Sozialhilferecht - Übernahme angemessener, nach Leistungskomplexen ermittelter Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte;
Bedarfsdeckungsprinzip; keine pauschale Begrenzung der Leistung auf eine Höchstpunktzahl je Tag.
Gründe:
I.
Die 1968 geborene Antragstellerin ist schwerstbehindert (schwere Dysmelien der oberen und unteren Gliedmaßen, chronische Pyelonephritis
und Blasenschwäche). Nach den Gutachten des Medizinischen Dienstes vom 23. Oktober 1995 und vom 26. Februar 1997 ist sie "aufgrund
ihrer Behinderung in hohem Maße auf Dauer und auch rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen". Die Voraussetzungen der Pflegestufe
III sind danach erfüllt, diejenigen für einen Härtefall aber nicht. Die Beklagte gewährt ihr seit dem 1. April 1995 Hilfe
zur Pflege gemäß § 69 b
BSHG durch Übernahme der Kosten des wochentags eingesetzten Pflegedienstes (GIS, Hannover) und an Wochenenden der Kosten für privat
beschäftigte Pflegekräfte unter Anrechnung vorrangiger Leistungen der Pflegekasse. Durch Bescheid vom 23. Januar 1996 Übernahm
die Antragsgegnerin ab dem 1. November 1995 die Kosten des Einsatzes von Pflege- und Betreuungskräften des Pflegedienstes
GIS als Pflegesachleistungen nach Leistungskomplexen; dabei wurde die Leistung der Pflegekasse in Höhe von 2.800,-- DM monatlich
angerechnet und die Kostenübernahme auf höchstens 7000 Leistungskomplex-Punkte pro Tag begrenzt. Mit ihrem gegen diesen Bescheid
erhobenen Widerspruch wandte sich die Antragstellerin sowohl dagegen, daß die Kostenübernahme nicht alle beantragten Leistungskomplexe
erfaßte, als auch dagegen, daß sie auf höchstens 7000 Punkte pro Tag begrenzt war. Mit Bescheiden vom 20. August 1996 half
die Antragsgegnerin dem Widerspruch, soweit er die Leistungskomplexe betraf, ab und wies ihn im übrigen, also hinsichtlich
der Bestimmung der Obergrenze von 7000 Punkten pro Tag, zurück. Über die dagegen erhobene Klage (3 A 5116/96) ist noch nicht entschieden.
Mit ihrem am 12. Februar 1997 bei Gericht eingegangenen Antrag hat die Antragstellerin begehrt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem Zeitpunkt der Anhängigkeit vorläufig die
Kosten des Einsatzes von Pflege- und Betreuungskräften der GIS ohne die Beschränkung auf die Punktzahlobergrenze von 7000
Punkten pro Tag zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Das Verwaltungsgericht hat durch Beschluß vom 26. März 1997 die Antragsgegnerin antragsgemäß verpflichtet und zur Begründung
ausgeführt:
Die Antragstellerin habe einen Anspruch gemäß § 68 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 b Abs. 1 Satz 1 BSHG auf Erstattung der angemessenen Aufwendungen für Pflegepersonen glaubhaft gemacht. Bei der Ermittlung der angemessenen Aufwendungen
sei das im Sozialhilferecht geltende Bedarfsdeckungsprinzip zu berücksichtigen. Damit sei eine Begrenzung der Aufwendungen
durch eine pauschale Begrenzung (Deckelung) der zu erstattenden Leistungen auf eine Obergrenze von 7000 Punkten am Tag nicht
vereinbar. Eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs sei - anders als etwa in §
36 Abs.
3
SGB XI - nicht gesetzlich vorgesehen, insbesondere auch nicht § 68 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu entnehmen.
Die (pauschale) Begrenzung der nach der Entscheidung der Antragsgegnerin notwendigen Leistungen auf maximal 7000 Punkte pro
Tag stehe im Widerspruch zu der individuellen Bewilligung von Leistungen, die einem Punktwert von über 8000 Punkten entsprächen.
Den persönlichen Bedarf der Antragstellerin habe die Antragsgegnerin selbst ermittelt, so daß er, jedenfalls im Eilverfahren,
als zutreffend zu unterstellen sei.
