Verfahren zur Feststellung der Behinderung nach SGB IX; Zu den Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" bei multipler Sklerose - Merkzeichen "RF"; Rundfunkbeitrag; Rundfunkgebühren
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" - (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht)
bzw. ab dem 1. Januar 2013 die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht.
Der Beklagte stellte bei dem am ... 1957 geborenen Kläger mit Bescheid vom 24. Oktober 2003 einen Grad der Behinderung (GdB)
von 50 sowie das Merkzeichen "G" (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr) wegen einer Multiple
Sklerose (MS) fest. Auf seinen Widerspruch änderte der Beklagte diesen Bescheid ab und stellte einen GdB von 60 fest mit (Bescheid
vom 22. April 2004). Am 10. Februar 2005 beantragte der Kläger die Neufeststellung seiner Behinderungen und verlangte wegen
einer verstärkten Einschränkung der Gehfähigkeit das Merkzeichen "aG" (Außergewöhnliche Gehbehinderung). Nach medizinischen
Ermittlungen, die eine deutliche Verschlechterung der Mobilität des Klägers belegen konnten, hob der Beklagte den Bescheid
vom 22. April 2004 auf und stellte ab dem 10. Februar 2005 einen GdB von 80 sowie die Merkzeichen "G", "aG" und "B" (Berechtigung
für eine ständige Begleitung) fest (Bescheid vom 20. September 2005).
Am 22. September 2006 beantragte der Kläger beim Beklagten das Merkzeichen "RF" und machte geltend: Wegen der schwersten Einschränkungen
in der Beweglichkeit sowie einer schwer kontrollierbaren Inkontinenz und weiterer Symptome sei eine weitere Verschlechterung
eingetreten. Der Beklagte zog ein Pflegegutachten der ... Krankenversicherung bei. Danach werde die Physiotherapie und die
hausärztliche Versorgung von Dr. B. jeweils in der Wohnung des Klägers durchgeführt. Der Kläger sei alleinstehend und ohne
regelmäßige Betreuungsperson, so dass die Belange der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung lediglich durch
Bekannte erfüllt würden, was zu einem erheblichen Pflegedefizit geführt habe. Die mögliche Gehstrecke mit Rollator sei auf
ca. 100 Meter begrenzt. Der Pflegebedarf in der Grundpflege betrage 55 Minuten und in der Hauswirtschaftlichen Versorgung
45 Minuten, so dass die Voraussetzungen der Pflegestufe I gegeben seien. Der Beklagte holte einen Befundschein von der Allgemeinmedizinerin
Dr. B. vom 16. November 2006 ein. Hiernach habe es beim Kläger im letzten Jahr mehrere akute Schübe gegeben, die zu einer
Pflegebedürftigkeit geführt hätten. Der Kläger wolle trotz seiner Behinderung als Beamter in der Stadtverwaltung weiter arbeiten.
Es bestehe eine extreme Geh- und Stehbehinderung. Dr. S. diagnostizierte in einem beigefügten Reha-Entlassungsbericht des
Reha-Zentrums Bad ... über einen stationären Aufenthalt vom 9. November bis 21. Dezember 2005:
MS, akuter Schub,
Arterielle Hypertonie,
Organische affektive Störung, leichte depressive Episode.
Der Kläger sei am 25. Oktober 2005 wegen völliger Gehunfähigkeit, Spastiken und Verkrampfungen in den Zehen sowie Empfindungsstörungen
der Beine und einer Blasenentleerungsstörung stationär im Klinikum B. W. aufgenommen worden. Nach erfolgloser Behandlung sei
es zu einer Anschlussheilbehandlung gekommen. In einem beigefügten Brief der Klinik B. W. vom 29. Juni 2006 berichtete der
Facharzt für Neurologie und Chefarzt Dr. F. über einen stationären Aufenthalt vom 2. Mai bis 12. Mai 2006. Hiernach habe der
Kläger nach einem Sturz am 29. April 2006 eine subkapitale Humerusfraktur rechts erlitten. Der Wegfall der Funktion des rechten
Armes nach Versorgung mit einer PSI-Schiene habe zu einer völligen Unfähigkeit geführt, sich fortzubewegen oder zu versorgen.
Unter dem 18. Juli 2006 berichtete die M.- Klinik F. über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 12. Mai 2006 bis 7.
