Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses für ICSI in der gesetzlichen Krankenversicherung
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Kosten für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung mittels Intracytoplasmatischer
Spermieninjektion (ICSI) in Höhe von insgesamt 5.965,03 EUR streitig.
Die 1974 geborene und bei der Beklagten gesetzlich versicherte Klägerin beantragte am 25. Juni 2003 unter Vorlage einer ärztlichen
Bescheinigung ihres behandelnden Frauenarztes die Kostenübernahme für eine In-Vitro-Fertilisation (IVF)- Behandlung mit zusätzlicher
Anwendung des ICSI-Verfahrens. Ausweislich der Stellungnahme des behandelnden Arztes liege eine klare Indikation zur Durchführung
der IVF unter zusätzlicher Anwendung des ICSI-Verfahrens vor. Im Rahmen der IVF-Therapie sei es mehrfach zu befruchteten Eizellen
gekommen. Diese Indikation sei jedoch in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen bisher nicht erfasst.
Eine Fertilitätsstörung lag beim Ehemann nicht vor.
Der MDK befürwortete in einer Stellungnahme vom 15. September 2003 die Kostenübernahme. Nach Auswertung der Richtlinie über
künstliche Befruchtung lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 22. September 2003 die Kostenübernahme
ab. Zur Begründung wurde auf Ziffer 11 Punkt 5 der Richtlinie über künstliche Befruchtung verwiesen. Danach sei Voraussetzung
für die Anwendung der ICSI-Behandlungsmethode, dass durch zwei aktuelle Spermiogramme ein Unterschreiten der dort genannten
Grenzwerte nachgewiesen werde. Eine derartige Störung liege beim Ehemann der Klägerin jedoch nicht vor. Hiergegen legte die
Klägerin am 13. Oktober 2003 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2003 zurückwies.
Hiergegen hat die Klägerin am 23. Dezember 2003 Klage erhoben. In der Zwischenzeit hat sie auf eigene Kosten zwei Behandlungsversuche
mittels ICSI-Methode durchführen lassen. Der erste Versuch erfolgte im April 2004, eine weitere Behandlung im September 2004.
Den Antrag auf Kostenerstattung hinsichtlich des zweiten Versuchs lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. August 2004 ab.
Ein Widerspruch hatte ebenfalls keinen Erfolg.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) diverse Befundberichte beigezogen und ein Gutachten des Leiters des Funktionsbereichs Endokrinologie und Reproduktionsmedizin
des Universitätsklinikums J. Dr. W. St. und Stellungnahmen der Bundesärztekammer vom 14. August 2006 sowie des Gemeinsamen
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vom 21. September 2006 eingeholt. Auf Antrag der Klägerin hat Dr. B. gemäß §
109 des
Sozialgerichtsgesetzes (
SGG) ein weiteres Gutachten am 30. Januar 2008 erstellt.
Mit Urteil vom 26. Mai 2008 hat das SG die Klage abgewiesen. Die ablehnenden Bescheide seien rechtmäßig. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung
für die zwei durchgeführten Behandlungen mittels ICSI im April und September 2004. Die ICSI-Methode sei nicht von der Leistungspflicht
der gesetzlichen Krankenkasse erfasst. Einzelheiten zu den Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung
nach §
27a Abs.
1 des
Fünften Buches Sozialgesetzbuch (
SGB V) würden durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen durch zu erlassende Richtlinien nach §
92 SGB V bestimmt. Nach der ab dem 1. Juli 2002 geltenden Richtlinie über künstliche Befruchtung sei Voraussetzung für die Durchführung
einer ICSI-Behandlung das Vorliegen einer männlichen Fertilitätsstörung unter den dort genannten Bedingungen. Dies sei nicht
der Fall. Das Bundessozialgericht habe zuletzt mit Urteil vom 21. Februar 2006 - Az.: B 1 KR 29/04 R entschieden, dass es sich bei der Nichtaufnahme von weiblichen Infertilitätsstörungen als Indikation für die Durchführung
einer ICSI-Behandlung nicht um ein sogenanntes Systemversagen handele.
