Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Befugnis des Grundsicherungsträgers zur Entscheidung über die Zugehörigkeit
zu einer Bedarfsgemeinschaft bei Aufnahme in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob der Beklagte durch Verwaltungsakt gegenüber den Klägern feststellen durfte, dass
der Kläger zu 2 wegen seiner Aufnahme in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe nach §§ 34, 35 a SGB VIII nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 1 gewesen sei.
Der am 27. November 1988 geborene Kläger zu 2, für den die Klägerin zu 1 das alleinige Sorgerecht ausgeübt hat, wurde spätestens
ab 1. Oktober 2005 in eine stationäre Einrichtung der Jugendhilfe nach §§ 34, 35 a SGB VIII aufgenommen.
Mit Fortzahlungsantrag vom 7. November 2005 stellte die Klägerin zu 1 unter anderem für den Kläger zu 2 einen Antrag auf Fortzahlung
von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.
Auf diesen Antrag stellte der Beklagte mit Bescheid vom 15. März 2006 gegenüber der Klägerin zu 1 fest, der Kläger zu 2 könne
bei ihrer Bedarfsgemeinschaft nicht berücksichtigt werden. Grund hierfür sei, dass er nicht im Haushalt der Klägerin zu 1
wohne und nicht von ihr versorgt würde. Der Aufenthalt bei ihr an den Wochenenden bzw. in den Ferien habe nur Besuchscharakter.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu 1 nur für die Klägerin zu 1 wies der Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2006 als unbegründet zurück. Die Aufnahme des Klägers zu 2 in die Bedarfsgemeinschaft
der Klägerin zu 1 werde weiterhin abgelehnt. Er stützte seine Entscheidung nunmehr auf § 7 Abs. 4 SGB II. Der Kläger zu 2 unterliege dem vorbenannten Leistungsausschluss, weil bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme in die stationäre
Einrichtung abzusehen gewesen sei, dass der Aufenthalt voraussichtlich länger als sechs Monate dauern würde. Auch würde die
Einrichtung in der Regel zwei Familienheimfahrten ermöglichen und dem Kläger zu 2 die hierfür erforderlichen Fahrkosten erstatten.
Weiter würde ein Verpflegungsgeld für die Zeit der Unterbringung außerhalb des Zentrums gezahlt. Ansonsten erfolge eine vollständige
Versorgung in der stationären Einrichtung.
Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger erstmals für die Klägerin zu 1 und den Kläger zu 2 sowie seine Schwester
F. E., geb. am 25. März 1990 (Schwester), bei dem Sozialgericht Gotha Klage erhoben. Das Sozialgericht Gotha (SG) hat die Anfechtungsklage mit Urteil vom 28. Mai 2009 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung wiederholte es im Wesentlichen
die Gründe des angefochtenen Bescheides des Beklagten.
Gegen das den Klägern am 6. August 2009 zugestellte Urteil hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger am 24. August 2009 bei
dem Thüringer Landessozialgericht Berufung eingelegt und dabei zunächst den Sachantrag um das Bescheidungsbegehren erweitert,
den Beklagten zu verurteilen, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes erneut zu bescheiden. Auf Hinweis
des Berichterstatters vom 5. März 2012 hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 10. Mai 2012 die Berufung
der Schwester zurückgenommen und das Bescheidungsbegehren aufgegeben. Weiter hat der Berichterstatter mit Schreiben vom 30.
Januar 2012 den Beklagten darauf hingewiesen, dass er voraussichtlich nicht befugt gewesen ist, im Rahmen einer Elementenfeststellung
durch Verwaltungsakt allein darüber zu befinden, ob der Kläger zu 2 Mitglied der Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 1 gewesen
ist. Habe allein deshalb die Anfechtungsklage Erfolg empfehle er, ein Anerkenntnis auch hinsichtlich der Kosten beider Instanzen
abzugeben.
Die Kläger folgen dem Hinweis des Berichterstatters, halten aber an der Berufung des Klägers zu 2 fest, weil der angefochtene
Bescheid auch ihm gegenüber Bindungswirkung entfalten könne.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Mai 2009 abzuändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 15. März 2006 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 2006 aufzuheben, hilfsweise gegenüber dem Kläger zu 2 festzustellen, dass der angefochtene
Bescheid ihm gegenüber keine Regelung enthält.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hat sich trotz Hinweises des Berichterstatters vom 30. Januar 2012 und einer Erinnerung vom 13. Juni 2012 zur
Sache nicht geäußert, aber in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass der angefochtene Bescheid nur gegenüber der Klägerin
zu 1 ergehen sollte.
Wegen weiterer Einzelheiten und dem Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Leistungsakte
des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin zu 1 hat in der Sache Erfolg. Die Klage ist zulässig und begründet, weil der Beklagte nicht befugt
gewesen ist, einzelne Elemente einer Leistungsvoraussetzung für höhere Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Klägerin zu 1 durch Bescheid neben einem Bewilligungsverfahren festzustellen. Der Beklagte hat erkennbar die Regelung
nur gegenüber der Klägerin zu 1 getroffen.
Bei der Auslegung eines Bescheids ist maßgebend, wie der Empfänger ihn entsprechend §
133 BGB verstehen durfte. Maßstab bildet der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt,
welche die Behörde erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (vgl. BSG, Urteil vom 6. April 2011 -B 4 AS 119/10 R, juris m.w.N.).
