn ohne den Sturz des Klägers wären die Zähne zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht ausgeschlagen
worden. Hiergegen wenden sich weder Herr S. noch Dr. E., deren Einschätzung des Unfalls als Gelegenheitsursache vielmehr die
naturwissenschaftliche Kausalität voraussetzt. Daneben ist nach den insoweit gleichlautenden Feststellungen sämtlicher eingeschalteten
Fachärzte als weitere naturwissenschaftliche Ursache ein Vorschaden zu berücksichtigen.
Als Vorschaden ist beim Kläger durch die Behandlungsunterlagen und sachverständig ausgewerteten bildgebenden Befunde von Dr.
G. entgegen deren anderslautender Einschätzung eine ausgeprägte Parodontitis belegt. Bereits im Jahre 2003 fehlten von den
insgesamt 16 Oberkieferzähnen des Klägers sechs (16, 17, 24, 27, 28 und 12). Außerdem waren die Zähne 11 und 21 überkront.
Durch den Vergleich der Röntgenaufnahmen vom 26. Juni 2003 und 10. Juni 2008 ist nachgewiesen, dass innerhalb dieser fünf
Jahre eine gravierende Verschlechterung der parodontalen Situation mit einem Fortschreiten des horizontalen Knochenabbaus
und ausgeprägten vertikalen Einbrüchen eingetreten ist, wie auch Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. bestätigt haben. Von den vom
Unfall unbeeinträchtigten Oberkieferzähnen 18, 15, 14, 13, 11, 23, 25 und 26 waren nur noch die Zähne 15, 11, 23 und 25 mit
einem Drittel ihrer Wurzel knöchern verankert.
Auch angesichts dieses Vorschadens ist der Verlust der Zähne dem Arbeitsunfall jedoch rechtlich wesentlich zuzurechnen. Denn
der Vorschaden ist nach Überzeugung des Senats entgegen den Annahmen von Dr. E. und Herrn S. nicht als derart überragend zu
veranschlagen, dass er der Unfalleinwirkung die Qualität einer erheblich mitwirkenden Bedingung vollständig nimmt. Beide Zahnmediziner
haben zwar die Ansicht vertreten, eine ganz gewöhnliche Kaubelastung des täglichen Lebens habe für den Verlust der Zähne ausgereicht
bzw. eine solche habe jederzeit eine Zahnlockerung mit nachfolgendem Verlust im weiteren zeitlichen Verlauf bewirken können.
Insoweit leuchtet aber schon nicht ein, weshalb Zahn 21 derartigen Einwirkungen dann überhaupt vier und Zahn 22 sogar 27 Monate
standgehalten hat. Rechtlich maßgeblich kommt es aber gerade darauf an, ob der Vorschaden so weit fortgeschritten war, dass
der Erfolg (hier Verlust der Zähne) zu (etwa) derselben Zeit - und nicht irgendwann in der Zukunft - auch durch eine Alltagsbelastung
bewirkt worden wäre (vgl. nur BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 - B 2 U 8/06 R - juris). Um nachvollziehbar zu sein, muss sich eine solche Prognose auf objektiv feststellbare Umstände stützen können,
deren tatsächliche Grundlagen vollbeweislich belegbar sind. Hier sprechen bereits die zeitlichen Abstände zwischen dem Unfallereignis
und den Zeitpunkten der endgültigen Zahnverluste beachtlich der auf die Zähne innerhalb dieser Zeiträume einwirkenden Kaubelastungen
stark gegen die Thesen der beiden Fachärzte.
