Sozialhilferecht: erforderlichkeit eines Widerspruchsverfahrens im Anwendungsbereich des § 114 Abs. 2 BSHG
Tatbestand:
Der Kläger begehrt mit seiner Klage höhere Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Rücknahme von Sozialhilfebescheiden.
Der 1951 geborene Kläger erhielt von der Beklagten erstmals aufgrund des Bewilligungsbescheides vom 12. November 1993 ergänzende
Hilfe zum Lebensunterhalt für den Zeitraum 31. August - 31. Oktober 1993. Dabei ging die Beklagte von dem Bestehen einer eheähnlichen
Gemeinschaft des Klägers mit Frau aus. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und nach dessen Zurückweisung durch den Kreisrechtsausschuß
bei der Kreisverwaltung Klage zum Verwaltungsgericht Koblenz, die er nach Ergehen eines Gerichtsbescheides vom 23. Januar
1995 und anschließender Durchführung einer mündlichen Verhandlung in der Sitzung vom 21. September 1995 wieder zurücknahm
(s. hierzu die Gerichtsakte 5 K 2035/94. KO).
Am 08. Februar 1994 beantragte der Kläger bei der Beklagten erneut die Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt
ab dem 01. April 1994 mit der Begründung, die ihm zustehende Arbeitslosenhilfe werde nur noch bis zum 31. März 1994 gezahlt.
Mit Bescheid vom 08. April 1994 gewährte die Beklagte dem Kläger daraufhin ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von
191,-- DM mit Wirkung vom 01. April 1994. Die Beklagte ging dabei erneut vom Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft des
Klägers mit Frau aus. Deshalb wurde bei der Bedarfsberechnung unter anderem Unterhaltsgeld von Frau in Höhe von 826,39 DM
angerechnet. Mit Änderungsbescheid vom 27. April 1994 setzte die Beklagte die Hilfe zum Lebensunterhalt für den Kläger für
die Zeit ab 01. April 1994 neu und zwar in Höhe von 357,-- DM pro Monat fest. Grund der Neufestsetzung war die Übernahme von
Krankenkassenbeiträgen.
Gegen diese Bescheide legte der Kläger keinen Widerspruch ein.
Mit weiterem Bescheid vom 09. Juni 1994 gewährte die Beklagte dem Kläger ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt mit Wirkung
vom 01. Juni 1994. Das hiergegen von dem Kläger nach erfolglosem Widerspruch angestrengte Verwaltungsstreitverfahren ist inzwischen
abgeschlossen.
Am 21. September 1995 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Koblenz erhoben und zur Begründung ausgeführt, die Klage
stütze sich auf den gleichen Sachverhalt, wie er bereits dem beim Verwaltungsgericht Koblenz unter dem Aktenzeichen 5 K 2035/94.KO anhängig gewesenen Verfahren zugrunde gelegen habe. Lediglich der streitgegenständliche Zeitraum sei nicht identisch, mit
der nunmehr erhobenen Klage begehre er laufende Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 01. April 1994.
Mit Gerichtsbescheid vom 12. Dezember 1996 hat das Verwaltungsgericht Koblenz die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt,
soweit sich der Kläger gegen den Bescheid vom 08. April 1994 wende, sei die Klage mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig,
da der Bescheid bestandskräftig geworden sei. Auch wenn den Verwaltungsakten nicht entnommen werden könne, wann der Bescheid
dem Kläger bekanntgegeben worden sei, müsse er spätestens am 29. April 1994 hiervon Kenntnis gehabt haben. Denn an diesem
Tag habe er unter dem Aktenzeichen 5 K 2035/94.KO Klage zum Verwaltungsgericht Koblenz erhoben und den hier angefochtenen Bescheid in Kopie beigefügt. Soweit sich die Klage
gegen den Bescheid vom 27. April 1994 wende, sei die Klage ebenfalls unzulässig, da es an der Durchführung des zwingend erforderlichen