Juli 2006. Hiernach bestehe neben den bekannten Diagnosen eine Herzinsuffizienz aktuell NYHA III sowie eine chronisch depressive
Entwicklung bei beginnenden kognitiven Veränderungen. Der Kläger könne aktuell seinen rechten Arm nicht mehr einsetzen. Die
Gehfähigkeit habe sich verschlechtert und die Spastik zugenommen, so dass ihm ein Umsetzen nicht mehr möglich sei. Im psychopathologischen
Befund hätten sich Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite ohne Selbstreflektion gezeigt. Der Kläger leide an einer fortgeschrittenen
MS, die chronisch progredient verlaufe. Dabei hätten sich ausgeprägte spastische Paraparesen und diskrete hirnorganische Veränderungen
entwickelt. Die Fraktur habe zu einer Dekompensation der physischen und psychischen Kräfte geführt, was eine Pflegebedürftigkeit
nach sich gezogen habe. Der Kläger könne sich nicht mehr alleine anziehen oder waschen. Nur mit massiver Unterstützung seien
ihm noch einige Schritte möglich. Unter Zunahme der Spastiken hätten sich schmerzhafte Krampi in beiden Beinen entwickelt.
Zudem bestehe eine Blasenentleerungsstörung im Sinne einer spastischen Blase mit einer Entleerungsfrequenz von bis zu 20 Mal
(elf Mal nachts). Die kardiale Symptomatik habe sich bei Gewichtsabnahme deutlich gebessert.
In Auswertung der Befunde hielt der Versorgungsarzt Dr. H. die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" für nicht gegeben. Dem
folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Februar 2007 eine Feststellung des Merkzeichens ab. In dem dagegen eingelegten
Widerspruch vom 8. März 2007 macht der Kläger geltend: Sein gesundheitlicher Zustand habe sich nachhaltig verschlechtert.
Er benötige nun ständig den Rollstuhl und fremde Hilfe. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen sei ihm wegen der Gefahr des
Einnässens verschlossen. Die für ihn psychisch wichtige Berufsausübung könne er nur durch das besondere Verständnis seiner
Arbeitskollegen noch bewältigen. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2008 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die dagegen
gerichtete Klage vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau (S 5 SB 108/08) blieb erfolglos (Urteil vom 11. September 2008).
Am 26. November 2008 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag und beantragte erneut das Merkzeichen "RF". Das Urteil
habe ihn empört und fassungslos gemacht. Ihm sei unverständlich, wie er noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen solle.
Zu allem Übel sei er noch an einem Diabetes mellitus erkrankt. Trotz aller Mühsal gehe er immer noch seiner Arbeit nach. Dr.
B. sei vom Beklagten nicht mehr befragt worden, obwohl sie seine Lage am besten einschätzen könne.
Der Beklagte zog über die D. ein weiteres Pflegegutachten bei. Der Gutachter und praktischer Arzt G.hat darin unter dem 3.
September 2007 ausgeführt: Der Pflegebedarf habe sich beim Kläger auf die Pflegestufe II ab dem 1. Juli 2007 erhöht. Die Griffarten
seien rechts nur eingeschränkt vorführbar. An der rechten Hand bestünden ausgeprägte Sensibilitätsstörungen, während diese
links nur mäßig ausgeprägt seien. Die Feinmotorik der rechten Hand sei erheblich und die der linken Hand deutlich eingeschränkt.
Im Liegen könne der Kläger nur mit Mühe Gewichtverlagerungen vornehmen und sich aufrichten. Im Sitzen könne er die Füße mit
den Händen nicht erreichen. Das Anheben der Knie im Sitzen sowie das freie Stehen seien unmöglich. Beim passiven Bewegen der
Beine komme es zu Spastiken. Sicherer Stand sei nur mit Hilfe möglich. Der Kläger könne nur kleinschrittig und ataktisch noch
wenige Schritte gehen. Das Verlassen der Wohnung sei nur noch mittels Fahrdienst möglich. Im Bereich der inneren Organe seien
keine Anzeichen einer akuten cardiopulmonalen Dekompensation erkennbar (Hypertonie, Herzinsuffizienz mit erheblicher Ödembildung
gegeben). Wegen des häufigen und plötzlichen Harndrangs bestehe der Verdacht auf eine neurogene Blasenentleerungsstörung.
Zwei Mal täglich trete Harnkontinenz auf und müssten deshalb Vorlagen getragen werden, da die Toilette nicht rechtzeitig erreicht
werde. In der Wohnung sei ein Inkontinenzgeruch wahrnehmbar, was dem Kläger sichtlich unangenehm sei. Inkontinenz sei auch
auf der Arbeit schon mehrfach eingetreten. Der Kläger versuche das Problem durch eine eingeschränkte Trinkmenge am Morgen
zu verringern. Auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet bestehe eine zunehmende bein- und rechtsbetonte spastische Tetraparese
mit zunehmender Immobilität. Mit Ausnahme einer deutlich reaktiv depressiven Verstimmung bestünde in den psychomentalen Fähigkeiten
keine Einschränkung.