Auch § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG stütze die von der Antragsgegnerin geregelte (pauschale) Begrenzung der gewährten Kostenerstattung nicht. Es sei ungeklärt,
ob ein billigerer stationärer Pflegeplatz vorhanden wäre und ob seine Inanspruchnahme der Antragstellerin zugemutet werden
könnte.
Gegen diesen Beschluß hat die Antragsgegnerin die Zulassung der Beschwerde beantragt. Sie macht geltend: An der Richtigkeit
des Beschlusses beständen ernstliche Zweifel. Die in der Entscheidung der Antragsgegnerin aufgeführten Leistungskomplexe entsprächen
keinesfalls dem erforderlichen Bedarf der Antragstellerin, der im übrigen naturgemäß täglich variiere. Da die nach dem
SGB XI und dem BSHG zu gewährenden Leistungen ohnehin nicht strikt voneinander zu trennen seien, sondern sich teilweise überschnitten, seien
die bewilligten Leistungskomplexe im Interesse der Pflegebedürftigen zunächst voll angerechnet und erst anschließend eine
pauschale Kürzung ausgesprochen worden. Denn so könne jeder Bedürftige seine Bedarfsdeckung frei gestalten und die eine Leistung
gegen eine andere, für dringender gehaltene Leistung austauschen. Offensichtlich sei aber, daß beispielsweise der dreimal
täglich anrechenbare Leistungskomplex 21 (Durchschnittswert: 1 1/2 bis 3 Std. pro Einheit) schon aus Zeitgründen nicht täglich
dreimal abgerufen werden könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluß des Verwaltungsgerichts vom 26. März 1997 ist zulässig, aber nicht
begründet. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses im Sinne von §§ 146 Abs. 4,
124 Abs.
2 Nr.
1
VwGO bestehen nicht. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die beantragte einstweilige Anordnung erlassen. Denn die Antragstellerin
hat für den verfolgten Anspruch gemäß §§ 68, 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG auf Übernahme der angemessenen Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft
gemacht (das Verwaltungsgericht hat irrtümlich § 69 b Abs. 1 Satz 1 BSHG - die Erstattung angemessener Aufwendungen der Pflegeperson - als Rechtsgrundlage herangezogen).
Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, daß die Leistungen der Sozialhilfe zur Deckung des individuellen Bedarfs
des Hilfebedürftigen bestimmt sind (Bedarfsdeckungsprinzip). Als Bedarf der Antragstellerin an häuslicher Pflege ist - jedenfalls
für das Eilverfahren - dasjenige anzunehmen, was die Antragsgegnerin in ihrem Bescheid vom 20. August 1996 an notwendigen
Pflegeleistungen (Leistungskomplexen nach dem
SGB XI und dem BSHG sowie für Nachtbetreuung) zugrunde gelegt hat. Denn diese Annahme auf der Basis der nach Inkrafttreten des Rechts der Pflegeversicherung
eingeführten Leistungskomplexe (vgl. §
69
SGB XI) geht auf ihre eigenen Ermittlungen zurück: Die Angaben der Antragstellerin in dem Antrag vom 14. September 1995, ergänzt
durch eine von der GIS mit Schreiben vom 17. Januar 1996 vorgelegte Leistungsaufstellung (Pflegeplan), wurden anhand eines
Gutachtens des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen vom 23. Oktober 1995 und der Ergebnisse eines
Hausbesuches der Bezirkssozialarbeiter der Antragsgegnerin bei der Antragstellerin am 5. Juni 1996 überprüft, und danach wurde
durch Bescheid vom 20. August 1996 dem Widerspruch der Antragstellerin gegen die Ablehnung einzelner Leistungskomplexe stattgegeben
(das gilt auch hinsichtlich des Leistungskomplexes 26, vgl. Klageerwiderung vom 29. Oktober 1996, S. 3, im Verfahren 3 A 5116/96).
