Rechtskraftwirkung im sozialgerichtlichen Verfahren bei einem falschen Urteil; Präklusion von Tatsachen; Verzinsung von Ansprüchen
auf Arbeitslosengeld II
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II), für die Zeit von April 2005 bis Februar 2006. Streitig ist zwischen den Beteiligten insbesondere, wie weit die Rechtskraft
eines vorangegangenen sozialgerichtlichen Urteils reicht.
Der im Jahre 1949 geborene Kläger beantragte im September 2004 bei dem Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II. Hinsichtlich seiner Vermögensverhältnisse gab er an, über ein Girokonto-Guthaben in Höhe von 147,50 EUR, ein Sparbuch-Guthaben
in Höhe von 724,44 EUR, Bargeld in Höhe von 100,00 EUR, Genossenschaftsanteile mit einem Wert von 850,00 EUR sowie eine Lebensversicherung
der V_______ Versicherungs AG zu verfügen. Der Rückkaufwert dieser Lebensversicherung betrage zum 1. Oktober 2004 22.629,83
EUR. Eingezahlt habe er bislang insgesamt einen Betrag in Höhe von 20.451,68 EUR.
Mit Bescheid vom 8. November 2004 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II ab. Mit den nachgewiesenen Vermögensverhältnissen sei der Kläger nicht hilfebedürftig. Mit dem hiergegen am 25. November
2004 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, dass der Beklagte zu Unrecht die Rentenversicherung bei der V_______
Lebensversicherungs AG berücksichtigt habe. Inhalt dieser Rentenversicherung sei, dass er eine zusätzliche monatliche Altersrente
erhalte. Die Versicherung ziele allein auf eine Alterssicherung ab und dürfe daher nicht als Vermögen berücksichtigt werden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2005 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Rentenversicherung sei als Vermögen
zu berücksichtigen, da eine Verwertung aufgrund einer vertraglichen Regelung vor dem Eintritt in den Ruhestand nicht ausgeschlossen
worden sei. Die Verwertung der Versicherung sei auch nicht offensichtlich unwirtschaftlich und bedeute keine besondere Härte
für den Kläger. Der Kläger habe 20.451,68 EUR in die Versicherung eingezahlt und der Rückkaufwert liege mit 22.629,83 EUR
darüber. Unter Berücksichtigung des weitergehenden Vermögens ergebe sich eine Gesamtsumme des Vermögens in Höhe von 24.401,77
EUR. Hiervon sei ein Freibetrag in Höhe von insgesamt 11.750,00 EUR abzuziehen. Aufgrund des verbleibenden Vermögens sei eine
Hilfebedürftigkeit des Klägers nicht gegeben.
Hiergegen erhob der Kläger am 3. März 2005 bei dem Sozialgericht Schleswig Klage. Mit Urteil vom 30. November 2005 hob das
Sozialgericht den Bescheid des Beklagten vom 8. November 2004 und den Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 2005 auf und verurteilte
den Beklagten, dem Kläger mit Wirkung vom 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Anrechnung eines
Vermögens in Höhe von 801,77 EUR zu gewähren. In den Entscheidungsgründen dieses Urteils heißt es, dass sich der Kläger auf
seinen Leistungsanspruch lediglich Vermögen in Höhe von 801,77 EUR anrechnen lassen müsse. Die Lebensversicherung sei dabei
nicht anrechenbar. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB II stelle der Rückkaufwert einer Versicherung grundsätzlich anrechenbares Vermögen dar. Die Voraussetzungen gemäß § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II, wonach Sachen und Rechte nicht als Vermögen zu berücksichtigen seien, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich
sei oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeutete, lägen nicht vor. Auch seien die tatbestandlichen Voraussetzungen
des § 12 Abs. 2 Nr. 2 und 3 SGB II nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift könnten bestimmte Vermögensbeträge, die der Altersvorsorge dienten, vom Vermögen abgesetzt
werden. Da es allerdings unangemessen wäre, die Regelung des § 12 Abs. 2 Nr. 3 SGB II allein ihrem Wortlaut gemäß anzuwenden, sei hier eine erweiternde Auslegung vorzunehmen. Im Falle des Klägers müsse allein
maßgeblich sein, ob nach der subjektiven Zielrichtung des Klägers der Versicherungsvertrag der Altersvorsorge dienen sollte.