Der Beklagte holte einen Befundschein von Dr. B. vom 5. Januar 2009 ein. Hiernach werde der Diabetes mellitus mit Tabletten
behandelt (Erstfeststellung: September 2007) und sei mittlerweile gut eingestellt. Der Kläger könne sich in der Wohnung nur
mittels Armkraft und Rollator noch bewegen. Dem Arztbrief waren weitere medizinische Unterlagen beigefügt. In Auswertung dieser
Befunde sprach sich die Fachärztin für Anästhesie und Sozialmedizin Dipl.-Med. C. für eine Erhöhung des GdB auf 90 aus, hielt
die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" aber für nicht gegeben. Der Kläger könne die Inkontinenz durch Hilfsmittel kompensieren.
Dem folgend hob der Beklagte den Bescheid vom 20. September 2005 auf (Bescheid vom 21. April 2009) und stellte ab dem 26.
November 2008 einen GdB von 90 sowie die Merkzeichen B, aG, G wie bisher fest. Hiergegen richtete sich der Widerspruch des
Klägers vom 14. Mai 2009. Nach Erhalt der Pflegestufe II seien die Voraussetzungen des Merkzeichens "H" (hilflos) und "RF"
gegeben. Daraufhin half der Beklagte dem Widerspruch mit Abhilfebescheid vom 10. Juni 2009 teilweise ab und stellte ab dem
26. November 2008 einen GdB von 100 sowie zusätzlich das Merkzeichen "H" fest. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" seien
dagegen nicht erfüllt. Mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 2009 wies der Beklagte den weitergehenden Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger, nunmehr anwaltlich vertreten, am 6. Oktober 2009 Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau (SG) erhoben und sein Begehren weiterverfolgt. Nur aufgrund der sehr behindertenfreundlichen Gegebenheiten an seiner Arbeitsstelle
könne er der beruflichen Beschäftigung noch nachgehen. Dies gelte jedoch nicht für die anderen öffentlichen Lebensbereiche,
die ihm nicht mehr zugänglich seien.
Der Beklagte hat geltend gemacht: Nach den strengen Vorgaben des Bundessozialgerichts (BSG) setze das Merkzeichen "RF" eine praktische Bindung an das Haus voraus, was beim Kläger nicht gegeben sei. Auch eine komplette
Harninkontinenz könne ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt werden, um in zumutbarer Weise noch an öffentlichen Veranstaltungen
teilnehmen zu können. Eine kombinierte komplette Stuhl- und Harninkontinenz sei beim Kläger nicht gegeben.
Das SG hat einen Befundbericht von Dr. B. vom 6. November 2009 eingeholt, wonach sich die Gehfähigkeit des Klägers weiter verschlechtert
habe. Er könne keinen Fuß mehr voreinander setzen und leide an den Extremitäten unter Parästhesien. Eine zunehmende aufsteigende
Lähmung habe zu einer Harn- und Stuhlinkontinenz geführt.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28. Januar 2010 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger
sei nicht ständig außerstande, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Dies zeige sich auch daran, dass er seiner Tätigkeit
als Beamter immer noch nachgehen könne. Eine faktische Bindung ans Haus sei daher nicht gegeben.
Der Kläger hat gegen den ihm am 1. Februar 2010 zugestellten Gerichtsbescheid am 26. Februar 2010 Berufung beim Landessozialgericht
Sachsen-Anhalt eingelegt und ergänzend ausgeführt: Seine berufliche Einbindung sei nur mit außerordentlichen Anstrengungen
und einem besonderen sozialen Netzwerk möglich. Alles was darüber hinausgehe, sei ihm dagegen ausgeschlossen und damit eine
Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen unmöglich.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 28. Januar 2010 aufzuheben, den Bescheid vom 21. April 2009 sowie
den Teilabhilfebescheid vom 10. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2009 abzuändern und
den Beklagten zu verpflichten, bei ihm ab dem 26. November 2008 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF"
festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält seine Bescheide sowie die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat einen Befundbericht von Dr. B. vom 4. November 2011 und vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. O. vom
20. Februar 2011 eingeholt. Dr. B. hat angegeben: Es habe beim Kläger eine schleichende Verschlechterung und eine Zunahme
von Lähmungserscheinungen gegeben. Trotz geeigneter Hilfsmittel sei dem Kläger eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen
nicht möglich. Die Mobilität sei zunehmend eingeschränkt. Auch trete zeitweise eine Harn- und Stuhlinkontinenz auf. Dr. O.
hat ausgeführt, es bestehe eine beinbetonte Tetraparese mit Kraftgrad 3/5 nach Janda sowie ein Harndrang.