Vorverfahrens nach §
68 VwGO fehle.
Gegen den ihm am 31. Dezember 1996 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29. Januar 1997 Berufung eingelegt. Zur
Begründung trägt er vor, die im Gerichtsbescheid enthaltene Behauptung, er habe in seinem Sozialhilfeantrag vom 08. Februar
1994 angegeben, Frau gehöre zu seinem Haushalt, sei falsch. Eine eheähnliche Gemeinschaft mit Frau bestehe nicht, demzufolge
seien alle Bescheide rechtswidrig, in denen das Einkommen von Frau bei seinen Anträgen angerechnet worden sei. Diese Bescheide
seien daher nach § 44 SGB X aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 12. Dezember 1996 - 5 K 3698/95.KO - und Abänderung der Bescheide der Beklagten vom 08. April 1994 und 27. April 1994, die Beklagte zu verpflichten, ihm für
den Zeitraum 01. April 1994 bis 31. Mai 1994 Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Anrechnung einer eheähnlichen Gemeinschaft mit
Frau zu gewähren sowie die Beklagte zu verpflichten, alle Bewilligungsbescheide zurückzunehmen, in denen das Einkommen von
Frau wegen Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft angerechnet worden ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die Berufungsschrift enthalte keine neuen Erkenntnisse. Der Kläger habe in seinem Sozialhilfeantrag vom 08.
Februar 1994 selbst angegeben, in eheähnlicher Gemeinschaft mit Frau zu wohnen. Diese lebe auch nach wie vor im gemeinsamen
Haushalt des Klägers.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge und die Gerichtsakte 5 K 2035/94.KO, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 05. Februar 1998 verhandeln und entscheiden,
da die Beklagte rechtzeitig und unter Hinweis auf die Bestimmung des §
102 Abs.
2 VwGO geladen worden ist.
Die Berufung ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.
Das Verwaltungsgericht Koblenz hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Was den angefochtenen Bescheid vom 08. April 1994 anbetrifft, fehlt dem Kläger bereits deswegen das Rechtsschutzinteresse,
weil der angefochtene Bescheid durch den späteren Änderungsbescheid vom 27. April 1994 gegenstandslos geworden ist. Das Rechtsschutzinteresse
für die Aufhebung eines ursprünglichen Bescheides entfällt dann, wenn der Änderungsbescheid den angefochtenen Verwaltungsakt
zurücknimmt, widerruft oder in allen seinen Regelungsteilen ersetzt, so daß der angefochtene Verwaltungsakt keine Rechtswirkungen
mehr zeitigt (BVerwG, Beschluß vom 19. Dezember 1997 - 8 B 244.97 -). So ist es hier, denn der Änderungsbescheid vom 27. April 1994, in dem infolge der Übernahme der Krankenkassenbeiträge
die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt für den Kläger neu festgesetzt wurde, stellte nunmehr den Rechtsgrund für die ihm erbrachten
Leistungen ab dem 01. April 1994 dar.
Soweit sich der Kläger gegen die Anrechnung des Einkommens von Frau in dem den Zeitraum April bis Mai 1994 betreffenden Bescheid
vom 27. April 1994 wendet, ist die Klage jedenfalls deshalb unzulässig, weil der Kläger gegen den genannten Bescheid hätte
zunächst Widerspruch nach §
68 Abs.
2 VwGO erheben müssen. Dahingehend hatte die Beklagte ihn auch belehrt. Jedoch hat er diesen Rechtsbehelf zu keinem Zeitpunkt eingelegt.
Das nach §
68 Abs.
2 i.V.m. Abs.
1 VwGO grundsätzlich erforderliche Vorverfahren, für das hier gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz BSHG, § 4 AGBSHG, § 6 Abs. 1 AGVwGO der Kreisrechtsausschuß bei der Kreisverwaltung zuständig gewesen wäre, war vorliegend auch nicht ausnahmsweise entbehrlich,
weil die Beklagte sich im Klageverfahren hilfsweise zur Sache eingelassen und im einzelnen vorgetragen hat, daß von einem
Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft des Klägers mit Frau auszugehen sei. Dabei braucht der Senat hier nicht auf die Frage
einzugehen, ob ein Vorverfahren aus Gründen der Prozeßökonomie und in Einklang mit dem Regelungszweck des §
68 VwGO über die gesetzlich ausdrücklich normierten Fälle hinaus regelmäßig dann entbehrlich ist, wenn sich der Beklagte auf die
Klage zur Sache eingelassen hat. Das Bundesverwaltungsgericht bejaht diese Frage grundsätzlich mit dem Argument, die Vorschriften
über das Vorverfahren seien für die Behörde dispositiv (BVerwGE 15, 306, 310; NVwZ-RR 1995, 90; ablehnend: Rennert in: Eyermann,
VwGO, 12. Auflage 1998, §
68 Rdnr. 29; ebenso: Dolde in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, Kommentar, Stand: Mai 1997, §
68 Rdnr. 29), teilweise sogar dann, wenn das Fehlen des Vorverfahrens ausdrücklich gerügt und Klageabweisung aus Sacherwägungen
nur hilfsweise beantragt wird (DVBl. 1981, 502; NVwZ 1984, 507).
