Bauplanungs- und Bauordnungsrecht: Vorläufiger Rechtsschutz gegen Wohnbauvorhaben; Befreiung von einer Baugrenze; nachbarschützende
Wirkung; Grundzüge der Planung; städtebauliche Vertretbarkeit; Würdigung nachbarlicher Belange; Schmälerung der Aussicht
Gründe:
I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen ein Wohnbauvorhaben der Beigeladenen. Im Beschwerdeverfahren ist
nur noch die Garage im Streit.
Die Antragsteller sind Eigentümer des am östlichen Ortsrand von Münsing südlich der Staatsstraße **** gelegenen, mit einem
Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. 216 Gemarkung *******. Die Beigeladenen sind Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks
Fl.Nr. 216/3. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines mit Bescheid des Landratsamts Wolfratshausen vom 6. April
1960 genehmigen Baulinienplans (Bebauungsplan Nr. 4/*******). Eine in dem Plan festgesetzte Baugrenze verläuft von Nordosten
nach Südwesten über das Grundstück der Antragsteller, das Grundstück der Beigeladenen sowie vier weitere südlich anschließende,
gleichfalls mit Wohnhäusern bebaute Grundstücke. Außerdem legt der Plan die zulässige Geschosszahl fest. Das Gelände fällt
in dem von der Baugrenze erfassten Bereich sowohl von Norden nach Süden als auch von Westen nach Osten ab.
Mit Bescheid des Landratsamts Bad Tölz-Wolfratshausen vom 22. Mai 2003 erhielten die früheren Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr.
216/3 die Baugenehmigung für die Errichtung einer Doppelhaushälfte. Hinsichtlich der Gebäudehöhe und der überbauten Grundstücksfläche
wurden Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt. Die genehmigten Bauvorlagen sahen die Errichtung einer
Flachdachgarage an der südlichen Grenze des Baugrundstücks vor. Die Genehmigung wurde bestandskräftig.
Im Oktober 2006 beantragten die Beigeladenen die Baugenehmigung für eine Doppelhaushälfte, die hinsichtlich der Höhe und der
überbauten Grundstücksfläche in größerem Umfang vom Bebauungsplan abwich als das mit Bescheid vom 22. Mai 2003 genehmigte
Vorhaben. Nachdem das Landratsamt dieses Vorhaben nicht für genehmigungsfähig gehalten hatte, reichten die Beigeladenen im
April 2007 einen Tekturantrag für ein verkleinertes Vorhaben ein. Für diese Planung erhielten die Beigeladenen mit Bescheid
des Landratsamts vom 24. Mai 2007 die Baugenehmigung. Nach den genehmigten Plänen hält das Wohnhaus die Baugrenze ein. Die
auf der Nordostseite des Hauses mit einem Grenzabstand von 3,50 m geplante Garage befindet sich mit etwa einem Drittel ihrer
Grundfläche außerhalb der Baugrenze; hierfür wurde eine Befreiung erteilt.
Die Antragsteller legten Widerspruch ein und beantragten beim Verwaltungsgericht München vorläufigen Rechtsschutz. Mit Beschluss
vom 20. Juli 2007 ordnete das Verwaltungsgericht hinsichtlich der Garage die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an; im
Übrigen lehnte es den Antrag ab.
Gegen den dem Antrag stattgebenden Teil der Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen mit dem Antrag,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 20. Juli 2007 zu ändern und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die Tekturbaugenehmigung des Landratsamts Bad Tölz Wolfratshausen vom 24.
Mai 2007 in vollem Umfang abzulehnen.
Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Antragsgegner stellt keinen Antrag.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die
vom Antragsgegner vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde hat Erfolg.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts muss geändert und der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch hinsichtlich
der Garage (und damit in vollem Umfang) abgelehnt werden, weil der Widerspruch der Antragsteller gegen die Baugenehmigung
auch insoweit voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage auf der Grundlage
des Beschwerdevorbringens (§
146 Abs.
4 Satz 6
VwGO) spricht Überwiegendes dafür, dass die im vereinfachten Verfahren erteilte Baugenehmigung auch hinsichtlich der Garage nicht
gegen Vorschriften des Genehmigungsmaßstabs (Art. 73 Abs. 1 BayBO) verstößt, die dem Schutz der Antragsteller als Grundstücksnachbarn dienen (§
113 Abs.
1 Satz 1
VwGO). Damit fällt die Abwägung zwischen dem Interesse der Antragsteller, dass vor einer abschließenden Entscheidung über ihren
Rechtsbehelf keine zu ihren Lasten gehenden vollendeten Tatsachen geschaffen werden, und dem Interesse des Beigeladenen, von
der trotz des Nachbarwiderspruchs vollziehbaren Baugenehmigung (§ 212 a BauGB) Gebrauch machen zu dürfen, in vollem Umfang zugunsten der Letzteren aus.