Auf gerichtliche Nachfrage hat der Kläger einen Arztbrief der ...klinik Bad K. vom 14. Februar 2013 (stationärer Aufenthalt
vom 19. Dezember 2012 bis 5. Februar 2013) vorgelegt. Darin hat Chefarzt Dr. H. ausgeführt: Der geh- und stehunfähige Kläger
befinde sich in der aktiven Phase der Altersteilzeit, die am 30. November 2014 ende. Das Aufstehen sei erschwert und die Fortbewegung
werde mittels Elektrorollstuhl vorgenommen. Es bestehe eine Stuhlkontinenz mit Obstipationsneigung sowie eine Harninkontinenz
im Sinne einer Dranginkontinenz. Im Verlauf der Krankengymnastik habe die Spastik der Beine reduziert werden können. In neuropsychologischer
Sicht habe der Kläger sein vorrangiges Ziel erklärt, ohne Hilfe aus dem Rollstuhl aufstehen zu können. Im Abschlussbefund
habe der Kläger angegeben, ihm seien der Transfer sowie die Toilettenbenutzung selbstständig möglich. Die Beweglichkeit sei
verbessert worden und die Spastik rückläufig.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Facharzt für Neurologie Dr. W. (W.). Der
Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 15. Oktober 2013 (Untersuchung vom 1. Oktober 2013) ausgeführt: Der Kläger habe
den Begutachtungsort nach einer Fahrt von dreieinhalb Stunden erreicht, da er Pausen wegen Spasmen beider Beine habe einlegen
müssen. Er berichtete von erheblichen Behinderungen wegen seiner MS. Praktisch sei er vollständig auf den Rollstuhl angewiesen.
Bei emotionalen Veränderungen reagiere sein Körper mit teilweise schmerzhaften Spasmen in den Beinen. Trotz der Pflegestufe
II arbeite er nach wie vor noch als Beamter im Bürgerbüro. Die Arbeit halte ihn mental im Gleichgewicht. Nach einem Arbeitstag
fühle er sich oft müde und erschöpft. So könne er beispielsweise zum Feierabend nicht mehr lesen. Aufgrund seiner Harninkontinenz
nehme er nicht mehr an klassischen Konzerten teil, da er befürchte, einzunässen. Windeln trage er nicht, da diese mit der
Zeit unangenehm riechen würden. Gelegentlich mache er bei der Arbeit in die Hose, was ihm sehr peinlich sei. Vor bestimmten
Ereignissen versuche er die Harnproblematik durch Reduzierung der Trinkmenge einzuschränken. Der Kläger leide an einer chronisch
progredient verlaufenden MS, die sich in einer deutlich beinbetonten Tetraspastik der unteren Gliedmaßen auswirke. Ein Ausschluss
vor öffentlichen Veranstaltungen sei nicht anzunehmen. So habe der Kläger ca. 90 Minuten die Anamneseerhebung und Untersuchung
einschließlich gelegentlicher Spastiken durchstehen können. Diese Einschätzung decke sich auch mit den Angaben des Klägers
über seine berufliche Tätigkeit. Bezogen auf die dranghafte Harninkontinenz nehme er keine dagegen gerichteten Medikamente
ein. Vielmehr habe er sein Trinkverhalten auf diese Problematik in besonderer Weise ausgerichtet. Mit Rollstuhl sowie Begleitperson
könne der Kläger in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen besuchen. Die Inkontinenz samt Geruchsbelästigung schließe
eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen dagegen nicht aus.
Der Kläger hat gegen das Gutachten eingewandt: Die ständigen Spastiken sowie notwendigen Toilettengänge führten immer wieder
zu Unterbrechungen. Neben der Harninkontinenz bestehe auch eine Stuhlinkontinenz. Eintretende Spastiken machten ärztliche
Hilfe notwendig, so dass öffentliche Veranstaltungen von ihm abgebrochen werden müssten. Für ihn sei es unvorstellbar, ohne
Beeinträchtigungen an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Als Begleiter seien zwei Personen notwendig, da er
am Rollstuhl angeschnallt werden müsse und im Falle einer Spastik aus dem Rollstuhl fallen könne.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 3. Januar 2014 hat der Sachverständige Dr. W. ausgeführt: Während der Untersuchung
habe der Kläger Spasmen in beiden Beinen gehabt. Dieser "Anfall" habe kaum mehr als zwei Minuten gedauert und nicht zum Abbruch
der Untersuchung geführt. Der Einwand, es könne bei ihm zu erheblichen Geruchs- und Geräuschbelästigungen kommen, sei nachvollziehbar.