Gegen die am 7. August 2008 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 5. September 2008 Berufung eingelegt. Das Urteil
berücksichtige nicht hinreichend, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. die ICSI-Methode medizinisch indiziert
gewesen sei. Soweit sich das Urteil auf die Richtlinie über künstliche Befruchtung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen
nach §
92 SGB V stütze, verstoße diese gegen höherrangiges Recht. Die Regelung der Übertragung von gesetzgeberischen Aufgaben an den Bundesausschuss
sei nicht zulässig und verletze das Rechtsstaatsprinzip. Die Befugnis zur Rechtsetzung stehe nur dem Gesetzgeber zu. Die Zusammensetzung
des Ausschusses entspreche nicht dem Rechtsstaatsprinzip. Des Weiteren verstoße der Ausschluss der Erstattung der Kosten für
die ICSI-Behandlung bei weiblichen Fertilitätsstörungen gegen Art.
3 Abs.
3 des
Grundgesetzes (
GG). Die Richtlinie erkenne die Anwendung des ICSI-Verfahrens nur bei männlichen Fertilitätsstörungen an. Dies begründe eine
Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 26. Mai 2008 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. September 2003 in Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 2. Dezember 2003 sowie den Bescheid vom 3. August 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 17. Dezember 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die entstandenen Kosten für die ICSI-Behandlungen im April
und September 2004 in Höhe von insgesamt 5.965,03 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie nimmt Bezug auf die Ausführungen im angegriffenen Urteil des Sozialgerichts Nordhausen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen
Verwaltungsakte, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat gemäß §
124 Abs.
2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§
151 SGG), hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch nach §
13 Abs.
3 SGB V auf Erstattung der Kosten für die durchgeführten ICSI-Behandlungszyklen.
Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten kann allein §
13 Abs.
3 Satz 1 Fall 2
SGB V sein. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte
Leistung Kosten entstanden sind, diese Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der
Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch, er setzt daher voraus, dass die
selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkasse allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung
zu erbringen hat (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. nur BSG, Urteil vom 21. Februar 2006 - Az.: B 1 KR 29/04 R, zitiert nach juris Rn. 9). An dieser Voraussetzung fehlt es. Zwar umfassen die Leistungen der Krankenbehandlung nach §
27a SGB V im Grundsatz auch Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, zu denen in bestimmten Fällen ein Behandlungszyklus nach ICSI gehören
kann. Nicht von der Leistungspflicht der Beklagten erfasst waren aber die hier in Rede stehenden Behandlungszyklen im April
und September 2004. §
27a Abs.
1 SGB V gibt Versicherten nur dann Anspruch auf Leistungen der künstlichen Befruchtung, wenn insgesamt sieben im Gesetz näher umschriebene
Voraussetzungen erfüllt sind: Vorliegend liegen die Voraussetzungen des §
27a Abs.
4 SGB V nicht vor. Danach bestimmt der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen in den Richtlinien nach § 92 die medizinischen
Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach Abs. 1. In der ab dem 1. Januar 2004 geltenden Fassung
des §
27a Abs.
4 SGB V bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach §
92 SGB V die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen.
Der Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen hat zwar mit Beschluss vom 26. Februar 2002 die Richtlinien über künstliche
Befruchtungen unter anderem dahin gehend geändert, dass unter Ziffer 11.5 die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)
in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen wurde (Beschluss vom 26. Februar 2002, Bundesanzeiger Nr. 92 vom 22. Mai 2002 S. 10941,
in Kraft getreten am 1. Juli 2002). Zugleich hat er jedoch in Ziffer 11.5 der Richtlinie über künstliche Befruchtung als medizinische
Indikation für die Durchführung der ICSI eine männliche Fertilitätsstörung, nachgewiesen durch zwei aktuelle Spermiogramme
im Abstand von mindestens zwölf Wochen, welche unabhängig von der Gewinnung des Spermas bestimmte Grenzwerte unterschreiten,
zur Voraussetzung gemacht. Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin bereits deshalb nicht vor, weil nach dem Akteninhalt
beim Ehemann der Klägerin eine Fertilitätsstörung zum damaligen Zeitpunkt nicht vorlag. Damit war die erforderliche medizinische
Indikation für die Anwendung der ICSI-Methode nicht gegeben.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist Ziffer 11.5 der Richtlinie über künstliche Befruchtung auf den vorliegenden Fall
anwendbar. Richtlinien sind in der Rechtsprechung des BSG seit langem als untergesetzliche Rechtsnormen anerkannt. Ihre Bindungswirkung gegenüber allen Systembeteiligten ist unbestritten
(vgl. §
91 Abs.
9 SGB V in der Fassung des GME, jetzt §
91 Abs.
6 SGB V). Die von der Klägerin vorgetragenen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des Erlasses der Richtlinie sieht der Senat nicht.
