Kostenentscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG; Notwendigkeit einer isolierten Kostenentscheidung
Gründe
I.
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung L 5 R 67/13 gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 31. Januar 2013, mit dem sie verurteilt wurde, bestimmte Zeiträume ohne Kürzung
der Entgeltpunkte rentensteigernd zu berücksichtigen. In ihrer Berufungsbegründung hat sie darüber hinaus zunächst beantragt,
die Vollstreckung aus dem Urteil gemäß §
199 Abs.
2 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) auszusetzen. Ihr Interesse am Schutz vor einer Vollstreckung überlagere das Vollstreckungsbedürfnis des Klägers, weil sie
im Falle der Aufhebung des angefochtenen Urteils die aus öffentlichen Mitteln gewährten Leistungen gar nicht oder nur schwer
zurückerhalten werde und die Erfolgsaussichten positiv zu werten seien.
Auf Anfrage des Senats hat der Kläger mitgeteilt, er beabsichtige nicht, aus dem sozialgerichtlichen Urteil zu vollstrecken.
Wiederum auf gerichtliche Anfrage hat die Beklagte daraufhin mitgeteilt, der Antrag nach §
199 Abs.
2 SGG werde aufgrund der Erklärung des Klägers, aus dem Urteil nicht vollstrecken zu wollen, zurückgenommen. Daraufhin beantragt
der Kläger, der Beklagten die Kosten des Verfahrens nach §
199 Abs.
2 SGG aufzuerlegen. Die Beklagte ist der Auffassung, dass zwar eine Kostenentscheidung zu treffen sei, aber nicht zu ihren Lasten,
da erst durch Mitteilung des Klägers dessen fehlender Vollstreckungswille bekannt geworden sei.
II.
Der Antrag des Klägers, der Beklagten die Kosten des Verfahrens nach §
199 Abs.
2 SGG aufzuerlegen, ist zulässig und begründet.
Nach §
193 Abs.
1 Satz 1
SGG hat das Gericht im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Nach
Satz 3 entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluss, wenn das Verfahren anders beendet wird. Ein solcher Fall liegt
hier vor. Die Beklagte hat ihren Antrag auf eine Entscheidung nach §
199 Abs.
2 SGG zurückgenommen, womit eine Erledigung des Verfahrens eingetreten ist. §
193 SGG findet darüber hinaus auch auf vom Hauptsacheverfahren unabhängige, selbstständige Verfahren Anwendung, in denen eine Kostenentscheidung
notwendig ist. Um ein solches Verfahren handelt es sich bei dem Verfahren nach §
199 Abs.
2 SGG. Die Voraussetzungen einer isolierten Kostenentscheidung sind erfüllt.
In Rechtsprechung und Kommentierung zum
SGG wird die Frage, ob das Verfahren nach §
199 Abs.
2 SGG einer isolierten Kostenentscheidung zugänglich ist, allerdings unterschiedlich beantwortet. Während diese Frage überwiegend
bejaht wird (so z. B. Bayrisches LSG vom 16. Juli 1996 - L 1 AN 90/95 -; LSG Niedersachsen vom 12. Juni 1997 - L 4 S 2/97 -; BSG SozR 3-1500 §
199 Nr. 1; Leitherer in Meyer-Ladewig u. a.,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 7c; Breitkreuz/Fichte,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 13; Hk-SGG/Groß,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 16; Jansen/Straßfeld,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 17; Hintz/Lowe,
SGG-Kommentar §
184 Rz. 4), zumeist allerdings ohne weitergehende Begründung, wird von der Gegenansicht (LSG Berlin-Brandenburg vom 5. August
2009 - L 29 AS 1201/09 -; Rohwer-Kahlmann,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 19; Zeihe,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 11c; Hintz/Lowe,
SGG-Kommentar §
199 Rz. 24) das Verfahren nach §
199 Abs.
2 SGG als unselbstständiges Zwischen- oder Nebenverfahren im Rahmen des Hauptsacheverfahrens angesehen und eine isolierten Kostenentscheidung
aus diesem Grunde abgelehnt. Letztere Auffassung überzeugt nicht.
Hat ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung, so kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden
hat, nach §
199 Abs.
2 SGG die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen (Satz 1), wobei die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung
abhängig gemacht werden kann (Satz 2). Die Anordnung ist unanfechtbar und kann jederzeit aufgehoben werden (Satz 3). Damit
regelt diese Vorschrift ähnlich der des §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 Abs.
1 SGG den Fall, dass das Gericht in den Fällen, in denen ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung
ganz oder teilweise anordnen kann. Dabei orientiert sich nach allgemeiner Auffassung die Entscheidung des Gerichts im Wesentlichen
an den gleichen Maßstäben insoweit, als diese zwischen den widerstreitenden Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung
der Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs und der ohne die Entscheidung eintretenden Folgen zu treffen ist. Die
Entscheidung wird in beiden Fällen auch dadurch geprägt, dass der gesetzgeberische Wille, in bestimmten Fällen Rechtsmitteln
keine aufschiebende Wirkung beizuordnen, zu berücksichtigen ist. Diese Nähe des §
199 Abs.
2 SGG zu den Aussetzungsverfahren nach §
86b Abs.
1 SGG verkennt das LSG Berlin-Brandenburg (a. a. O.), wenn es lediglich eine Nähe des §
199 Abs.
2 SGG zu der Entscheidung nach §
86b Abs.