Dabei dürfe jedoch nicht übersehen werden, dass der Kläger vollschichtig in einem Büro mit Kundenverkehr arbeite. Es gebe
zwar Beeinträchtigungen, diese schlössen eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen jedoch nicht aus.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie Auszüge aus dem Pflegeversicherungsverfahren vorgelegen. Diese
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf die Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Kläger ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §
143 SGG, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Die Beteiligten streiten nach dem Teilabhilfebescheid vom 10. Juni 2009 nur noch um das Merkzeichen "RF" ab dem 26. November
2008. Die Berufung ist unbegründet, da dem Kläger kein Anspruch auf die Feststellung der Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht
bzw. ab dem 1. Januar 2013 für die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht für den Nachteilsausgleich "RF" zusteht (vgl.
§ 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen [SGB IX] in Verbindung mit §
3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenverordnung). Danach ist das Merkzeichen "RF" im Schwerbehindertenausweis auf der Rückseite
einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. In § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 und 8 sowie Abs. 3 des Rundfunkstaatsvertrages vom 31.
August 1991 in der Fassung des Art. 5 Nr. 6 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom
8. bis 15. Oktober 2004 in Verbindung mit dem Gesetz zu dem Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrag Sachsen-Anhalt vom 9. März
2005 (GVBl. LSA 2005, 122) sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ab
1. April 2005 geregelt. Seit dem 1. Januar 2013 gilt § 4 Abs. 2 Satz 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages vom 15. Dezember
2010, dieser verkündet als Art. 1 des Fünfzehnten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Fünfzehnter
Rundfunkänderungsstaatsvertrag) vom 15. Dezember 2010, bekannt gemacht als Anlage zum Vierten Medienrechtsänderungsgesetz
vom 12. Dezember 2011 (GVBL. LSA S. 824). Nach § 4 Abs. 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages tritt keine vollständige Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht mehr ein, sondern nur noch eine Ermäßigung auf ein Drittel.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags
und dem insoweit wortgleichen § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrages tritt eine Befreiung bzw.
Reduzierung der Rundfunkgebührenpflicht für folgenden Personenkreis ein:
blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von 60 vom Hundert allein
wegen der Sehbehinderung,
hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht
möglich ist, und
behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens
an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Die Voraussetzungen von Nr. 1 und Nr. 2 erfüllt der Kläger bereits nach der Befundgrundlage und den Feststellungen des Sachverständigen
Dr. W. nicht. Seh- und Hörstörungen sind ärztlich nicht dokumentiert und vom Kläger auch zu keinem Zeitpunkt behauptet worden.
Auch die Voraussetzungen von Nr. 3 sind nicht gegeben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind als
öffentliche Veranstaltungen im Sinne von Nr. 3 Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher,
sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der schwerbehinderte Mensch wegen
seines Leidens ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist.
Angesichts des im Berufungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens ist der Sachverhalt zur Überzeugung des Senats
umfassend in dem Sinne aufgeklärt, dass die medizinischen Voraussetzungen für das von dem Kläger begehrte Merkzeichen "RF"
nicht vorliegen. Zwar wurde dem Kläger ein GdB von 100 zuerkannt. Es bestehen jedoch keine Leiden im Sinne des § 6 Absatz
1 Satz 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages bzw. des § 4 Absatz 2 Nr. 3 des Rundfunkbeitragstaatsvertrages, die ihn
ständig daran hindern, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Seine schwere Mobilitätseinschränkung, die mit einer
vollständigen Rollstuhlpflichtigkeit verbunden ist, macht es ihm und seinen Begleitpersonen zweifelsohne aufwändig und beschwerlich,
irgendeine öffentliche Veranstaltung zu besuchen. Ausgeschlossen ist eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen wegen
der Beeinträchtigung der Mobilität jedoch nicht. Entscheidend für die Vergabe des Merkzeichens "RF" ist, dass der behinderte
Mensch faktisch an das Haus gebunden ist. Mögliche bauliche Behinderungen (z.B. nicht behindertengerechte Zugänge) haben dabei
unberücksichtigt zu bleiben (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18. September 2013, L 7 SB 41/10, zitiert nach juris). Eine derartige Einschränkung der Mobilität liegt beim Kläger bereits nach eigenem Vorbringen nicht
vor. Denn er benutzt außerhalb des Wohnortes einen Pkw und konnte beispielhaft den Sachverständigen im entfernten W. aufsuchen.