Dies sei hier der Fall. Daraus ergebe sich, dass von dem Vermögen des Klägers in Höhe von 24.401,77 EUR neben dem Grundfreibetrag
nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in Höhe von 11.000,00 EUR auch der Versorgungsfreibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 3 in gleicher Höhe, also zusammen 22.000,00 EUR, abzusetzen seien. Ferner sei der Anschaffungsfreibetrag nach
§ 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II in Höhe von 750,00 EUR abzusetzen. Schließlich seien gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II die Genossenschaftsanteile für die Wohnung in Höhe von 850,00 EUR nicht anrechenbar. Es verbleibe somit ein restliches anzurechnendes
Vermögen in Höhe von 801,77 EUR. Nach Aufzehrung dieses Vermögens stehe dem Kläger ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts zu.
Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 4. April 2006 und dem Beklagten am 5. April 2006 zugestellt. Die
Beteiligten legten kein Rechtsmittel gegen das Urteil ein.
Bereits am 2. Februar 2006 hatte der Kläger bei dem Beklagten einen erneuten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt. Diesem Antrag beigefügt war ein Schreiben der V_______ Lebensversicherungs AG vom 30. März 2005, wonach die Kündigung
der Rentenversicherung zum 1. April 2005 durchgeführt worden sei. Es werde ein Betrag in Höhe von 22.044,57 EUR an den Kläger
gezahlt.
Auf den erneuten Antrag hin bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bewilligungsbescheid vom 17. März 2006 Leistungen nach
dem SGB II für die Zeit ab dem 2. Februar 2006.
In Ausführung des Urteils vom 30. November 2005 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 6. Juli 2006 unter Zugrundelegung
eines monatlichen Gesamtbedarfs in Höhe von 608,85 EUR für die Zeit vom 1. Februar 2005 bis zum 31. März 2005 Leistungen nach
dem SGB II in Höhe von monatlich 608,85 EUR. Für die Zeit ab dem 1. April 2005 lehnte der Beklagte mit weiterem Bescheid vom 6. Juli
2006 die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab. Es sei zum 1. April 2005 die ausgezahlte Versicherungssumme in Höhe von 22.044,57 EUR berücksichtigt worden. Das zu berücksichtigende
Vermögen von insgesamt 23.816,51 EUR übersteige die Grundfreibeträge von 12.600,00 EUR.
Mit dem hiergegen am 3. August 2006 eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, dass er sich die Versicherungssumme
habe auszahlen lassen müssen, weil ihm der Beklagte zunächst zu Unrecht Leistungen verwehrt habe. Nach dem zwischenzeitlich
ergangenen Urteil des Sozialgerichts Schleswig seien ihm Leistungen mit Wirkung vom 1. Januar 2005 unter Anrechnung eines
Vermögens in Höhe von 801,77 EUR zu gewähren. Die Auflösung der Versicherung hätte von ihm, dem Kläger, gar nicht verlangt
werden dürfen. Die tatsächlich erfolgte Auszahlung der Versicherungssumme sei auf fehlerhaftes Verwaltungshandeln zurückzuführen.
Er sei zu Unrecht gezwungen gewesen, sich die Versicherungssumme auszahlen zu lassen, weil er im Hinblick auf die zu Unrecht
ergangenen Bescheide von irgendetwas hätte leben müssen. Das fehlerhafte Verwaltungshandeln habe seine Rechtsstellung erheblich
verschlechtert. Er sei nicht nur seiner als Altersversorgung angelegten Versicherung verlustig gegangen, sondern habe auch
weitere ganz erhebliche Verluste erlitten. So habe er für den Zeitraum von Januar 2005 bis zum 5. April 2006 eine freiwillige
Krankenversicherung abschließen müssen. Die Beiträge hätten sich auf insgesamt 1.937,43 EUR belaufen. Zudem habe er während
dieser Zeit Vermögen aufgebraucht, was gar nicht hätte angerechnet werden dürfen. Das Urteil des Sozialgerichts Schleswig
werde ad absurdum geführt, wenn jetzt die ausgezahlte Versicherungssumme berücksichtigt werde. Es werde ein sozialrechtlicher
Herstellungsanspruch geltend gemacht. Die Behörde sei verpflichtet, den Rechtszustand wiederherzustellen, der ohne das fehlerhafte
Verwaltungshandeln bestanden hätte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2006 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte
er im Wesentlichen aus, dass der Geldbetrag in Höhe von 22.044,57 EUR dem Kläger ab April 2005 zur Verfügung gestanden habe.
