Recht der Spätaussiedler: Umfang der "nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe"
Gründe:
1. Der Antragstellerin war auf ihren Antrag für das Beschwerdeverfahren gemäß §
166 VwGO in Verbindung mit den §§ 114ff.
ZPO Prozeßkostenhilfe zu bewilligen. Die hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung ist gemäß §
119 ZPO nicht zu prüfen, weil der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat.
2. Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner zu Unrecht
durch einstweilige Anordnung nach §
123 Abs.
1 VwGO verpflichtet, der Antragstellerin ab 01.09.1996 bis 31.01.1997, längstens jedoch bis zur Bewilligung ihrer Rente, vorläufig
darlehensweise laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 75% des maßgeblichen Regelsatzes einschließlich der angemessenen
Kosten der Unterkunft zu gewähren. Die Antragstellerin hat auch insoweit keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§
123 Abs.
3 VwGO in Verbindung mit §
920 Abs.
2 ZPO).
Gemäß §§ 11, 12 BSHG erhalten Personen, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen
können, Hilfe zur Bestreitung ihres notwendigen Lebensunterhalts. Örtlich zuständig für die Gewährung dieser Hilfe ist gemäß
§ 97 Abs. 1 BSHG grundsätzlich der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfesuchende tatsächlich aufhält. Im Fall von Spätaussiedlern
haben diese Regelungen durch § 3a Abs. 1 des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler - WoZuG - vom 06.07.1989 (BGBl. I S. 1378) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26.02.1996 (BGBl. I S. 225) eine Modifizierung erfahren. Hiernach erhalten Spätaussiedler, die abweichend von der Verteilung gemäß § 8 des Bundesvertriebenengesetzes
in einem anderen Land oder abweichend von der Zuweisung aufgrund des § 2 WoZuG oder einer anderen landesinternen Regelung
an einem anderen Ort ständigen Aufenthalt nehmen, von dem für den tatsächlichen Aufenthalt zuständigen Träger der Sozialhilfe
nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (vgl. § 3a Abs. 1 S. 1 u. S. 2 WoZuG).
Die Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 S. 1 lit. a WoZuG liegen, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, in der Person
der Antragstellerin vor; denn sie hat abweichend von der Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts vom 18.06.1996
nicht in Schleswig-Holstein, sondern in Baden-Württemberg ihren ständigen Aufenthalt genommen. Damit steht ihr nach § 3a Abs.
1 S. 2 WoZuG gegen den Antragsgegner als dem für den tatsächlichen Aufenthaltsort der Antragstellerin zuständigen Träger der
Sozialhilfe grundsätzlich Sozialhilfe nur im Umfang der nach den Umständen unabweisbar gebotenen Hilfe zu. Danach hat die
Antragstellerin grundsätzlich keinen Anspruch auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in der Höhe des für sie maßgeblichen
Regelsatzes. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch auch der Ansicht, daß der Antragstellerin gemäß § 3a Abs.
1 S. 2 WoZuG auch kein Anspruch auf Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt in abgesenkter Höhe, etwa in Höhe des
Existenzminimums, zusteht.
Die Auslegung des Begriffs der "nach den Umständen unabweisbar gebotenen Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz" kann nur unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler vom 26.02.1996 (BGBl. I, S. 223) und des mit diesem Gesetz verfolgten Zwecks erfolgen. Im Gesetzgebungsverfahren war zunächst vorgesehen, überproportional
belastete Gemeinden bei den beobachteten einseitigen Wanderungsbewegungen von Spätaussiedlern aufgrund familiärer oder anderer
Bindungen im Wege einer an die Vorschrift des § 107 BSHG angelehnten reinen Kostenerstattungsregelung finanziell zu entlasten (BT-Drucks. 13/3102 S. 1 u. 4). Der Bundesrat forderte
in seiner Stellungnahme vom 13.10.1995 (BT-Drucks. 13/3102 Anl. 2) statt der Erstattungslösung jedoch eine Lösung, die nicht
nur einen finanziellen Ausgleich für die überproportionale Belastung schafft, die Ländern und Kommunen dadurch entstehen,
daß Spätaussiedler abweichend von der Verteilungsentscheidung in ein anderes als das zur Aufnahme verpflichtete Land ziehen,
sondern die auch tatsächlich eine gleichmäßige Verteilung der Spätaussiedler im Bundesgebiet sicherstellt. Der Kostenerstattungsregelung