Das Bundessozialgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass diese Form der Rechtsetzung verfassungsgemäß ist
(vgl. nur BSG, Urteil vom 1. März 2011 - Az.: B 1 KR 10/10 R, zitiert nach juris Rn. 32/33; BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 - Az.: B 1 KR 18/10 R, zitiert nach Juris Rn. 17). Den weiteren Vorgaben der Rechtsprechung, dass die vom Bundesausschuss bzw. Gemeinsamen Bundesausschuss
erlassenen, im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden normativen Regelungen formell und auch inhaltlich in
der Weise zu prüfen sind, als hätte der Bundesgesetzgeber derartige Regelungen in Form einer untergesetzlichen Norm selbst
erlassen, ergibt, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Regelungen in den Richtlinien über künstliche Befruchtung und insbesondere
den dort festgelegten Indikationen für ICSI nicht ersichtlich sind. Der Gesetzgeber hat dem Bundesausschuss die Aufgabe übertragen,
zu präzisieren, bei welchen Indikationen die ICSI auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung gerechtfertigt ist. Aus
der Beschlussbegründung vom 26. Februar 2002 ergibt sich, dass die seinerzeit anstehende Beratung der ICSI im Bundesanzeiger
und im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde (vgl. BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 - Az.: B 1 KR 18/10 R, zitiert nach juris Rn. 20).
Anhaltspunkte für eine inhaltlich nicht rechtmäßige Festlegung der Indikation für die ICSI sind nicht ersichtlich. Nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es Aufgabe des Bundesausschusses zu präzisieren, bei welchen Indikationen die
ICSI auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung gerechtfertigt ist. In seiner Rechtsprechung hat das Bundessozialgericht
betont, dass zu Beschränkungen in dieser Hinsicht Anlass bestehen kann, weil die Methode ICSI im Verhältnis zur konventionellen
IVF erheblich öfter angewendet wird, als es nach der statistischen Verteilung von Fertilitätsstörungen der männlichen bzw.
weiblichen Bevölkerung zu erwarten wäre. Insoweit stand es dem Bundesausschuss frei, z.B. unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten
die ICSI nur bei strenger Indikationsstellung als Kassenleistung zuzulassen (vgl. BSG, Urteil vom 3. April 2001 - Az.: 1 KR 40/00 R, BSGE 88, 62-74).
Die Versagung eines Kostenerstattungsanspruchs für ICSI bei überwiegend weiblichen Fertilitätsstörungen verstößt weder gegen
Art.
3 Abs.
3 noch gegen die Absätze 1 und 2
GG. Nach Art.
3 Abs.
3 GG darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden. Diese Verfassungsnorm vertieft den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art.
3 Abs.
1 GG, indem sie dem grundsätzlich bestehenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers engere Grenzen zieht. Das Geschlecht darf
grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Dass Methoden der künstlichen
Befruchtung an unterschiedliche Indikationen anknüpfen, die mit dem Geschlecht verbunden sind, stellt keinen Verstoß gegen
Art.
3 Abs.
3 GG dar (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2006 - Az.: B 1 KR 29/04 R, zitiert nach juris Rn. 20). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind differenzierende Regelungen zulässig,
soweit sie zur Lösung von Problemen dienen, die ihrer Natur nach entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können und
zwingend erforderlich sind. Eine derartige Fallgestaltung ist hier gegeben. Die unterschiedlichen Indikationsstellungen knüpfen
an die tatsächlichen Schwierigkeiten an, die einem Erfolg der natürlichen Befruchtung entgegen stehen, und führen zur jeweils
geeigneten und wirtschaftlichen Methode, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung
ist darin nicht zu erblicken. Dem Gesetzgeber ist nicht jegliche Differenzierung verwehrt. Hierbei durfte der Gesetzgeber
auch berücksichtigen, dass gerade kein Kernbereich der GKV-Leistungen betroffen ist. Ebenso wie der Gesetzgeber muss auch
der Bundesausschuss bei der Gestaltung von Leistungen in der GKV nicht für jeden Einzelfall Ausnahmen schaffen. Es wird ein
legitimes Anliegen verfolgt, wenn die Ausgaben für Leistungen der künstlichen Befruchtung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung
begrenzt werden sollen. Es besteht daher keine Verpflichtung jedem Versicherten die Behandlungsmethode nach ICSI zu ermöglichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §
193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs.
2 SGG nicht vorliegen.