Unter Abzug der Freibeträge wäre im günstigsten Fall ein Betrag von 10.294,57 EUR als Vermögen zu berücksichtigen. Eine falsche
Beratung durch den Beklagten sei nicht ersichtlich. Die Kündigung der Versicherung sei eine eigene Entscheidung des Klägers
gewesen.
Hiergegen hat der Kläger bei dem Sozialgericht Schleswig am 24. November 2006 Klage erhoben. Nachdem er sich im März 2005
erfolglos an das Sozialamt Kiel gewandt habe, habe er keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als seine Lebensversicherung
aufzulösen, um hierdurch seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der jetzigen Verfahrensweise des Beklagten stehe die Rechtskraft
des Urteils des Sozialgerichts Schleswig vom 30. November 2005 entgegen. Bei dem streitgegenständlichen Bescheid habe sich
der Beklagte über den Urteilstenor hinweggesetzt. Am 27. April 2005 habe er - der Kläger - zu einem Wert von 5.000,00 EUR
Anteile an einem "MEAG-Rentenfond" erworben. Das Depot habe er mittlerweile wieder gekündigt, da die ersten Mitteilungen Verluste
ausgewiesen hätten.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 6. Juli 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2006 aufzuheben und den Beklagten
zu verurteilen, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. April 2005 bis einschließlich 28.
Februar 2006 in Höhe von monatlich 608,85 EUR, insgesamt 6.697,35 EUR, zuzüglich Zinsen auf jeweils 608,85 EUR in Höhe von
4 % seit dem 1. April 2005, 1. Mai 2005, 1. Juni 2005, 1. Juli 2005, 1. August 2005, 1. September 2005, 1. Oktober 2005, 1.
November 2005, 1. Dezember 2005, 1. Januar 2006, 1. Februar 2006 zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er auf den Inhalt der Verwaltungsakte sowie die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen.
Mit Urteil vom 14. Mai 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt,
dass dem Kläger kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zustehe, weil er infolge verwertbaren und die Freibeträge des SGB II übersteigenden Vermögens im streitbefangenen Zeitraum nicht bedürftig gewesen sei. Das Sozialgericht folge der Begründung
des Widerspruchsbescheides und sehe in Anwendung von §
136 Abs.
3 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Ergänzend sei hinzuzufügen, dass dem angefochtenen Bescheid
nicht die Rechtskraft des Urteils vom 30. November 2005 entgegenstehe. Der Beklagte habe das Gebot, Leistungen mit Wirkung
vom 1. Januar 2005 unter Anrechnung eines Vermögens in Höhe von 801,77 EUR zu gewähren, befolgt und Arbeitslosengeld II für
die Monate Februar und März 2005 anrechnungsfrei erbracht. Die Auszahlung der Lebensversicherungssumme im April 2005 stelle
demgegenüber einen neuen, vom Urteil des Sozialgerichts Schleswig ausweislich dessen Entscheidungsgründe nicht umfassten Lebenssachverhalt
dar, der den Beklagten zur Neubescheidung berechtige. Im Übrigen bedeute die Verwertung der Geldmittel aus dem aufgelösten
Lebensversicherungsvertrag für den Kläger keine besondere Härte. In dem Urteil vom 30. November 2005 sei die Lebensversicherungssumme
nur mit Blick auf den Altersvorsorgezweck als Schonvermögen angesehen worden. Dieser Zweck sei mit der Auflösung des Lebensversicherungsvertrages
entfallen. Dem nunmehrigen Bar- oder Buchvermögen sei ein solcher Zweck nicht zugekommen. Es sei vielmehr zur Sicherung des
Lebensunterhalts bestimmt gewesen und so auch vom Kläger genutzt worden. Eine Anspruchsgrundlage für eine Verpflichtung des
Beklagten zur Kompensation seines Vermögenseinsatzes sei nicht ersichtlich. Eine Zahlungspflicht des Grundsicherungsträgers
aufgrund fiktiver, sich auf Kompensations- bzw. Restitutionserwägungen stützender Hilfebedürftigkeit sei nur in Fällen der
Nothilfe Dritter anerkannt. Ein solcher Fall liege hier nicht vor. Auch die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
seien nicht erfüllt. Es fehle jedenfalls an der Möglichkeit der Folgenbeseitigung durch eine zulässige Amtshandlung des Sozialleistungsträgers.