sollte dabei nur eine Auffangfunktion im Rahmen einer Notfallregelung zukommen. Tragender Beweggrund war dabei zum einen die
ablehnende Haltung der Länder gegenüber länderübergreifenden Finanztransfers in die Länder mit positivem Zuwanderungssaldo,
zum anderen aber auch der Wunsch, insbesondere der neuen Bundesländer, die bestehenden Aufnahmekapazitäten auslasten zu können
und die als Bereicherung verstandenen Spätaussiedler tatsächlich im Lande zu halten, statt die Eingliederung in anderen Bundesländern
durch Finanztransfers finanzieren zu müssen (vgl. hierzu die Begründung des vom Freistaat Sachsen gestellten Antrags auf Anrufung
des Vermittlungsausschusses, BR-Drucks. 62/2/96). Die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung sah dabei vor, daß der Träger
der Sozialhilfe, in dessen Zuständigkeitsbereich sich eine aufzunehmende Person abweichend von der Zuteilung oder Zuweisung
aufhält, nur zur Erbringung derjenigen Leistung verpflichtet ist, die zur Behebung "eines akuten, nicht aufschiebbaren Hilfebedarfs"
erforderlich sind (vgl. BT-Drucks. 13/3102 Anl. 2). Dem Anliegen des Bundesrats verschloß sich die Bundesregierung nicht;
in ihrer Gegenäußerung legte sie dar, daß sie das Anliegen des Bundesrats, die Verteilung der Spätaussiedler auf die Länder
sowie innerhalb der Länder zu verbessern, unterstützen werde; zugleich sagte sie zu, im weiteren Gesetzgebungsverfahren verfassungskonforme
Lösungen für das gemeinsame Anliegen zu finden (vgl. Drucks. 13/102 Anl. 3). Auf Vorschlag des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages, der es ursprünglich bezüglich der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz - anders als bei den Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz - noch bei einer bloßen Kostenerstattungsregelung belassen wollte (vgl. BT-Drucks. 13/3244 S. 4) wurde dann § 3a WoZuG in
der heute geltenden Fassung beschlossen. Hierbei lehnt sich die Formulierung "nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe
nach dem Bundessozialhilfegesetz" ersichtlich an den Wortlaut des § 120 Abs. 5 BSHG an. Dieser wurde von der einschlägigen Kommentarliteratur und auch von der Rechtsprechung bereits zum Zeitpunkt der Einleitung
des Gesetzgebungsverfahrens - wie auch die im wesentlichen wortgleiche Regelung des §
11 Abs.
2 AsylbLG - jedoch als reine Notfallregelung verstanden, die es - abgesehen von Ausnahmefällen - grundsätzlich nicht erlaubt, auf Dauer
- wenn auch nur abgesenkte - Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren (vgl. LPK- BSHG, 4. Aufl., § 120 RdNr. 29 und Kommentierung zum §
11 AsylbLG RdNr. 44; Mergler/Zink, BSHG, Stand Juli 1995, § 120 RdNr. 82; Schellhorn/Jirasek/ Seipp, BSHG, 14. Aufl., § 120 RdNr. 43 und OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluß v. 30.01.1992 - 8 B 104/92, - NWVBl. 1992, 200). Daß letzteres dem Gesetzgeber verborgen geblieben sein könnte, kann nicht angenommen werden, zumal diese Auslegung des
§ 120 Abs. 5 AuslG durchaus auch dem gesetzgeberischen Willen entsprach (vgl. insoweit die Begründung zu Art. 7 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 26.04.1990 - BGBl. I S. 1354 - BT-Drucks. 11/6321 S. 90). Wenn der Gesetzgeber gleichwohl in § 3a Abs. 1 S. 2 WoZuG die aus den §§ 120 Abs. 5 AuslG entlehnte Formulierung "nach den Umständen abweisbar gebotene Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz" gewählt hat, so kann das nach Ansicht des Senats nur bedeuten, daß er diese Regelung ebenso wie die Vorschrift des § 120 Abs. 5 AuslG nur als reine Notfallregelung im oben beschriebenen Sinne verstanden wissen wollte und dem Spätaussiedler, der abweichend
von der Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamts in einem anderen Land oder abweichend von der Zuweisung aufgrund
des § 2 WoZuG an einem anderen Ort Aufenthalt nimmt, eben gerade keinen Anspruch auf dauerhafte Zahlung eines - wenn auch
abgesenkten - Sozialhilfesatzes geben wollte. Hätte er letzteres beabsichtigt, hätte er wie bereits bei dem bis zum 30.09.1993
in Kraft gewesenen § 120 Abs. 2 S. 4 AuslG einen Wortlaut gewählt, der dem von § 3a Abs. 1 S. 2 WoZuG erfaßten Spätaussiedler zumindest einen Anspruch auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche einräumt. Bestärkt in
dieser Ansicht, daß nach dem gesetzgeberischen Willen " die nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe" nach § 3a Abs.