Jedenfalls ist das Vorverfahren i.S. der §§
68 ff.
VwGO im Anwendungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes durch die Besonderheit gekennzeichnet, daß gemäß § 114 Abs. 2 BSHG vor dem Erlaß des Widerspruchsbescheides gegen die Ablehnung der Sozialhilfe oder gegen die Festsetzung ihrer Art und Höhe
sozial erfahrene Personen - in Rheinland-Pfalz gemäß § 19 AGBSHG sog. Sozialhilfeausschüsse - beratend zu beteiligen sind (zur Bedeutung dieser Beteiligung: Schoch in ZfSH/SGB 1995, 569). Die Beteiligungspflicht besteht unabhängig davon, ob im Widerspruchsverfahren eine Ermessensentscheidung zu treffen ist
(HessVGH, FEVS 15, 454). Hierbei handelt es sich nicht nur um ein bloßes Ordnungserfordernis; vielmehr stellt die Nichtbeteiligung
sozial erfahrener Personen im Widerspruchsverfahren einen erheblichen Mangel des Vorverfahrens dar, der wegen der Bedeutung
der Beratung für die Entscheidungspraxis der Behörden im allgemeinen nicht der Disposition der unmittelbar Beteiligten überlassen
werden kann und mithin von Amts wegen zu berücksichtigen ist (BVerwGE 21, 208, 210; E 25, 307, 309; E 28, 216, 218; E 66, 342, 345; ebenso: Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, Kommentar, 15. Auflage 1997, § 114 Rdnr. 8; Knopp/Fichtner, BSHG, Kommentar, 7. Auflage 1992, § 114 Rdnr. 5; kritisch: Stahlmann in ZfSH/SGB 1989, 505; ablehnend: Engel in ZfSH/SGB 1986, 317). Können aber sowohl der Hilfebedürftige als auch die Sozialhilfebehörde im allgemeinen nicht auf die Einhaltung der Vorschrift
des § 114 Abs. 2 BSHG verzichten, ist eine ohne Durchführung des Vorverfahrens erhobene Klage auch nicht aus Gründen der Prozeßökonomie ausnahmsweise
dann zulässig, wenn die Behörde (hilfsweise) zur Sache vorgetragen hat (vgl. BVerwG, FEVS 23, 7; BayVBl. 1986, 406). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Voraussetzungen des §
75 VwGO gegeben sind (BVerwGE 66, 342, 345; BayVBl. 1986, 406) oder die Behörde in der irrigen Annahme gehandelt hat, ein Widerspruchsverfahren nach § 114 BSHG sei nicht erforderlich (BVerwG, DÖV 1968, 496; E 37, 87). Beide Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor.
Soweit der Kläger schließlich erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht hat, er verlange gemäß § 44 SGB X die Rücknahme aller Bescheide, in denen das Einkommen von Frau angerechnet worden sei, bleibt dieses Begehren ungeachtet
der Frage der Zulässigkeit dieser Klageänderung (-erweiterung) schon deswegen erfolglos, weil § 44 SGB X nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 68, 285), der der Senat folgt, auf das Leistungsrecht des BSHG nicht anwendbar ist. Dies folgt aus dem Grundsatz "keine Hilfe für die Vergangenheit", einem sich aus § 5 BSHG ergebenden Strukturprinzip des Sozialhilferechts.
Auf die von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausführlich aufgeworfenen Fragen, insbesondere nach dem
Bestehen oder Nichtbestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft mit Frau, konnte daher im vorliegenden Verfahren nicht näher eingegangen
werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §
154 Abs.
2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß §
188 Satz 2
VwGO nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus §
167 VwGO i.V.m. §
708 Nr. 10
ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Gründe der in §
132 Abs.
2 VwGO bezeichneten Art nicht vorliegen.