Danach ist eine pauschale Reduzierung des so ermittelten und von der Antragsgegnerin anerkannten Bedarfs der Antragstellerin
an Pflegeleistungen nicht gerechtfertigt, insbesondere nicht im Hinblick darauf, daß sich - wie die Antragsgegnerin behauptet
- Inhalte der einzelnen Leistungskomplexe überschneiden und daß nicht jeden Tag alle Leistungskomplexe in der bewilligten
Zahl abgerufen werden können oder müssen. Für die von ihr für richtig gehaltene Begrenzung für die innerhalb eines Tages und
einer Nacht notwendigen Pflegeleistungen auf maximal 7000 Punkte pro Tag (Punktobergrenze; Deckelung) fehlt es an einer Rechtsgrundlage.
Während für das Recht der sozialen Pflegeversicherung §
36 Abs.
3 und
4
SGB XI (pauschale) Begrenzungen der Leistungen auf einen nach Pflegestufen gestaffelten Gesamtwert je Kalendermonat vorsieht, fehlt
es an einer entsprechenden Regelung für das Recht der Sozialhilfe, das auch bei der Hilfe zur häuslichen Pflege weiter vom
Bedarfsdeckungsprinzip beherrscht wird (vgl. Beschl. d. Sen. v. 5.6.1996 - 4 M 2452/96 - FEVS 47, 89; Hamb. OVG, Beschl. v. 10.6.1996, FEVS 47, 177; Jürgens, ZfSH/SGB 1997, 24 ff., 26). Der Verweisung in § 68 Abs. 2
BSHG auf Regelungen der Pflegeversicherung ist die Normierung einer solchen "Deckelung" aus den in dem angefochtenen Beschluß
dargelegten Gründen nicht zu entnehmen. Entsprechendes gilt für die Bestimmung in § 68 a
BSHG, nach der die Entscheidungen der Pflegekasse über das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch
auch der Entscheidung im Rahmen der Hilfe zur Pflege zugrunde zu legen sind, soweit sie auf Tatsachen beruhen, die bei beiden
Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Denn die Entscheidung der Pflegekasse über das Maß der Pflegebedürftigkeit der Antragstellerin
(die Pflegestufe) hat die Antragsgegnerin ihrer Entscheidung über den Pflegebedarf der Antragstellerin zugrunde gelegt. Ein
Recht, die Leistung nach § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG pauschal zu begrenzen, ergibt sich aus der Bindungswirkung nach 9 68 a BSHG nicht.
Dem berechtigten Anliegen der Antragsgegnerin, bei der Übernahme angemessener Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte
zu berücksichtigen, daß bestimmte Leistungskomplexe nicht jeden Tag (in derselben Häufigkeit) abgerufen werden können oder
müssen, ist auf andere Weise Rechnung zu tragen: Die Antragsgegnerin muß dazu ermitteln und entscheiden, in welchem größeren
Zeitraum als einem Tag sie die Leistungskomplexe in welcher Zahl für erforderlich hält. Es empfiehlt sich, als kleinste Einheit
den Zeitraum (eine Woche, zwei oder mehr Wochen) zu wählen, in dem jeder bewilligte Leistungskomplex mindestens einmal oder
so häufig vorkommt, daß sich die Zahl in dem gleichlangen Folgezeitraum wiederholt. Die Gesamtpunktzahl der Leistungskomplexe
in diesem Zeitraum ist auf das Jahr (52 Wochen) hochzurechnen, sodann auf einen Monat umzurechnen (durch 12 zu teilen) und
mit dem DM-Betrag für einen Punkt der Leistungskomplexe zu multiplizieren, damit von diesem pauschalen Monatsbetrag die monatliche
(Monat für Monat einheitliche) Leistung der Pflegekasse abgezogen werden kann. Diese Methode wird beiden Anliegen gerecht:
Dem des Sozialhilfeträgers, trotz des von Tag zu Tag schwankenden Bedarfs einen monatlich einheitlichen Leistungsbetrag zugrundelegen
zu können, und dem des Hilfeempfängers, im Rahmen des notwendigen und bewilligten Umfangs je nach Bedarf entscheiden zu können,
an welchem Tag er welche Leistungskomplexe in welcher Zahl abrufen will. Die von der Antragsgegnerin gewählte Methode der