1. Der Senat teilt zwar der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die im Baulinienplan Nr. 4/******* festgesetzte östliche
Baugrenze möglicherweise auch den Zweck hat, Rechte der jeweils nördlich angrenzenden Nachbarn zu schützen. Im Gegensatz zum
Verwaltungsgericht hat der Senat aber nach summarischer Prüfung keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der für die Garage erteilten
Befreiung von dieser Baugrenze.
a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geht, ohne dies näher auszuführen, zutreffend davon aus, dass der Nachbarrechtsschutz
bei einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) davon abhängt, ob die Festsetzung, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dient oder nicht. Bei einer
Befreiung von einer auch dem Nachbarschutz dienenden Festsetzung wird der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn
die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die "nur" dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen
städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots.
Nachbarrechte werden in diesem Fall nur verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung
unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG vom 19.9.1986 BayVBl 1987, 151; vom 8.7.1998 NVwZ-RR 1999, 8).
Auch nach Auffassung des Senats deutet der Verlauf der alten Baulinie auf eine nachbarschützende Wirkung der gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG als Baugrenzenfestsetzung (§ 23 Abs. 1 und 3 BauNVO) fortgeltenden Regelung hin. Die Baugrenze verläuft in dem (auch) von Norden nach Süden geneigten Gelände nicht parallel
zu dem die Bebauung derzeit nach Osten hin abschließenden Lindenweg, sondern von Nordosten nach Südwesten diagonal über die
von ihr erfassten Grundstücke. Dies spricht dafür, dass mit der Festsetzung durch eine jeweils um einige Meter nach Westen
versetzte Anordnung der Gebäude im Interesse der jeweils nördlich angrenzenden Nachbarn ein Fernblick nach Süden bzw. Südosten
zumindest teilweise freigehalten werden sollte. Dass dieser Blick fast 50 Jahren nach dem Inkrafttreten der Festsetzung (unter
anderem durch Bäume) eingeschränkt ist, steht dem nicht entgegen. Diese Veränderung wirft allenfalls die im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu vertiefende Frage auf, ob der nachbarschützende Regelungsgehalt der Festsetzung obsolet
geworden sein könnte.
b) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sieht der Senat aber keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit der
auf § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB gestützten Befreiung. Nach dieser Vorschrift darf von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Abweichung
städtebaulich vertretbar ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Weitere Voraussetzung ist, dass die Abweichung
unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Das Verwaltungsgericht bezweifelt, dass die Befreiungsvoraussetzungen erfüllt sind, legt aber nicht dar, welcher Grundzug
der Planung berührt sein soll und weshalb die städtebauliche Vertretbarkeit fraglich erscheinen soll. Nach Auffassung des
Senats kann zwar in der versetzten Anordnung der Baukörper ein Grundzug der Planung gesehen werden. Es ist aber mit großer
Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dieser nur die Stellung der Hauptgebäude auf den Grundstücken erfasst. Denn der diagonale
Verlauf der Baugrenze hat zur Folge, dass der außerhalb der Baugrenze liegende Teil der Grundstücke von Norden nach Süden
gesehen immer größer wird. Bei dem von Norden aus gesehen dritten Grundstück Fl.Nr. 216/4 befindet sich bereits etwa die Hälfte
der Fläche außerhalb der Baugrenze. Diese Besonderheit legt es nahe, einen weiteren Grundzug der Planung darin zu sehen, dass
Nebengebäude außerhalb der östlichen Baugrenze zugelassen werden dürfen. Dem entspricht im Übrigen, dass sich die vorhandenen
Nebenanlagen und Garagen bzw. Stellplätze wohl überwiegend außerhalb der strittigen Baugrenze befinden. Auch die Garage der
Antragsteller steht teilweise außerhalb der Baugrenze. Nach summarischer Prüfung ist somit die Annahme, dass die Befreiung
den Grundzügen der alten Baulinienplanung entspricht, eher gerechtfertigt als eine gegenteilige Beurteilung.