Zudem ist nicht ersichtlich und wird von Dr. E. und Herrn S. auch nicht erläutert, weshalb die Zähne 21 und 22 sich am Unfalltag
nicht in einem ähnlichen Zustand befunden haben sollen, wie ihre unmittelbaren Nachbarzähne 11 und 23. Soweit Herr S. insoweit
nach dem Röntgenbild vom 10. Juni 2008 aufgrund des Zustandes nach Retransplantation davon ausgegangen ist, dass die Zähne
21 und 22 praktisch nur noch mit der Wurzelspitze knöchernen Kontakt hatten, kann sich der Senat dem nicht anschließen. Denn
zwar haben auch Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. diesen Röntgenbefund bestätigt. Zugleich haben sie jedoch unwidersprochen darauf
hingewiesen, dass durch die auf dem Orthopantomogramm vom Unfalltag ersichtlichen dreieckigen Aufhellungen über den Wurzeln
dieser Zähne ihre zuvor bestehende knöcherne Fixierung mit einem Wurzeldrittel belegt wird. Diese radiologische Situation
stellt in sich auch keinen Widerspruch dar. Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. haben unter Bezugnahme auf die von ihnen zitierte
Literatur nämlich nachvollziehbar dargestellt, dass mit zunehmendem Zeitabstand zwischen Avulsion und Replantation infolge
rascher Hämatombildung in der Alveole die Reposition erschwert wird. Auch hiergegen haben sich weder Herr S. noch Dr. E. gewandt.
Insoweit wird durch die Sachverständigen aber zugleich eine plausible Erklärung dafür geliefert, weshalb Dr. G. die Zähne
nicht in genau der Tiefe repositionieren konnte, die sie zuvor hatten. Die Vermutung, wonach die Zähne 21 und 22 zum Unfallzeitpunkt
praktisch nur noch minimalen Wurzelkontakt zum Knochen hatten, ist damit entkräftet. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass
sie seinerzeit ebenso wie ihre unmittelbaren Nachbarzähne zumindest noch mit einem Wurzeldrittel knöchern fixiert waren.
Schließlich darf auch die klinische Situation zur Erhärtung bzw. Entkräftung der Hypothese, ob sich der Zahnschaden auch ohne
Unfalleinwirkung zur (annähernd) gleichen Zeit durch jedes andere austauschbare Alltagsereignis verwirklicht hätte, nicht
unberücksichtigt bleiben. Auch wenn sich das Ausmaß einer Parodontitis nach den Ausführungen Dr. E.s im Wesentlichen nur bildgebend
feststellen lässt, kann allein der radiologische Gebissstatus den von Dr. G. kurze Zeit vor dem Unfall festgestellten klinischen
Befund doch nicht widerlegen. Nach diesem wiesen die Zähne 21 und 22 sowohl am 13. Mai als auch am 3. Juni 2008 eine optimale
klinische Prognose auf, die keine Veranlassung zu irgendeiner prothetischen Versorgung gab. Folglich spricht auch die klinische
Situation für eine im Unfallzeitpunkt (noch) ausreichend feste Einbindung der Zähne im Kiefer. Auch hierauf haben Prof. Dr.
Dr. G. und Dr. K. nachvollziehbar hingewiesen.
Insgesamt muss damit zwar von einem allmählichen unfallunabhängigen Fortschreiten der Parodontitis ausgegangen werden, von
der auch die Zähne 21 und 22 nicht verschont geblieben sind. Eine zum Unfallzeitpunkt auf alltägliche Belastungen jederzeit
ansprechende Verlustbereitschaft bei nahezu vollständig fehlender knöcherner Verankerung und korrespondierender klinischer
Situation ist andererseits jedoch gerade nicht (voll) zu sichern bzw. sogar widerlegt. Im Ergebnis kommt dem Vorschaden in
Relation zum Unfallgeschehen folglich kein derartiges Gewicht zu, dass beim Senat ernste Zweifel an einer wesentlichen Teilursächlichkeit
des Unfalls für den Zahnschaden verbleiben. Er folgt deshalb der lebensnahen Bewertung von Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K., wonach
sich eben keine Aussage dazu treffen lässt, ob und wann der Verlust der Zähne 21 und 22 ohne traumatisches Ereignis eingetreten
wäre.
Nach alledem war der Berufung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor, weil es sich bei der Entscheidung um die Würdigung der tatsächlichen Umstände des vorliegenden Einzelfalls
auf sicherer Rechtsgrundlage gehandelt hat.