Eine Zahlung des Beklagten trotz fehlender Bedürftigkeit wäre rechtswidrig. Der angefochtene Bescheid sei auch in seinem Ergebnis
nicht zu beanstanden, denn der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, ein gerichtliches Eilverfahren anhängig zu machen, anstatt
den Lebensversicherungsvertrag aufzulösen. Auf eine mögliche Amtspflichtverletzung durch Mitarbeiter des Beklagten sei nicht
einzugehen, da ein Amtshaftungsanspruch weder geltend gemacht worden sei noch der Entscheidung durch die Sozialgerichte unterliege.
Gegen dieses dem Kläger am 17. Juni 2009 zugestellte Urteil wendet er sich mit seiner am 16. Juli 2009 eingelegten Berufung.
Zu deren Begründung trägt er vor, dass der Beklagte die Entscheidung des Sozialgerichts Schleswig vom 30. November 2005 nicht
mit der Berufung angefochten habe und er - der Kläger - deshalb so gestellt werden wolle, als sei das Recht durch den Beklagten
richtig angewandt und die Lebensversicherung nicht zur Auszahlung gebracht worden. Der jetzigen Entscheidung des Beklagten
stehe die Rechtskraft des sozialgerichtlichen Urteils entgegen. Bei einer Änderung von tatsächlichen Verhältnissen sei entscheidend,
ob die betreffende Tatsache objektiv schon im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vorgelegen habe, soweit sie
bei natürlicher Anschauung zu dem im Vorprozess vorgetragenen Lebenssachverhalt gehört habe. Ob die Beteiligten die betreffende
Tatsache gekannt hätten, sei unerheblich. Die Tatsache, dass die Lebensversicherung schon ausgezahlt gewesen sei, habe zum
Zeitpunkt der Entscheidung am 30. November 2005 objektiv vorgelegen. Das Schicksal der Lebensversicherung und die sich daraus
ergebenden Konsequenzen seien auch Gegenstand des Verfahrens gewesen. Nach der Entscheidung des Sozialgerichts vom 30. November
2005 hätte der Beklagte zudem eine zeitlich unbefristete Bewilligung, jedenfalls aber eine solche, die nicht kürzer sei als
in § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II vorgesehen, vornehmen müssen. Eine Bewilligung hätte also zumindest für die Zeit bis zum 30. Juni 2005 erfolgen müssen. Da
aber die Entscheidung des Sozialgerichts erst am 30. November 2005 ergangen sei, hätte die Bewilligung bis zum 28. Februar
2006 erfolgen müssen, weil ausgehend vom Tag der gerichtlichen Entscheidung der Sechs-Monats-Zeitraum noch nicht abgelaufen
gewesen sei. Im Hinblick auf die Auszahlung der Lebensversicherung sei dann eine Änderung der Verhältnisse eingetreten, die
über § 48 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), zu erfassen gewesen wäre. Dies sei aber bisher nicht geschehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. Mai 2009 und den Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27. Oktober 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm - dem Kläger - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II für die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 31. Januar 2006 in Höhe von monatlich 608,85 EUR sowie für den 1. Februar 2006 in
Höhe von 46,67 EUR zuzüglich Zinsen gemäß den gesetzlichen Vorgaben zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.
Der Senat hat die Gerichtsakte des Sozialgerichts Schleswig zum Aktenzeichen S 1 AS 81/05 beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Gerichtsakte
zum Aktenzeichen S 1 AS 81/05 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 2006 ist rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten. Dem Bescheid steht die materielle Rechtskraft des Urteils des Sozialgerichts Schleswig
vom 30. November 2005 entgegen. Hiernach hat der Kläger für die Zeit vom 1. April 2005 bis zum 1. Februar 2006 einen Anspruch
auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Berücksichtigung des aus der Lebensversicherung erzielten Erlöses als
Vermögen.
Gemäß §
141 Abs.
1 SGG binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. §
141 SGG regelt die materielle Rechtskraft. Sie kann nur eintreten, wenn die Entscheidung endgültig, d.h. formell rechtskräftig ist.
Ist ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung zulässig, aber nicht eingelegt worden, besteht formelle Rechtskraft mit Ablauf
der Rechtsmittelfrist (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl. 2008, §
141, Rdn. 2a). Das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 30. November 2005 ist dem Kläger am 4. April 2006 und dem Beklagten
am 5. April 2006 zugestellt worden. Formelle Rechtskraft ist hiernach für den Kläger mit Ablauf der Rechtsmittelfrist am 4.
