Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens
"G"; streitig ist im Rahmen des Berufungsverfahrens nur die Feststellung der Schwerbehinderung.
Die am __________ 1953 geborene Klägerin beantragte im März 2013 wegen Depressionen, Burn out und Funktionsstörungen der Wirbelsäule
die Feststellung eines GdB. Nach Befundeinholung bei den die Klägerin behandelnden Ärzten und gutachtlicher Stellungnahme
nach Aktenlage durch den Beklagten wurde mit Feststellungsbescheid vom 16. Dezember 2013 ein GdB von 20 zuerkannt. Diese Feststellung
gründete auf den festgestellten depressiven Störungen; Störungen der Wirbelsäule hätten nicht festgestellt werden können.
Am 4. Juni 2015 stellte die Klägerin bei dem Beklagten einen Änderungsantrag. Es sei eine paranoide Schizophrenie bei ihr
festgestellt worden. Darüber hinaus hätten sich ihre Depressionen und ihre Funktionsstörung der Wirbelsäule erheblich verschlimmert.
Es sei ihr ein höherer GdB und das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der beigezogenen medizinischen
Unterlagen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 4. September 2015 der Klägerin einen GdB von 40 zu. Im Übrigen lehnte er
den Antrag der Klägerin ab. Als Funktionsbeeinträchtigungen sind in dem Bescheid die depressiven Störungen sowie eine Funktionsstörung
der Wirbelsäule mit Ausstrahlungen aufgeführt. Hiergegen erhob die Klägerin am 18. September 2015 Widerspruch; die psychischen
Beeinträchtigungen seien so intensiv, dass diese allein einen GdB von 50 rechtfertigten. Sie leide an Panikattacken, unergründlichen
Ängsten, Konzentrationsstörungen und abwechselnd dazu unter Depressionen, die ihr eine Teilhabe am alltäglichen Leben kaum
ermöglichten. Sie könne auch nur noch 10 Minuten gehen, weil die Schmerzen von der Wirbelsäule ins linke Bein ausstrahlten.
Der Beklagte holte eine erneute Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes vom 13. August 2016 ein. Den Widerspruch der Klägerin
wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2016 als unbegründet zurück. Eine über die bereits festgestellte
wesentliche Änderung hinausgehende Verschlimmerung der depressiven Störungen und der Funktionsstörungen der Wirbelsäule hätten
nicht festgestellt werden können. Als weitere Funktionsstörung nahm der Beklagte eine rheumatoide Arthritis mit auf. Die Voraussetzungen
des Merkzeichens G seien nicht erfüllt. Nach Erlass des Widerspruchsbescheids wandte sich die Tochter der Klägerin, die sie
im anschließenden Klagverfahren auch vertrat, an den Beklagten, weil die Schizophrenie nicht berücksichtigt worden sei. Im
Weiteren gelangten zur Akte ein Bericht der D__________anstalt F________, Klinik für Psychiatrie, über einen stationären Aufenthalt
der Klägerin vom 23. September bis 29. Oktober 2013 und eine ärztliche Bescheinigung der Psychiatrien Tagesklinik H____, B_____
SH über eine tagesklinische Behandlung der Klägerin vom 27. November 2013 bis 7. April 2014.
Mit ihrer am 23. Dezember 2016 beim Sozialgericht Itzehoe erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Ziel weiterverfolgt. Zur Begründung
hat sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft und einen radiologischen Befundbericht vom 22.
Februar 2018 vorgelegt. Die bei der Klägerin vorliegende Schizophrenie sei zu berücksichtigen.
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,
unter Abänderung des Bescheides vom 04. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. November 2016 wird
der Beklagte verpflichtet, bei der Klägerin ab dem 04. Juni 2015 einen Gesamt GdB von mindestens 50 von Hundert festzustellen
sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat der Beklagte seine Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid und Widerspruchsbescheid wiederholt
und vertieft.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden
Ärzte eingeholt: Bericht des Allgemeinarztes Dr. med. C_________ vom 31. Januar 2018, des Psychotherapeuten J____ vom 10.