Auch geht er seiner beruflichen Tätigkeit als Beamter in einem Bürgerbüro noch nach. Damit liegt bei ihm gerade kein Fall
vor, der den Behinderten erkrankungsbedingt faktisch an das Haus "fesselt".
Auch in geistiger Hinsicht liegen keine Umstände vor, die den Kläger von einer öffentlichen Veranstaltung dauerhaft ausschließen.
Ein schwerbehinderter Mensch ist von öffentlichen Veranstaltungen dann ständig ausgeschlossen, wenn ihm deren Besuch mit Rücksicht
auf die Störung anderer Anwesender nicht zugemutet werden kann (BSG, Urteil vom 23. Februar 1987, 9 a RVs 72/85, zitiert nach juris). Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern
an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, behinderte Menschen wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere,
wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung
bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen
bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden
oder ansteckenden Krankheiten (vgl. BSG, Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, zitiert nach juris). In seinem Urteil vom 9. August 1995 (9 RVs 3/95, zitiert nach juris) hat das BSG dabei klargestellt, dass eine Blasenentleerungsstörung mit unkontrolliertem Harnabgang keine Zuerkennung des Merkzeichens
"RF" rechtfertigen kann. Vielmehr kann es dem Behinderten selbst unter Abwägung der betroffenen Grundrechte des Behinderten
zugemutet werden, Einmalwindeln bzw. Windelhosen zu benutzen (BSG aaO.).
Derartig schwerwiegende Störauswirkungen der Behinderungen für die Umgebung vermochte der gerichtliche Sachverständige bei
dem Kläger nicht festzustellen. Die Harn- und Stuhlinkontinenz ist dabei noch als weitgehend beherrschbar zu bewerten. So
konnte der Kläger an einer aufwändigen Begutachtungssituation beim Sachverständigen offenbar ohne wesentliche Einschränkungen
hinsichtlich der Harn- und Stuhlproblematik teilnehmen. Hierfür spricht auch, dass der Kläger immer noch seiner vollschichtigen
Berufstätigkeit als Beamter in einem Bürgerbüro nachgehen kann, auch wenn von Seiten der Kollegen und des Arbeitgebers sicherlich
besonders behindertenfreundliche Bedingungen geschaffen worden sind und es mitunter beim Kläger auch auf der Arbeit zum Einnässen
kommt. Anhand dieser dem Kläger noch möglichen Teilhabemöglichkeiten kann nicht von einem derart gravierenden Störungspotential
ausgegangen werden, dass die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausschließt. Die gegenteilige Ansicht von Dr. B. erfolgte
ohne Begründung und vermag den Senat nicht zu überzeugen. Der Senat verkennt dabei nicht, dass es dem Kläger aus verständlichen
Gründen emotional zutiefst unangenehm und peinlich ist, in eine Situation zu geraten, in denen unbekannte Dritte während einer
öffentlichen Veranstaltung z.B. sein Einnässen bemerken könnten. Für diesen Fall wäre es dem Kläger zuzumuten für den begrenzten
Zeitraum der öffentlichen Veranstaltung Windelhosen als Hilfsmittel zu nutzen (so zuletzt BSG, Beschluss vom 17. August 2010, B 9 SB 32/10 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, juris). Kommt es trotz dieser Hilfsmittel zu einer Geruchsbeeinträchtigung wäre diese nach der Rechtsprechung des BSG vom Behinderten und auch von der teilnehmenden Öffentlichkeit als zumutbar hinzunehmen.
Auch die beim Kläger auftretenden Spastiken rechtfertigen nicht das Merkzeichen "RF". Wie der Sachverständige in seiner ergänzenden
Stellungnahme überzeugend ausgeführt hat, dauerte der von ihm beobachtete Anfall nur wenige Minuten und führte nicht zu einem
Abbruch der Begutachtung. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn der Sachverständige auch in Würdigung der Spastiken
keine Gründe erkennt, die den Kläger von der Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung ausschließen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 Abs.
1 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß §
160 Abs.
2 SGG nicht gegeben sind.