Mai 2006 und für den Beklagten mit Ablauf der Rechtsmittelfrist am 5. Mai 2006 eingetreten.
Materielle Rechtskraft hat zur Folge, dass die Entscheidung für das Gericht und die Beteiligten in der Sache bindend ist.
Sie soll den Streit zwischen den Beteiligten endgültig beilegen, der über denselben Streitgegenstand nicht wiederholt werden
soll. Die materielle Rechtskraft ist auch zu beachten, wenn das rechtskräftige Urteil falsch ist (Keller, aaO., § 141, Rdn.
3). Eine neue Klage über denselben Gegenstand zwischen den Beteiligten ist nicht zulässig. Der Streitgegenstand wird durch
den gesamten historischen Lebensvorgang bestimmt, auf den sich das Rechtsschutzbegehren des Klägers bezieht, unabhängig davon,
ob einzelne Tatsachen dieses Lebenssachverhalts von den Beteiligten vorgetragen worden sind oder nicht und auch unabhängig
davon, ob die Beteiligten die im Vorprozess nicht vorgetragenen Tatsachen des Lebensvorgangs damals bereits kannten oder hätten
vortragen können (Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 19. November 2003, Az.: VIII ZR 60/03, zitiert nach juris). Infolgedessen gehört zur Rechtskraftwirkung nicht nur die Präklusion der im ersten Prozess vorgetragenen
Tatsachen, sondern auch die der nicht vorgetragenen Tatsachen, sofern diese nicht erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung
im ersten Prozess entstanden sind, sondern bei natürlicher Anschauung zu dem im Vorprozess vorgetragenen Lebenssachverhalt
gehören (BGH, Urteil vom 19. November 2003, aaO.). Die Rechtskraft steht einem neuen Prozess nur dann nicht entgegen, wenn
sich die tatsächlichen Verhältnisse nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergangen ist, wesentlich
geändert haben (Keller, aaO., § 141, Rdn. 8c).
Nach dieser Maßgabe ist der Beklagte mit der Einwendung, dass der Lebensversicherungsvertrag des Klägers gekündigt und eine
Summe in Höhe von 22.044,57 EUR zum 1. April 2005 zur Auszahlung an den Kläger gebracht worden sei, präkludiert. Zum Zeitpunkt
der mündlichen Verhandlung am 30. November 2005 war diese Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, nämlich die Umwandlung
der Lebensversicherung in Geld, bereits seit vielen Monaten eingetreten. Sie gehörte auch zu dem im Verfahren S 1 AS 81/05 vorgetragenen Lebenssachverhalt, denn in diesem Verfahren war in erster Linie die Verwertbarkeit der Lebensversicherung zwischen
den Beteiligten streitig. Ob der Beklagte die Umwandlung der Lebensversicherung in Geld kannte oder nicht, ist nach den oben
ausgeführten Maßstäben unerheblich. Entscheidend ist, dass die Auflösung der Lebensversicherung und die Auszahlung des Geldes
objektiv schon im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben. Dies war hier der Fall. Damit steht
der Entscheidung des Beklagten, dem Kläger für die Zeit ab dem 1. April 2005 keine Leistungen nach dem SGB II zu zahlen, die materielle Rechtskraft des Urteils vom 30. November 2005 entgegen.
Die Rechtskraft des Urteils vom 30. November 2005 wird auch nicht durchbrochen.