Februar 2018 und des Allgemeinarztes Dr. med. Ba_______. Eingeholt wurde zudem ein Bericht der Psychiatrischen Tagesklinik
B_____ SH vom 19. Mai 2014 über einen teilstationären Aufenthalt der Klägerin vom November 2013 bis April 2014 und das im
Auftrag der deutschen Rentenversicherung erstattete Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. med. S______ vom 14. September
2015. Das Sozialgericht hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens der Fachärztin
für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. med. A______ Sa____ vom 19. November 2018 und deren ergänzende schriftliche Stellungnahme
vom 7. Januar 2019. Darüber hinaus hat das Sozialgericht von der Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoonkologie, Spezielle Psychotraumatherapie Dr. med. Aa_______ W________
ein schriftliches Gutachten vom 10. August 2019 eingeholt.
Einen von der Klägerin gegenüber der Sachverständigen Dr. Sa____ gestellten Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit
hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 3. April 2019 zurückgewiesen. Ebenso wurde das von der Klägerin gegen die Sachverständige
Dr. W________ gestellte Befangenheitsgesuch mit Beschluss vom 9. Oktober 2019 zurückgewiesen.
Nach Anhörung der Beteiligten zu dem beabsichtigten Verfahren hat das Sozialgericht der Klage mit Gerichtsbescheid vom 10.
Oktober 2019 insoweit stattgegeben, als es den Beklagten verpflichtete, einen GdB von 50 festzustellen. Im Übrigen hat es
die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§
128 Abs.
1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) sei eine über die von dem Beklagten festgestellte wesentliche Änderung der Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin
eingetreten. Der Gesamt-GdB sei seit dem 04. Juni 2015 auf 50 zu erhöhen. Die Klägerin leide in erster Linie an einer seelischen
und körperlichen Minderbelastbarkeit infolge einer rezidivierenden depressiven Störung. Es bestehe eine Neigung zu sozialen
Phobien und Ängsten in ungewohnter Umgebung. Die depressive Störung verursache eine verminderte Belastbarkeit sowohl in körperlicher
als auch geistiger Hinsicht. Sie sei schon länger kaum in der Lage, ihren Alltag ohne Unterstützung zu bewältigen. Sie habe
eine ausgeprägte Antriebsstörung, eine rasche Ermüdbarkeit und benötigt längere Erholungsphasen. Wegen Ängsten in neuer Umgebung
und der Entwicklung einer sozialen Phobie sei sie nicht in der Lage, sich um eine Verbesserung ihrer körperlich bedingten
Funktionseinschränkungen zu bemühen. Die psychische Beeinträchtigung habe sich auch seit der letzten bestandkräftigen Feststellung
erheblich verschlimmert, was sich aus dem Gutachten der Rentenversicherung vom 14. September 2015 ergebe. Der Teil-GdB für
die psychische Erkrankung der Klägerin sei seit Antragstellung mit 40 zu bewerten (VMG B. 3. 7). Daneben leide die Klägerin
an degenerativen Lendenwirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen, welche mit einem Teil-GdB von 20
zu bewerten sind (VMG B 18.9). Weiter leide die Klägerin an einer rheumatoiden Arthritis mit degenerativen Veränderungen der
Langfingermittelgelenke, wofür ein Teil-GdB hierfür mit 10 korrekt bemessen sei (VMG B.18.7). Die Klägerin leide unter einer
fortgeschrittenen Verschleißumformung des linken Hüftgelenkes, welche noch mit einem Teil-GdB von 20 einzuschätzen ist (VMG
B. 18.14). Weitere behinderungsrelevante Gesundheitsstörungen, die einen Teil-GdB von wenigstens 10 begründen könnten, bestünden
nicht. Den Gesamt-GdB bewerte die Kammer seit dem 4. Juni 2015 ausgehend von den oben genannten Teil-GdB-Werten mit einem
Gesamt-GdB von 50. Das Hauptleiden der Klägerin sei die psychische Erkrankung mit einem Teil-GdB von 40. Durch die Erkrankungen
des Bewegungsapparates in Form der Wirbelsäulenerkrankung und der Funktionsstörung des Hüftgelenks, welche jeweils mit einem
Teil-GdB von 20 zu bewerten seien, komme es insgesamt zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB um 10 von Hundert. Weitere Erhöhungen
durch die übrigen Erkrankungen der Klägerin kämen nicht in Betracht. Nach Teil A Nr. 3 d) ee) VMG führten zusätzliche leichte
Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 10 bedingten, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, selbst
dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestünden. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen
mit einem GdB von 20 sei es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen
(Teil A Nr. 3 d) ee) VMG). Daraus könne der Rückschluss gezogen werden, dass in der Regel nur Behinderungen mit einem Teil-GdB
von mindestens 30 bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen seien. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G nach §