Ist die Klägerin zu 1 ohne Zweifel einziger Zustelladressat des angefochtenen Bescheides gewesen, ist aus den Gründen ersichtlich
weiter davon auszugehen, dass die Aufnahme des Klägers zu 2 in die Bedarfsgemeinschaft nur ihr gegenüber geregelt werden sollte.
Dem angefochtenen Bescheid ist erkennbar kein Verfügungssatz gegenüber dem Kläger zu 2 zu entnehmen, weil er aus den Gründen
ersichtlich ausschließlich regelt, ob der Kläger zu 2 in die Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 1 aufzunehmen ist. Zwar führt
hierzu der Beklagte im Widerspruchsbescheid erstmals einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II an. Doch ist auch diese Begründung ausschließlich auf die vorbenannte Frage bezogen. Ein eigenständiger Verfügungssatz gegenüber
dem Kläger zu 2 ist dem nicht mit hinreichender Sicherheit zu entnehmen. Ebenso wenig ist der Bescheid so zu verstehen, gegenüber
dem Kläger zu 2 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ablehnen zu wollen. Dafür fehlen bei verständiger Auslegung hinreichende Anhaltspunkte. Zwar nimmt der Verwaltungsakt Bezug
auf den Leistungsantrag vom 7. November 2005, enthält aber ausschließlich die Feststellung, dass der Kläger zu 2 nicht zur
Bedarfsgemeinschaft der Klägerin zu 1 gehöre.
Der so richtig verstandene Bescheid ist gegenüber der Klägerin zu 1 bereits aufzuheben, weil es für die belastende Feststellung
des Beklagten an der erforderlichen Befugnis mangelt, durch Verwaltungsakt entscheiden zu dürfen. Bereits zu den zunächst
in der Verwaltungspraxis erlassenen Grundlagenbescheiden nach § 128 AFG (Erstattungspflicht des Arbeitgebers für Sozialleistungen) hat das BSG hervorgehoben, dass ein Leistungsträger zur belastenden Elementenfeststellung nur berechtigt ist, soweit zumindest durch
Auslegung der maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften zu erkennen ist, dass der Gesetzgeber für die getroffene Feststellung
die Befugnis einräumen wollte, durch Verwaltungsakt zu entscheiden (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 - 11 RAr 103/96, juris; vgl. auch zur Elementenfeststellungsklage: BSG, Urteil vom 18. Mai 2010 - B 7 AL 49/08 R, juris). Die danach geforderte Befugnis ist dem Regelungssystem des SGB II nicht zu entnehmen; zumal die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 SGB II keine Anspruchsvoraussetzung darstellt (vgl. auch: SG Berlin, Urteil vom 9. Dezember 2011 - S 73 KR 1535/09, juris m.w.N.). Wohl deswegen hat der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 2006 in seiner Begründung auch auf den
Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II abgestellt, ohne seinen Verfügungssatz - Feststellung der fehlenden Mitgliedschaft in die Bedarfsgemeinschaft der Klägerin
zu 1 - zu ändern.
Die Berufung des Klägers zu 2 ist zulässig, weil das SG in dem angefochtenen Urteil die Klage auch ihm gegenüber in der Sache abgewiesen hat. Die mit Hauptantrag weiter verfolgte
Anfechtungsklage ist zwar zulässig, insbesondere die erforderliche Klagebefugnis gegeben, weil es zumindest möglich gewesen
ist, auch den Kläger zu 2 als Regelungsadressaten des angefochtenen Feststellungsbescheides anzusehen. Sie hat aber in der
Sache keinen Erfolg, weil eine Regelung gegenüber dem Kläger zu 2 aufgrund der vorbenannten Ausführungen nicht anzunehmen
ist.
Der hilfsweise gestellte Feststellungsantrag ist bereits unzulässig, weil es an dem erforderlichen Feststellungsinteresse
nach §
55 SGG fehlt. Der Beklagte bestreitet jedenfalls nicht mehr, dass der angefochtene Bescheid gegenüber dem Kläger zu 2 keine Regelung
enthält. Insoweit ist lediglich der Tenor der Entscheidung des Senats bei verständiger Auslegung so zu verstehen, dass die
weitere hilfsweise Klage des Klägers zu 2 abgelehnt wird, da sie erstmals in der Berufung erhoben ist.
Die Kostenentscheidung für die Beteiligten beruht gemäß §
193 Abs.
1 S. 1
SGG darauf, dass die Klägerin zu 1 im Rechtsstreit voll obsiegt und das zwischenzeitliche Bescheidungsbegehren erkennbar keine
weiteren Kosten hervorgerufen hat, während der Kläger zu 2 voll unterlegen ist.
Der Senat hat noch davon abgesehen, dem Beklagten Verschuldenskosten nach §
192 Abs.
1 S. 1 Nr.
2 und S. 2
SGG aufzuerlegen, auch wenn der Beklagte auf den Hinweis des Berichterstatters nicht zu erkennen gegeben hat, aus welchen Gründen
er an seiner rechtswidrigen Auffassung festhält. Die Grenze für ein missbräuchliches Verhalten ist noch nicht mit hinreichender
Sicherheit überschritten gewesen. Zumal die Terminsbevollmächtigte des Beklagten in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich
des Klägers zu 2 durch ihre Erklärung eine streitige Entscheidung entbehrlich gemacht hätte, wenn der Prozessbevollmächtigte
der Kläger die Erklärung hinreichend gewürdigt hätte.
Gründe die Revision nach §
160 Abs.
2 SGG zuzulassen sind nicht ersichtlich.