Nach zivilgerichtlicher höchstrichterlicher Rechtsprechung, der sich das BSG angeschlossen hat (BSG, Urteil vom 26. September 1986, Az.: 2 RU 45/85, zitiert nach juris), muss die Rechtskraft eines Urteils dann zurücktreten, wenn sie sittenwidrig herbeigeführt oder ausgenutzt
wird (vgl. BGH, Urteil vom 27. März 1968, Az.: VIII ZR 141/65, zitiert nach juris). Rechtsgrundlage für die Nichtbeachtung der Rechtskraft eines bindenden Urteils ist eine Anwendung des
in §
826 Bürgerliches Gesetzbuch (
BGB) normierten Grundsatzes von Treu und Glauben. Hiernach tritt die materielle Rechtskraft zurück, wenn ein Urteil sittenwidrig
herbeigeführt wurde. Dies ist der Fall, wenn es auf einer wahrheitswidrigen Sachverhaltsschilderung und insbesondere darauf
beruht, dass der Kläger einen Zeugen zu einer falschen Aussage angestiftet hat (vgl. BSG, Urteil vom 26. September 1986, aaO.). Darüber hinaus tritt die Rechtskraft in solchen Fällen zurück, in denen das Urteil
zwar nicht erschlichen, aber unrichtig ist, dies den Betroffenen auch bekannt ist und dieses unrichtige Urteil sittenwidrig
ausgenutzt wird. Zu beachten ist dabei, dass die Durchbrechung der Rechtskraft auf besonders schwerwiegende, eng begrenzte
Ausnahmefälle beschränkt bleiben muss, weil sonst die Rechtskraft ausgehöhlt, die Rechtssicherheit beeinträchtigt und der
Rechtsfrieden in Frage gestellt würde (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 17. November 2008, Az.: L 17 B 549/08 U, zitiert nach juris). Im Falle des Ausnutzens der Rechtskraft eines unrichtigen Urteils reicht deshalb allein die Vollstreckung
aus einem als unrichtig erkannten Urteil für die Begründung von Sittenwidrigkeit nicht aus, sondern es müssen weitere Umstände
hinzutreten (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 7. November 2008, aaO.).
Die Voraussetzungen einer Durchbrechung der Rechtskraft sind hier nicht gegeben. Zum einen ist nicht erkennbar, dass der Kläger
das Urteil vom 30. November 2005 durch wahrheitswidrige Sachverhaltsschilderungen erschlichen hätte. Nach Aktenlage und insbesondere
auch aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 30. November 2005 ist nicht ersichtlich, dass der Kläger explizit
angegeben hätte, dass der Versicherungsvertrag zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch bestand. Es ist nicht erkennbar,
ob im Rahmen der mündlichen Verhandlung über die Frage gesprochen wurde, ob die Versicherung noch besteht oder nicht. Im Rahmen
der Berufungsbegründung trägt der Kläger lediglich vor, dass das Schicksal der Lebensversicherung und die sich daraus ergebenden
Konsequenzen Gegenstand des Verfahrens gewesen seien. Insofern kann eine wahrheitswidrige Sachverhaltsschilderung nicht unterstellt
werden.
Auch die zweite Fallgruppe in Form des sittenwidrigen Ausnutzens eines zwar nicht erschlichenen, aber unrichtigen Urteils
liegt hier nicht vor. Bei dieser Fallgestaltung müssten besondere Umstände hinzutreten, um die Vollstreckung aus dem Urteil
als sittenwidrig anzusehen. Solche sind hier nicht ersichtlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Beklagten ab Februar
2006 mit der Stellung des Fortzahlungsantrages durch den Kläger bekannt war, dass dieser seine Versicherung gekündigt und
einen Erlös daraus erzielt hatte. Dennoch hat der Beklagte gegen das ihm erst später, nämlich am 5. April 2006, zugestellte
Urteil vom 30. November 2005 keine Berufung eingelegt. Die Grundsätze, unter denen ausnahmsweise gegen ein rechtskräftiges
Urteil vorgegangen werden kann, können jedoch dann nicht angewandt werden, wenn der Titelschuldner die Unrichtigkeit des Titels
selbst durch nachlässige Prozessführung verursacht hat, wozu auch die Nichteinlegung der Berufung gegen ein Urteil, das nicht
der geltenden Gesetzeslage entspricht, gehört (Bayerisches LSG, Beschluss vom 7. November 2008, aaO.). Der Beklagte hätte
sonach gegen das ihm am 5. April 2006 zugestellte Urteil Berufung einlegen und vortragen können, dass die Lebensversicherung
in Geld umgewandelt worden sei. Dies war ihm immerhin seit Februar 2006 bekannt.
Nach alledem bleibt es bei der materiellen Rechtskraftwirkung des Urteils vom 30. November 2005.
Hinsichtlich der zeitlichen Reichweite der Rechtskraft dieses Urteils ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich gilt, dass
ein rechtskräftiges Urteil die Rechtslage nur für einen bestimmten Zeitpunkt feststellt, nicht für alle Zukunft. Der Zeitpunkt,
auf den sich die materielle Rechtskraft bezieht, ist identisch mit demjenigen, bis zu dem die Beteiligten während des Prozesses
neue Tatsachenbehauptungen aufstellen können. Das folgt daraus, dass die rechtskraftfähige Entscheidung auf den bis zum Schluss
der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung festgestellten Tatsachen beruht. Die Beteiligten können deshalb in einem neuen
Prozess, in dem derselbe Anspruch geltend gemacht wird, Tatsachen vorbringen, die erst nach der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung
entstanden sind.