152 Abs.
4 SGB IX (ehemals §
69 Abs.
4 SGB IX) seien nicht erfüllt. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die dafürsprechen könnten, dass die Klägerin nicht in der
Lage sein sollte, eine Strecke von 2 Kilometern innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen. Auch diesbezüglich schließe sich die
Kammer den Ausführungen der Sachverständigen an.
Gegen diesen dem Beklagten am 16. Oktober 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich seine am 13. November 2019 beim
Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Nach seiner Auffassung bestehe bei der Klägerin keine
Schwerbehinderung. Der Beklagte gehe für die psychiatrische Minderbelastbarkeit aufgrund der gravierenden Einschränkungen
von einem Einzel-GdB von 40 aus. Die Funktionsstörungen der Wirbelsäule und der Hüften seien dagegen nur als leicht- bis mittelgradig
einzustufen, weshalb die dafür angesetzten Einzel-GdB mit jeweils 20 nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen könnten.
Die Klägerin sei nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt wie ein Mensch mit Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel.
Auch die Sachverständigen kämen übereinstimmend nicht zur Feststellung der Schwerbehinderung. Eine Begründung, warum die Klägerin
mit dem Bild eines Schwerbehinderten zu vergleichen sei, sei vom Sozialgericht nicht abgegeben worden. Der Beklagte legt eine
gutachtliche Stellungnahme seines ärztlichen Dienstes vor.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 10. Oktober 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin stützt das erstinstanzliche Urteil. Die Entscheidung beruhe auf der freien richterlichen Beweiswürdigung des
Richters, die niemals Gegenstand einer Berufung sein könne. Sie verweise weiter auf die ausführliche Ergänzung der Krankheitsgeschichte
ihrer Mutter. Zudem dürfe ihrer Familie, die eine Beamtenfamilie sei, von Seiten des Landes keine willkürlichen Schwierigkeiten
bereitet werden. Die vorliegende Berufungsbegründung sei unsachlich.
Die Bevollmächtigte der Klägerin hat einen Antrag nach §
110a SGG auf Durchführung einer Videokonferenz anstelle einer Präsenzverhandlung gestellt. Diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss
vom 11. November 2020 entsprochen. Die Bevollmächtigte der Klägerin war per Videokonferenz zur mündlichen Verhandlung am 13.
November 2020 zugeschaltet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist statthaft und auch ansonsten zulässig.
Gemäß §
143 SGG findet gegen Urteile der Sozialgerichte die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften des
Unterabschnitts nichts anderes ergibt. Das Rechtsschutzbedürfnis (Beschwer) für die Rechtsmittelinstanz für den Beklagten
ist immer gegeben, wenn das Gericht dem Antrag auf Klagabweisung nicht entsprochen hat. Ausreichend ist jedoch die materielle
Beschwer, d.h. die mögliche negative Auswirkung des Urteilsausspruchs auf seine Rechtsposition, weil grundsätzlich nur nach
dem Antrag des Klägers entschieden wird (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt
SGG 13. Aufl., v. §
143 Rn.7 m.w.N.; Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-
SGG, 1. Aufl., §
143 SGG <Stand: 13.05.2019)>Rn. 16). Die Berufungszulässigkeitsbegrenzungen gemäß §
144 Sozialgerichtsgesetz (
SGG) bestehen vorliegend nicht, da das Begehren der Klägerin nicht auf eine in Geldeswert bezifferbare Geld-, Dienst- oder Sachleistung
gerichtet ist. Der Berufungsfähigkeit steht - entgegen der Ansicht der Klägerin - auch nicht entgegen, dass das Sozialgericht
"nach der freien richterlichen Beweiswürdigung ein vertretbares Ergebnis gefunden" habe. Die Einhaltung der Grundsätze der
Urteilsfindung gemäß §
128 SGG durch das Gericht schließen die Berufungsfähigkeit nicht aus. Die Berufung hat der Beklagte auch innerhalb der Monatsfrist