2 SGG verneint.
Hinsichtlich der Verfahren nach §
86b Abs.
1 SGG wird in der Sozialgerichtsbarkeit und der Literatur uneingeschränkt von einem selbstständigen Verfahren mit der Notwendigkeit
einer Kostenentscheidung ausgegangen. Vor diesem Hintergrund der oben dargestellten Nähe zu der Entscheidung nach §
199 Abs.
2 SGG ist nicht nachzuvollziehen, warum letzteres Verfahren nicht als eigenständiges ohne Kostenentscheidung geführt werden soll.
Diese Auffassung wird durch §
184 Abs.
1 Satz 1
SGG bestätigt, wonach Kläger und Beklagte, die nicht zu den in §
183 genannten Personen gehören, für jede Streitsache eine Gebühr zu entrichten haben. Die Anwendung des §
184 SGG hängt ebenso wie die Kostenentscheidung nach §
193 Abs.
1 SGG (Hk-SGG/Groß,
SGG-Kommentar §
193 Rz 6) davon ab, ob ein selbständiges Verfahren vorliegt. Was das Gesetz gebührenrechtlich unter "Streitsache" versteht, ist
ihm selbst nicht zu entnehmen. Nach der Rechtsprechung des BSG ist hierunter jedes bei einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit anhängige Verfahren ohne Rücksicht auf die Zahl der Ansprüche
und der am Verfahren Beteiligten zu verstehen (Beschluss vom 19. Dezember 1975 - 5 S 1/75 - SozR 1500 § 184 Nr. 1). Dabei orientiert sich die Auslegung an dem Sinn und Zweck des §
184 SGG, der es ist, die dort genannten an einem sozialgerichtlichen Verfahren beteiligten Körperschaften und Anstalten des öffentlichen
Rechts an den Kosten der Gerichtshaltung angemessen heranzuziehen (BSG a. a. O.). Dabei sei es, so das BSG überzeugend, unerheblich, ob die abzugeltende Tätigkeit des Gerichts durch einen Antrag auf richterliche Entscheidung oder
durch eine Beschwerde ausgelöst wurde. Damit greift auch die auf das fehlende Antragserfordernis des §
199 Abs.
2 SGG zurückgreifende Begründung des LSG Berlin-Brandenburg (a. a. O.) nicht. Zielt demnach die Entscheidung darüber, ob ein Verfahren
eine Streitigkeit in diesem Sinne darstellt, darauf ab, das Tätig werden der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit durch eine
Gebühr abzugelten, ist es vor dem oben dargestellten Hintergrund der rechtlichen Nähe des §
199 Abs.
2 SGG zu der Regelung des §
86b Abs.
1 Satz 1 Nr.
2 SGG mit im Wesentlicher gleichen Prüfungsinhalten nicht überzeugend, in dem einen Fall das Vorliegen einer Streitsache abzulehnen
und eine eigenständige Kostenentscheidung als notwendig anzusehen, für den anderen Fall bei im Wesentlichen gleichen Aufwand
dies jedoch abzulehnen.
Die Kostenentscheidung selbst, hier die Auferlegung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auf die Antragsgegnerin,
beruht auf einer entsprechenden Anwendung des §
193 SGG (BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1). Ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, ist danach nach billigem Ermessen zu
entscheiden. Dabei ist auf der einen Seite der vermutliche Verfahrensausgang (Erfolgsprinzip) zu beachten. Auf der anderen
Seite aber sind auch die Gründe, die zum Verfahren und die Umstände, die zur Erledigung des Verfahrens geführt haben (Veranlassungsprinzip),
zu berücksichtigen.
Nach dem Veranlassungsprinzip ist hier zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin eine Entscheidung nach §
199 Abs.
2 SGG beantragt hat, obwohl, wie sich auf gerichtliche Nachfrage bei dem Kläger ergab, dieser nicht beabsichtigte, aus dem erstinstanzlichen
Urteil zu vollstrecken. Dessen Äußerung, nicht vollstrecken zu wollen, führte dann wiederum zu der Rücknahme des Antrags durch
die Antragsgegnerin. Von dem fehlenden Vollstreckungswillen hätte sich aber auch die Beklagte selbst vor Antragstellung Kenntnis
verschaffen können, entweder über das Gericht oder direkt beim Kläger selbst. Indem das nicht geschah, hat die Beklagte nach
dem Veranlassungsprinzip die durch sie verursachten Kosten des Verfahrens nach §
199 Abs.
2 SGG auszugleichen.
Auch das Erfolgsprinzip spricht für eine Kostenentscheidung zu Gunsten des Klägers. Zum einen ist es nicht Aufgabe der Kostenentscheidung,
den Streitfall, der, wie hier, in mehrfacher Hinsicht zu rechtlichen Zweifeln Anlass gibt, hinsichtlich aller für dessen mutmaßlichen
Ausgang bedeutsame Rechtsfragen zu überprüfen und die rechtlichen Zweifelsfragen auszuschöpfen (vgl. Beschluss des Senats
vom 29. April 2008 - L 5 KR 66/06). Zum anderen geht der beschließende Senat im Grundsatz davon aus, dass der Gesetzgeber dem Interesse des Leistungsberechtigten
dadurch Vorrang eingeräumt hat, dass Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung haben, eine Aussetzung mithin nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt (vgl. Beschluss vom 12. Dezember 2011 - L 6 R 1065/11 ER).
Der Beschluss ist gemäß §
177 SGG unanfechtbar.