Auch die städtebauliche Vertretbarkeit ist nicht fraglich. Der Zustand, der durch die Befreiung ermöglicht wird, könnte auch
durch eine Ergänzung des Bebauungsplans erreicht werden (vgl. Roeser in Berliner Kommentar zum BauGB, 3. Aufl., § 31 RdNr. 14). Auch im Hinblick auf die ohnehin gegebene Befugnis des § 23 Abs. 5 BauNVO, Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO und in den Abstandsflächen zulässige Anlagen auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen zuzulassen, ist nicht ersichtlich,
welche städtebaulichen Gründe einer Festsetzung von "Bauräumen" für Nebenanlagen und Garagen östlich der Baugrenze oder der
Festsetzung eines Ausnahmetatbestandes (§ 23 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz BauNVO) für diese Vorhaben entgegenstehen könnten.
Nach summarischer Prüfung hat der Senat schließlich keine Zweifel, dass die Abweichung von der Baugrenze unter Würdigung der
nachbarlichen Belange der Antragsteller zu vertreten ist. Nach den genehmigten Bauvorlagen muss die Garage, die mit einer
Wandhöhe von 3,00 m und einem flach geneigten Satteldach geplant ist und - in Anpassung an die Neigung des Geländes nach Osten
- 0,30 m bis 0,50 m tiefer liegen wird als das Wohnhaus, einen Grenzabstand von 3,50 m einhalten. Eine "erdrückende" oder
"abriegelnde" Wirkung (vgl. BVerwG vom 13.3.1981 DVBl 1981, 928; vom 23.5.1986 DVBl 1986, 1271) scheidet damit aus. Der Blick nach Süden wird durch die Garage zwar geschmälert werden. Diese Einschränkung erscheint nach
summarischer Prüfung - anhand der von den Beteiligten vorgelegten Fotografien - aber nicht so gravierend, dass die Schmälerung
der Belange der Antragsteller nicht mehr zu vertreten wäre. Bei dieser Bewertung ist nach Auffassung des Senats in erster
Linie nicht auf den Blick von dem Untergeschoss des bergseitig eineinhalb- und talseitig - infolge von Abgrabungen - zweieinhalbgeschossig
errichteten Wohnhauses der Antragsteller abzustellen, sondern auf den Blick von Erdgeschoss aus. Eine Vorstellung von diesem
Blickwinkel gibt insbesondere die von den Antragstellern mit Schriftsatz vom 7. September 2007 vorlegte Fotografie Nr. 8.
Diese und weitere Fotografien (auch der Beigeladenen) zeigen zum einen die von den Beigeladenen hervorgehobenen, von dem Vorhaben
unabhängigen Einschränkungen eines freien Blicks durch hochgewachsene Bäume. Zum anderen ist zu erkennen, dass den Antragstellern
mit großer Wahrscheinlichkeit - sowohl über die Garage hinweg als auch östlich an ihr vorbei - noch ein nennenswerter Teil
des (durch von dem Bauvorhaben unabhängige Umstände ohnehin eingeschränkten) freien Blicks erhalten bleiben wird. Es steht
außer Frage, dass die nachbarlichen Belange deutlich weniger beeinträchtigt worden wären, wenn die Beigeladenen die Garage,
wie zunächst geplant, auf der Südseite ihres Grundstücks errichtet hätten. Das ist jedoch rechtlich ohne Bedeutung. Eine Befreiung,
die auch im Hinblick auf die gebotene Würdigung nachbarlicher Belange nicht zu beanstanden ist, ist nicht deswegen rechtswidrig,
weil der Bauherr das Vorhaben auch in einer die Belange des Nachbarn weniger stark beeinträchtigen Weise hätte ausführen können.
2. Da die Antragsteller in vollem Umfang unterlegen sind, tragen sie - nach §
159 Satz 2
VwGO als Gesamtschuldner - die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen (§
154 Abs.
1 VwGO). Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nur hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens für erstattungsfähig erklärt,
weil diese nur in diesem Verfahren (mit ihrer Beschwerde) einen Antrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen haben
(§
162 Abs.
3, §
154 Abs.
3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2004 (NVwZ 2004, 1327). Das von den Beigeladenen mit der Beschwerde verfolgte Bauherreninteresse dürfte für die Streitwertfestsetzung zwar höher
zu bewerten sein als das Nachbarinteresse der Antragsteller; das wirkt sich aber nicht aus, weil der Streitwert des Rechtsmittelverfahrens
durch den Wert des Streitgegenstandes des ersten Rechtszugs begrenzt wird. Bei der Bewertung des den Streitwert begrenzenden
Interesses der Antragsteller ist zu jedoch berücksichtigen, dass im Beschwerdeverfahren nur noch die Garage im Streit war.