des §
151 Abs.
1 SGG fristgerecht erhoben.
Die Berufung des Beklagten ist auch begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 oder höher. Das von der Klägerin
in erster Instanz noch begehrte Merkzeichen G ist im Berufungsverfahren nicht streitgegenständlich, nachdem das insoweit abweisende
Urteil von der Klägerin nicht angegriffen wurde. Der angefochtene Bescheid vom 4. September 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids
vom 29. November 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht hat die gesetzlichen Grundlagen zur Feststellung einer Behinderung nach §
152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (
SGB IX) einschließlich der Bildung des Gesamt-GdB zutreffend dargestellt und ebenso zutreffend darauf verwiesen, dass ein höherer
Grad der Behinderung gegenüber dem Feststellungsbescheid vom 16. Dezember 2013 nur dann in Betracht kommt, wenn ab dem Zeitpunkt
des Änderungsantrags vom 4. Juni 2015 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) eingetreten ist, Insofern kann auf die weitere Darstellung im Urteil verwiesen werden.
Bei der Klägerin bestehen Funktionsbeeinträchtigungen sowohl auf neurologisch/psychiatrischem als auch orthopädisch/chirurgischem
Fachgebiet, wobei die seelische und körperliche Minderbelastbarkeit infolge einer rezidivierenden depressiven Störung imponiert.
Bereits seit dem Jahre 2003 sind depressive Phasen im Rahmen von familiären Konflikten dokumentiert. Im Jahre 2013 ist es
dann zu einer schweren depressiven Episode mit paranoider Symptomatik gekommen, die eine stationäre Behandlung erforderlich
machte. So befand sich die Klägerin vom 23. September bis 29. Oktober 2013 stationär in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie des Da_______krankenhauses F________; als Diagnose wurde eine schwere depressive Episode mit psychotischen
Symptomen und als Differenzialdiagnose eine paranoide Schizophrenie gestellt. Anschließend befand sich die Klägerin in teilstationärer
Behandlung vom 27. November 2013 bis 4. April 2014 in der Tagesklinik B_____ SH in H____. Hier wurden als Diagnosen eine paranoide
Schizophrenie und rezidivierende Störungen genannt. Die seinerzeit eingeleiteten medikamentösen Behandlungsversuche wurden
von der Klägerin abgelehnt. Am Ende der Behandlung in der B_____ SH wurde die paranoide Schizophrenie als vollremittiert bezeichnet.
Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen nach der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VMG) unter Teil B 3.6 Schizophrene und affektive Psychose ist eine langandauernde (über ein halbes Jahr anhaltende) Psychose
im floriden, d.h. akuten Stadium je nach Einbuße beruflicher und sozialer Anpassungsmöglichkeiten mit einem GdB von mindestens
50 einzustufen. Dies war bei der Klägerin jedoch nicht der Fall, eine Schizophrenie im floriden Stadium lag nicht vor. Nachträglich
ist überdies ungewiss, ob die psychische Symptomatik, die im September 2013 bestand, diagnostisch einer paranoiden Schizophrenie
zuzuordnen ist oder nicht eher eine psychotische Symptomatik im Rahmen einer schweren Depression war. Diese Diagnose ist primär
von den Behandlern der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des D__________krankenhauses in F________
genannt worden. Weswegen die psychiatrische Tagesklinik in H____ die Differenzialdiagnose "Paranoide Psychose" als Hauptdiagnose
übernommen hat, ist aus dem Befundbericht über die teilstationäre Behandlung nicht nachvollziehbar. Auch der die Klägerin
im Auftrag des Rentenversicherungsträgers im September 2015 untersuchende Neurologe und Psychiater Dr. S______ konnte in der
Untersuchung keine paranoid halluzinatorischen Symptome erfragen. Im Juni 2015 wurde von dem Psychologischen Psychotherapeuten
J____ lediglich eine rezidivierende mittelgradige Episode einer depressiven Störung festgestellt. Der Psychotherapeut führt
weiter aus, dass die Klägerin bei ihm 2015 in Behandlung gewesen sei. Ihr gesundheitlicher Zustand wird als nach einer psychotischen
Episode als stabil, aber noch stark depressiv wegen der starken Stimmungsschwankungen und der Neigung zu sozialer Isolation
beschrieben. Weder eine psychotherapeutische noch eine neurologisch-psychiatrische Behandlung hat seitdem stattgefunden. Die
seinerzeit eingeleitete antipsychotische Medikation hat die Klägerin nach ihren Angaben seit langem nicht mehr eingenommen.
Bei der bei der Klägerin bestehenden seelischen und körperlichen Minderbelastbarkeit infolge einer rezidivierenden depressiven
Störung handelt es sich nach den VMG um eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und
Gestaltungsfähigkeit, die nach den VMG Teil B 3.7 Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen aufgrund
der Chronizität und des Ausmaßes der Einschränkungen im sozialen Bereich mit einem GdB von 40 zu bewerten ist. Nicht entscheidend
ist - entgegen der Auffassung der Klägerin - die Diagnosebezeichnung, sondern das Ausmaß der Funktionsstörung. Selbst ein
schizophrener Residualzustand mit Konzentrationsstörungen, Kontaktschwäche, Vitalitätseinbuße affektiver Nivellierung mit
leichten sozialen Anpassungsstörungen ist nach den VMG Teil B 3. 6 allenfalls mit einem Teil-GdB von 30 bis 40 einzustufen.
Insoweit ist es bereits auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet seit dem Feststellungsbescheid vom Dezember 2013 zu einer
wesentlichen Änderung gekommen.
Daneben bestehen gegenüber der Bescheidung vom Dezember 2013 nunmehr auch zu berücksichtigende Funktionsstörungen auf orthopädisch/chirurgischem
Fachgebiet. Es bestehen degenerative Lendenwirbelsäulen- Veränderungen. Dies bestätigen die radiologische Befundung sowie
die von der Klägerin angegebenen wiederkehrend auch in das linke Bein ausstrahlenden Beschwerden. Verantwortlich hierfür sind
die anlaufenden degenerativen Veränderungen der Wirbelgelenke in den beiden unteren Lumbaletagen, die in erster Linie aber
wohl auf die Verschleißumformung des linken Hüftgelenks zurückzuführen sind. Neuromuskuläre Ausfallerscheinungen bestehen
dagegen nicht. Bei freier Beweglichkeit der Halswirbelsäule ohne Verspannungen der Schulter-Nacken- und Kapuzenmuskulatur
war die Beweglichkeit der Rumpfwirbelsäule endgradig eingeschränkt mit Verspannungen der körperfernen paralumbalen Rückenstrecker.