Etwas anderes gilt aber bei wiederkehrenden Leistungen. Bei ihnen wird der Beklagte, wenn der Klage stattgegeben wird, auf
längere Zeit, nämlich für eine unbestimmte Zukunft, verurteilt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Oktober 1978, Az.: 7 RAr 56/77, zitiert nach juris). Um eine solche Verurteilung für einen unbestimmten Zeitraum handelt es sich auch hier bei dem Urteil
vom 30. November 2005. Dem Tenor lässt sich ein Endzeitpunkt nicht entnehmen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die formelle
Rechtskraft wie oben ausgeführt erst am 4. bzw. 5. Mai 2006 eingetreten ist. All dies spricht dafür, dass die materielle Rechtskraft
hier nicht lediglich bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 30. November 2005 reicht, sondern auch die Zeit danach
umfasst, mindestens aber bis zum Zeitpunkt des Eintritts der formellen Rechtskraft am 4. bzw. 5. Mai 2006 reicht, denn erst
mit Eintreten der formellen Rechtskraft kann auch die Rechtskraft in materieller Hinsicht eingreifen.
Nach alledem kann der Kläger für die Zeit ab dem 1. April 2005 bis zum 1. Februar 2006 Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des aus der Versicherung erzielten Erlöses als Vermögen verlangen. Sowohl aus dem Tenor des Urteils
vom 30. November 2005 als auch aus dessen Entscheidungsgründen ergibt sich, dass das Gericht 1. Instanz seinerzeit davon ausgegangen
ist, dass die Versicherung nicht als Vermögen anrechenbar ist. Dass die Versicherung zwischenzeitlich zum April 2005 in Geld
umgewandelt worden war, war bereits bei Erlass des Urteils vom 30. November 2005 objektiv der Fall.
Die Höhe der Leistungen steht nicht im Streit. Der Kläger begehrt monatlich 608,85 EUR. In dieser Höhe hatte der Beklagte
ihm auch Leistungen für die Monate Februar und März 2005 mit Bescheid vom 6. Juli 2006 bewilligt.
Der Kläger hat zudem gemäß §
44 SGB I einen Anspruch auf Zinsen in Höhe von 4 % auf jeweils 608,00 EUR seit dem 1. Mai 2005, 1. Juni 2005, 1. Juli 2005, 1. August
2005, 1. September 2005, 1. Oktober 2005, 1. November 2005, 1. Dezember 2005, 1. Januar 2006, 1. Februar 2006 sowie auf 46,00
EUR seit dem 1. März 2006.
Nach §
44 Abs.
1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des
Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen. Die Verzinsung beginnt nach Absatz 2 der Vorschrift frühestens
nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger, beim
Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Gemäß §
44 Abs.
3 Satz 1
SGB I werden volle Euro-Beträge verzinst.
Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II werden Leistungen nach dem SGB II monatlich im Voraus erbracht und sind damit am Monatsanfang fällig (vgl. Conradis in: LPK-SGB II, 3. Aufl, § 41, Rdn. 6; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, § 41, Rdn. 35 (Stand: 11/2006); a.A.: Eicher in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 41, Rdn. 11: Fälligkeit am letzten Tag vor dem Monat, in dem der Anspruch eigentlich entstehen würde).
Hiernach beginnt die Verzinsung zu Beginn des jeweiligen Folgemonats, für welchen Leistungen nach dem SGB II zuerkannt werden. Die Verzinsung des Geldbetrages für den Monat April 2005 beginnt damit am 1. Mai 2005, usw. Aus §
44 Abs.
2 SGB I ergibt sich auch kein späterer Zeitpunkt für den Beginn der Verzinsung, denn die dortige Frist von sechs Monaten endete -
ausgehend von einem Eingang des vollständigen Leistungsantrags im September 2004 - bereits am 31. März 2005. Nach §
44 Abs.
3 Satz 1
SGB I werden volle Euro-Beträge, hier also jeweils 608,00 EUR bzw. 46,00 EUR, verzinst (vgl. zum vollen Euro-Betrag Bundessozialgericht,
Urteil vom 20. November 2008, Az.: B 3 KR 16/08 R, zitiert nach juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß §
160 Abs.
2 SGG liegen nicht vor.