1 S. 2 WoZuG als reine Nothilfe grundsätzlich nicht die auf Dauer gewährte volle Sozialhilfe oder auch nur das verfassungsrechtlich
gebotene Existenzminimum umfassen sollte, sieht sich der Senat auch durch den Umstand, daß die Fraktion der CDU/CSU in den
Ausschußberatungen deutlich gemacht hatte, daß § 3a WoZuG in der letztlich Gesetz gewordenen Fassung dem Interesse der Bundesländer
entspreche und mit diesen abgestimmt sei (vgl. BT-Drucks. 13/3637 S. 7). Der Bundesrat hatte nämlich im Gesetzgebungsverfahren
immer die Ansicht vertreten, daß im Interesse einer schlüsselgerechten Verteilung eine Regelung erforderlich und auch notwendig
sei, die den Sozialhilfeträger, in dessen Zuständigkeitsbereich sich eine aufzunehmende Person abweichend von der Zuteilung
oder Zuweisung aufhalte, allenfalls dazu verpflichte, die zur Behebung eines akuten, nicht aufschiebbaren Hilfebedarfs erforderlich
sei. Dies hatte der Bundesrat in seiner Entschließung vom 09.02.1996 (BR-Drucks. 62/96) auch noch ausdrücklich klargestellt,
in der es unter anderem wörtlich heißt:
"Im Hinblick auf die angestrebte Steuerungsfunktion der Neuregelung geht der Bundesrat davon aus, daß an dem von der Verteilung
bzw. Zuweisung abweichenden Aufenthaltsort die "nach den Umständen unabweisbar gebotene Hilfe" nach § 3a Abs. 1 S. 2 dieses
Gesetzes in der Regel nur die Kosten für die Fahrt zum Zuweisungsort bzw. in das Zuweisungsland und die Verpflegungskosten
umfaßt. Die Ansprüche nach dem Arbeitsförderungsgesetz und dem Bundessozialhilfegesetz am Zuweisungsort bzw. dem Zuweisungsland bleiben erhalten."
Auch aus Sinn und Zweck der in § 3a Abs. 1 WoZuG getroffenen Regelung folgt, daß unter der "nach den Umständen unabweisbar
gebotene Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz" grundsätzlich nicht die Sozialhilfe in Höhe des Regelsatzes bzw. in Höhe eines Teils davon verstanden werden kann. Denn
mit dieser Regelung ist, wie bereits weiter oben ausgeführt worden ist, gerade auch - und das sogar in erster Linie - das
Ziel verfolgt worden, daß die Spätaussiedler im Interesse des Ausgleichs und der Verteilung der infrastrukturellen Eingliederungslast
im Zuweisungsland an dem ihnen zugewiesenen Ort bleiben. Dieses Ziel einer gleichmäßigen Verteilung der Spätaussiedler entsprechend
den Zuweisungen und entsprechend dem in § 8 Bundesvertriebenengesetz geregelten Verteilungsschlüssel ließe sich, wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt, jedoch nicht erreichen, wenn § 3a
Abs. 1 WoZuG so ausgelegt würde, daß er grundsätzlich und nicht nur in Ausnahme- bzw. Notfällen zur dauerhaften Zahlung einer
- wenn auch gegenüber den maßgeblichen Regelsätzen abgesenkten - Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe des Existenzminimums verpflichtet.
Das in § 3a Abs. 1 S. 2 WoZuG verfolgte Ziel einer gleichmäßigen Verteilung der Spätaussiedler auf die Länder, denen sie zugewiesen
sind bzw. auf die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte, erfordert jedoch gleichermaßen auch eine Auslegung dieser Vorschrift,
die Ausnahmen von der "Regel", also für atypische Sachverhalte, für die im Gesetz keine allgemeine Härteklausel vorgesehen
ist, nur in engen Grenzen zuläßt. Verhält sich ein Spätaussiedler "zuweisungswidrig", handelt es sich um einen "Regel"-Fall
und ist das Gesetz auf ihn anzuwenden. Die mit der regelmäßigen Rechtsfolge verbundenen Härten (Zwang zur Aufgabe der Wohnung,
der Umzug an den Zuweisungsort), hat der Gesetzgeber in Kauf genommen.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, daß im Fall der Antragstellerin kein atypischer Sachverhalt vorliegt, der
es zuließe, eine Ausnahme von der "Regel" des § 3a Abs. 1 S. 2 WoZuG mit der Folge anzunehmen, daß ihr nicht nur die "unabweisbar
gebotene Hilfe" im Sinne dieser Vorschrift zustünde. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts
verwiesen werden (vgl. §
122 Abs.
2 S. 3
VwGO). Hieraus folgt jedoch auch, daß der Antragstellerin entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Ansicht der von ihr
geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt - wenn auch nur in Höhe des Existenzminimums
- nicht zusteht. Was die Antragstellerin nach der Vorschrift des § 3a Abs. 1 S. 2 WoZuG zu beanspruchen hätte, kann offen
bleiben. Das vom Gesetzgeber in dieser Vorschrift statuierte Regel-Ausnahme- Prinzip schließt es jedenfalls aus, ihr über
eine kurze Übergangsfrist hinaus volle Sozialhilfe bzw. auf Dauer herabgesetzte Sozialhilfe zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§
154 Abs.
1 und
188 S. 2
VwGO.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§
152 Abs.
1 VwGO).