Nach VMG Teil B 18.9 sind die degenerativen Lendenwirbelsäulenschäden mit allenfalls mittelgradigen funktionellen Auswirkungen
verbunden, weshalb ein GdB von 20 noch zu vertreten ist. Daneben bestehen Hüftgelenks-Beschwerden links, die mit deutlicher
Bewegungseinschränkung verbunden sind und die auf eine fortgeschrittene Verschleißumformung zurückzuführen sind. Nach VMG
Teil B 18.14 sind Bewegungseinschränkungen der Hüftgelenke einseitig mit einer Streckung/Beugung bis zu 0-10-90 mit einem
GdB von 10-20 zu bewerten. Erst bei stärkergradigen Einschränkungen oder beidseitiger Einschränkung kommt ein höherer Grad
in Betracht. Bei der Klägerin wurden beim linken Hüftgelenk gemessen: bei der Streckung/Beugung 0-0-90- Grad, beim Abspreizen/Anführen
10-0-5 Grad und bei der Drehung auswärts/einwärts von 5-0-0 Grad; nach den VMG ergibt sich bei den damit geringen Einschränkungen
ein GdB von 10 bis 20. Soweit die Sachverständige Dr. Sa____ für die Hüftbeschwerden ein GdB von 20 angenommen hat, wird der
vorgesehene Rahmen in den VMG ausgreizt. Denn die VMG machen die Einstufung des Ausmaßes der Bewegungseinschränkung des Hüftgelenks
prominent von der Möglichkeit zur Streckung/Beugung abhängig. Mit den gemessenen Werten ist bei der Klägerin hiernach nur
eine geringgradige Bewegungseinschränkung links anzunehmen. Auch führt die bei der Klägerin bestehende Adipositas zu keiner
anderen Bewertung. Nach den VMG Teil B 15.3 bedingt die Adipositas allein keinen GdS. Nur Folge- und Begleitschäden (insbesondere
am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) können die Annahme eines GdS begründen. Gleiches gilt für
die besonderen funktionellen Auswirkungen einer Adipositas permagna. Die Folge- und Begleitschäden der Adipositas der Klägerin
- insbesondere solche im Zusammenhang mit den Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates sind nach den obigen Ausführungen
vollumfänglich berücksichtigt worden. Die Funktionsstörungen der Fingergelenke bzw. der Hände, betont am rechten Zeigefinger,
basieren auf degenerativen Veränderungen und können in Anlehnung der VMG Teil B 18.13 mit einem Teil-GdB von 10 bewertet werden.
Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist zu beachten, dass bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen die Einzel-GdB nicht addiert
werden dürfen. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter
Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Es ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen
Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob
und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von
einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen
dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen
Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich
nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von
20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr.
3 d) aa) - ee) der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. August 2020, L 11 SB 226/18).
Ausgangspunkt für die Bildung des Gesamt-GdB sind vorliegend die depressiven Störungen mit dem höchsten Einzel-GdB von 40.
Die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädisch/chirurgischem Fachgebiet sind hingegen nicht geeignet, um auf eine
wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung schließen zu können. Die degenerativen Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule
mit nur mittelgradigen funktionellen Auswirkungen und die degenerativen Veränderungen des linken Hüftgelenks überschneiden
sich, weil sie sich in den gleichen Bereichen im Ablauf des täglichen Lebens auswirken und sich nicht gegenseitig verstärken.
Sie bewirken in ihren Auswirkungen auch keine Verstärkung der seelischen Funktionseinschränkungen. Wie bereits ausgeführt,
sind die Funktionseinschränkungen der Lendenwirbelsäule und der Hüfte nur in einem solchen Ausmaß eingeschränkt, dass die
festgestellten Werte von 20 jeweils nur als schwacher GdB eingestuft werden können. Bei leichten Behinderungen mit einem GdB
von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Ein entsprechender
Fall, der eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung rechtfertigen könnte, ist vorliegend nicht gegeben. Auch die
Sachverständige Dr. med. W________ hat unter Berücksichtigung der seelischen Einschränkungen mit einem Einzel-GdB von 40 in
der Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag keine Schwerbehinderung
angenommen. Zutreffend hat der Beklagte überdies darauf hingewiesen, dass bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen
unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen sind, zu denen
in der Tabelle feste GdS-Werte angegeben sind (vgl. Teil A 3.b.). Ein GdB soll also nur angenommen werden, wenn die Summe
der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so gravierend ist wie z. B. der Verlust eines Beines im Unterschenkel ist. Dies
ist vorliegend nicht der Fall. Die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen erreichen auch in der Gesamtbetrachtung
nicht, um eine vergleichbare Betroffenheit annehmen zu können. Warum dies bei der Klägerin der Fall sein sollte, hat das Vordergericht
nicht begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Gründe, die Revision gemäß §
151 Abs.
2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.