pauschalen Begrenzung der täglichen Punktzahl beruht demgegenüber auf einer groben Schätzung ohne ausreichend ermittelte Tatsachengrundlage
und ist deshalb ungeeignet. Der Senat hat die von ihm für richtig gehaltene Methode in dem ähnlichen Fall angewandt, in dem
es um die Kürzung des Pflegegeldes bei teilstationärer Betreuung nach § 69 Abs. 4 Satz 3 BSHG a.F. (= § 69 c Abs. 3
BSHG n.F.) gegangen ist (u.a. Urt. v. 5.1.1984 - 4 OVG A 98/82 -). Diese Methode hat es ermöglicht, die im Laufe eines Jahres regelmäßig wiederkehrenden Zeiten ohne teilstationäre Betreuung
(gesetzliche Feiertage, Ferien usw.) zu berücksichtigen und für das monatlich zu zahlende Pflegegeld einen für jeden Monat
einheitlichen (pauschalen) Kürzungssatz zu ermitteln. Ähnlich wird die Antragsgegnerin hier vorgehen müssen, wenn sie künftig
bei der Ermittlung des monatlichen Leistungsbetrages berücksichtigen will, daß es nicht im Sinne des § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG "erforderlich" ist, daß die Antragstellerin bestimmte Leistungskomplexe jeden Tag (in derselben Häufigkeit) abruft. Der Senat
sieht nicht begründeten Anlaß, in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine solche Berechnung erstmals selbst vorzunehmen,
solange die Antragsgegnerin nicht entschieden hat, welche Leistungskomplexe sie in welchen zeitlichen Abständen wie oft für
erforderlich hält.
Eine Begrenzung der Übernahme angemessener Kosten für die Heranziehung besonderer Pflegekräfte ist schließlich auch nicht
nach den Bestimmungen der §§ 3 f. BSHG gerechtfertigt. Die allgemeinen Grenzen der Respektierung der Wünsche des Hilfeempfängers hinsichtlich Art, Form und Maß
der Sozialhilfe gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG (soweit sie angemessen sind) und § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG (soweit sie mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind) stehen der Beachtlichkeit des Wunsches der Antragstellerin,
in ihrer eigenen Wohnung zu leben und gepflegt zu werden, nicht entgegen. Denn nach § 3 a Satz 1 BSHG ist die erforderliche Hilfe regelmäßig außerhalb von Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen zu gewähren. Dies
gilt - ohne Rücksicht auf die Mehrkosten der ambulanten Hilfe - gemäß § 3 a Satz 2 BSHG nur dann nicht, wenn eine geeignete stationäre Hilfe zumutbar ist. Gemäß § 3 a Satz 3 BSHG sind bei der Prüfung der Zumutbarkeit die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen.
Zunächst sind deshalb die die persönliche Situation des Hilfesuchenden prägenden Umstände des Einzelfalles besonders zu prüfen
und angemessen zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 28. Aug. 1996 - 4 L 1845/96 - Bt Prax 1997, 117) kann deshalb nicht allgemein verbindlich gesagt werden, in welcher Größenordnung oder ab welchem Verhältnis
die Mehrkosten einer ambulanten Hilfe "unverhältnismäßig" in diesem umfassenden Sinne sind. Im vorliegenden Fall sind die
persönlichen, familiären und örtlichen Verhältnisse und die bekannten Mehrkosten der ambulanten Hilfe - soweit hierzu Feststellungen
getroffen sind - jedenfalls nicht der Art, daß das Kriterium der Zumutbarkeit stationärer Hilfe im Sinne des § 3 a Sätze 2 und 3 BSHG bejaht werden könnte. Erschöpfende Feststellungen hierzu hat die Antragsgegnerin wohl auch deshalb unterlassen, weil sie
die Rechtsfolge des § 3 a Satz 2 BSHG, die gewünschte ambulante Hilfe ganz zu versagen, auch nicht für angezeigt hält.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§
154 Abs.
2,
188 Satz 2
VwGO.
Diese Entscheidung ist gemäß §
152 Abs.
1
VwGO unanfechtbar.